Begehren und Begierde

Andrea Bieler, 11. Mai 2022
Neue Wege 5.22

Das theologische Nachdenken über erotisches Begehren wird vom Krieg in der Ukraine unterbrochen. Das erotische Begehren und die gewaltvollen Begierden, die hinter dem Krieg stehen, gilt es zu unterscheiden. Ein schwieriges und verstörendes Unterfangen.

Während ich diese Worte aufschreibe – am 2. April 2022 – sterben in der fünften Woche des Krieges in der Ukraine Menschen. Eine in ihrem Ausmass bis dahin – zumindest für die naiv-ignoranten Europäer*innen unter uns – unvorstellbare Zerstörung lässt Kinder und Frauen und ältere Männer zu Millionen aus ihrer Heimat fliehen.

Über das erotische Begehren in Zeiten des Krieges nachzudenken fordert mich dazu heraus, zunächst den Zusammenhang zwischen Begehren und Begierde in den Blick zu nehmen. Daran schliesst sich ein psychoanalytischer Blick auf das Begehrtwerden an, der dann theologisch produktiv gewendet wird. Es folgt ein Nachdenken über die Schwierigkeiten, das erotische Begehren jenseits von Objektivierung zur Sprache zu bringen. Ich schliesse mit einem Blick auf das Hohelied, dem vielleicht eindrücklichsten Versuch in der Bibel, das erotische Begehren, das der Sehnsucht und dem Mangel entspringt, zum Ausdruck zu bringen. Im Hohelied taucht plötzlich beides unvermittelt auf: das spielerisch-erotische Begehren und die gewaltvolle Begierde im Krieg in Gestalt einer Gruppenvergewaltigung.

Begierden in Zeiten des Krieges

Den Begierden und dem Begehren ist gemeinsam, dass beiden eine intensive Energie innewohnt, die sich auf ein Gegenüber oder auf eine Sache richtet. An den Bruchlinien zwischen Begierden und Begehren zeigt sich, dass die Grenzen gar nicht so einfach zu ziehen sind.

Den Begierden im Gewaltzusammenhang des Krieges wohnt ein hohes Destruktions­potenzial inne. Das «Objekt», auf das sie gerichtet sind, kann okkupiert, ausgesaugt und vernichtet werden. Der/die/das Andere wird nicht als Gegenüber betrachtet, dessen Recht auf Unversehrtheit und Leben respektiert werden muss, sondern als Besitz, der eingenommen werden kann. Die Begierden im Krieg haben eine expansive Dimension. Die Expansion der eigenen Landesgrenzen zu betreiben und das Recht der Völker auf Selbstbestimmung mit Füssen zu treten, um ein «gross­russisches Reich» sowie die «eurasische Union» zu installieren, ist die klassische imperiale Begierde, die in der Ideologie und der Kriegsführung des Putin-Regimes zu Tage tritt. Auch befeuert der Krieg die Gier, sich weiterhin ökonomisch zu bereichern und den Reichtum der Profiteure des Krieges zu schützen. Und auch in diesem Krieg wird die Vergewaltigung von Frauen wieder als Waffe eingesetzt, um den «Feind» zu demütigen. Dies geschieht zurzeit beispielsweise auf dem Donbas.

Die Begierden im Krieg sind auf territoriale Expansion, auf ökonomische Bereicherung sowie auf gewaltvolle, sexualisierte Demütigung und Unterwerfung ausgerichtet. In ihnen ist jegliche Dynamik, die auf Relationalität und Reziprozität basiert, zerstört. Das Angesicht des Anderen, das nicht Ich ist, wird verachtet, es wird unsichtbar. Der Andere wird zum ­Abstraktum, er ist nur noch der «Feind».

Begehrtwerden und Begehren

Wir begehren von Beginn an. «Desideratus ergo sum» – ich werde begehrt, also bin ich. So wendet die Psychoanalytikerin Ilka Quindeau den Satz des Philosophen René Descartes. Dieser lautet: «Cogito ergo sum» – ich denke, also bin ich. Hier geht es ganz grundsätzlich darum, wie wir unser leibliches Sein in der Welt verstehen und erleben.

Das sexuelle Begehren, so Quindeau, ist nicht etwas, das genetisch im Menschen angelegt ist, es ist auch nicht etwas, das ich selbst für mich produzieren kann: Begehren ist immer eine Antwort auf das Begehrtwerden eines*r Anderen.1

Mit ihren Überlegungen will die Autorin eine Alternative zu Sigmund Freuds intrapsychisch konstruierter Triebtheorie vorstellen, die grundlegend für sein Verständnis von Sexualität ist. Ob es nicht doch Impulse vor jedem Begehrtwerden bereits beim Neugeborenen gibt, die proaktiv, zum Beispiel in der Erfahrung des Hungers, entstehen, möchte ich allerdings bei Quindeau anfragen.

Wir begehren von Beginn an. Genauer: Begehren beginnt mit der passivischen Beziehungserfahrung des Begehrtwerdens durch Mutter, Vater oder andere primäre Bezugspersonen. In den frühkindlichen Interaktionen des Gestilltwerdens, des Gehalten- und Gestreicheltwerdens baut sich eine Erinnerungsspur auf, durch die der sexuelle Körper gebildet wird. «Aus diesen Erfahrungen entwickelt sich ein Körpergedächtnis, das bestimmte Körperstellen auszeichnet, die in besonderer Weise lustempfindlich sind. Diese Sichtweise wird wesentlich durch die Beobachtung gestützt, dass es zwar bestimmte Körperzonen gibt, die bei allen Menschen erogen sind, dass darüber hinaus aber auch höchst individuelle erogene Zonen existieren, Körperstellen, die bei manchen Menschen Lustempfindungen hervor­rufen und bei anderen nicht.»2 Ist das Begehren verbunden mit dieser Erinnerungsspur, ist es Teil des Körpergedächtnisses und eingebettet in die Imaginationskraft, die Menschen ermöglicht, erotische Fantasien auszubilden.

Im Erlernen der Unterscheidung zwischen Ich und dem Anderen wird eine weitere Spur in das Begehren hineingelegt: die Begegnung mit dem Fremden, das ich nicht besitzen, vereinnahmen und mir zu Diensten machen kann. Im Begehren werden die Bilder, die ich mir vom Anderen unweigerlich mache, unentwegt in der Begegnung dekonstruiert. Und ein Zweites: In der Dynamik von Begehrtwerden und Begehren wird ein Zwischenraum eröffnet, der jenseits der Leistung und des Könnens angesiedelt ist: «Die gelingende Beziehung zum Anderen äussert sich als eine Art Scheitern. Allein durch das Nicht-Können-Können erscheint der Andere […]. Wenn man den Anderen besitzen, ergreifen und erkennen könnte, wäre er nicht der Andere. Besitzen, Erkennen, Ergreifen sind Synonyme des Könnens.»3

Im Raum der Religion

«Begehren ist immer eine Antwort auf das Begehrtwerden.»4 Wird der Satz der Psychoanalytikerin Ilka Quindeau in den Raum der Religion verpflanzt, entsteht gleich eine Resonanz. Vom biblischen Schöpfungsmythos im Buch Genesis lernen wir: Gott begehrt die Lebendigkeit des Menschen. Der göttliche Atem wird in Adam, den Erdling, noch vor der geschlechtlichen Differenzierung hineingeblasen. Der Mythos erzählt: So entsteht der lebendige Mensch. Im göttlichen Begehren erfahren Menschen ihre Lebendigkeit als begehrende Wesen.

Die Erfahrung, von Gott begehrt zu werden und darin die eigene Lebendigkeit zu erleben, ist auch grundlegend für die religiöse Erfahrung: Biblische Geschichten erzählen davon. Im Angeschautwerden, im Hören der göttlichen Stimme geschieht Rettung. Denken wir nur an die dem Tode geweihte Sklavin Hagar, die am Ort des Todes die Stimme des rettenden Engels hört. Oder erinnern wir uns an den depressiven Propheten Elia, der auf der Flucht vor seinen Widersachern den Wunsch zu sterben verspürt. Dann hört er die göttliche Stimme im leisen Säuseln des Windes oder in der «Stimme verschwebenden Schweigens», wie Martin Buber übersetzt. In der Erfahrung dieser unerwarteten Zuwendung breitet sich die Lebendigkeit aus.

Diese Lebendigkeit, mit der wir als Krea­turen beschenkt werden, zeigt sich auch in unserem erotischen Begehren. Innerhalb der christlichen Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte wurde immer wieder der Versuch unternommen, das als bedrohlich erfahrene Begehren in einen moralisch-ethischen Regeldiskurs über das angemessene sexuelle Verhalten einzuhegen. Diese Einhegungsbemühungen bewegen sich zwischen zwei Polen. Auf der einen Seite wird das sexuelle Begehren verteufelt und als unkontrollierte Kraft porträtiert, die unterdrückt und beherrscht werden muss. Dies gilt nicht nur für die als von der Norm abweichend beschriebenen sexuellen Praxen. So hat beispielsweise der Kirchen­vater Augustinus bereits im 4. Jahrhundert das sexuelle Miteinander von Mann und Frau zum Medium stilisiert, in dem die Erbsünde sich immer wieder aktualisiere. Der Ethiker Mark Jordan beschreibt im Anschluss an den Philosophen Michel Foucault die verschiedenen Diskurspraktiken, in denen die Dämonisierung des sexuellen Begehrens ihren Ausdruck fand, von der Beichte bis zur belehrenden Predigt.5

Am anderen Ende des Spektrums wird das Sprechen über Sexualität religiös überhöht, wie zum Beispiel in der Mystik. Hier wird das Sprechen in ein metaphorisches Feld eingelassen, in dem religiöse Erfahrungen als sexuelle Begegnungen und Verschmelzungsfantasien mit Christus beschrieben werden. Es geht in diesem Falle also gar nicht mehr um gelebte zwischenmenschliche Sexualität, sondern um den metaphorischen Ausdruck intensiver religiöser Erfahrungen.6 Eine andere Variante wird in der römisch-katholischen Sexualethik vertreten, die die gelebte Sexualität exklusiv in der heterosexuellen Ehe verorten will und die Ehe wiederum als Sakrament versteht, also als heilsvermittelndes Medium.7 In den angedeuteten Fällen geraten die vielfältigen, ambivalenten Erfahrungen, die Menschen im sexuellen Austausch machen, nicht wirklich in den Blick. Sie werden im Regeldiskurs eingehegt, dämonisiert oder zur religiösen Metapher.

Die religiösen Diskurse im Spannungsfeld zwischen Dämonisierung und Über­höhung sind darüber hinaus auch von anderen Diskursen durchdrungen, die Stigmatisierung, Stereotype und Objektivierung befördern: Entweder ist jemand hetero oder homo; das weibliche Begehren ist passiv, das männliche Begehren aktiv. Frauen wollen erobert werden. Männer erobern. Dies geht oft mit Stereo­typen einher: In lesbischen Beziehungen gibt es keine Kinder. Schwule Männer leben ihren Sex immer promisk. Stereotype werden oftmals in Form von Stigmatisierung wirksam: Frauen, die älter als siebzig Jahre sind, empfinden keine Lust mehr, und Männer «können» nicht mehr. Menschen mit physischen oder psychischen Beeinträchtigungen sollten grundsätzlich keinen Sex haben, der die Möglichkeit der Fortpflanzung beinhaltet. Im gewaltvollen Othering geschieht die hyper­sexualisierte Darstellung von Frauen, die in der Dominanzkultur als fremd wahrgenommen werden. Dies betrifft auch den Blick auf Männer: Muslimische Männer oder Schwarze Männer werden zur Gefahr für weisse, nichtmuslimische Frauen stilisiert.

Ökonomische Sprache

Die beschriebenen Denkweisen erschweren das Nachdenken über das Begehren. Insgesamt scheint unser Sprechen über das Begehren metaphorisch in der Welt des Ökonomischen verhaftet zu sein und damit in der symbolischen Ordnung der Kalkulation und der Konsumtion. Wenn Sexualwissenschaftler*innen und Psychoanalytiker*innen von der Befriedigung sexueller Bedürfnisse sprechen, treten sie in die Sprachwelt der kapitalistischen Warenökonomie ein, in der Konsument*innen Bedürfnisse haben, die kreiert und dann befriedigt werden können. Und mit der vermeintlichen Befriedigung ist das Ziel erreicht.

Auch die liberale religiöse Sprache entstammt der Sphäre des Ökonomischen. Wenn Christ*innen beispielsweise sagen, dass Sexualität als gute Gabe Gottes zu verstehen sei, verbinden sie den Gabediskurs mit einem sexpositiven Sprechen und wollen die eigene leibfeindliche religiöse Tradition kritisieren. Die religiöse Rede drückt sich in den Gesten des Gebens und Beschenktwerdens aus. Solch ein Sprechen erschwert es, sich über die höchst ambivalenten Erfahrungen, die Menschen im Bereich des Sexuellen machen, auszutauschen, wenn zum Beispiel das sexuelle Begehren in eine besitzergreifende Begierde umschlägt.

Wird vom Begehren im Anschluss an den Psychoanalytiker Jacques Lacan gesprochen, geht es gerade nicht um die Befriedigung von Bedürfnissen, sondern um die Dynamik einer letztlich unstillbaren Suche nach dem anderen, das nicht besessen werden kann und unerreichbar bleibt. Das Begehren bezieht sich nicht auf ein greifbares Objekt, sondern auf den Mangel, auf das Erleben, dass etwas fehlt. Nach Lacan sind Menschen in allen Phasen ihres Lebens begehrende Wesen, in denen grundlegende Trennungs- und Entfremdungserfahrungen wirksam sind, die ein Gefühl unstillbaren Mangels hervorbringen.8 Die erste grosse Trennungserfahrung ist die Geburt, in der die Neugeborenen aus dem schützenden embryonalen Dasein in die Welt geworfen werden. Später folgt das Ende der symbiotischen Beziehung zur Mutter. Im sogenannten Spiegelstadium des ersten Lebensjahres geschieht in der Unterscheidung von Spiegelbild und sozialem Ich eine Trennung und Entfremdungserfahrung. Das Begehren erscheint im Feld des anderen, also im Unbewussten.

Das Begehren als Kippfigur: Der Mangel und die Aura der Gewalt

Biblisch-theologisch wird das Begehren, das in der Mangelerfahrung situiert ist, in verschiedener Weise zum Ausdruck gebracht. Beispielsweise wird in der Poesie des Hoheliedes das erotische Begehren der Liebenden im ständigen Rufen und Suchen, im Finden und sich Verlieren, im sich Zeigen und Abwenden beschrieben. Jüd*innen nennen diesen Text «Lied der Lieder» und drücken damit ihre Hochachtung aus. Wird der Text allegorisch ausgelegt, bezieht er sich auf das göttliche Begehren und die Sehnsucht der Glaubenden. Wird der Text nicht bildlich verstanden, rückt das Liebesspiel zwischen zwei Personen in den Vordergrund, wobei das Geschlecht der Stimmen oftmals verhüllt bleibt. Meines Erachtens ist es nicht notwendig, sich für eine der beiden Auslegungen zu entscheiden. Der Charme einer mehrdeutigen Auslegung liegt genau darin, dass hier einiges im Zwielicht bleibt und göttliches und menschliches Begehren nicht gegensätzlich sind.

Das gesamte Hohelied kann als ein grosses Resonanzfeld gelesen werden, in dem die Liebenden ihr gegenseitiges Verlangen zum Ausdruck bringen, ihr Betörtsein von der anderen Person, das wie ein Liebestaumel wirkt oder wie eine leidenschaftliche Kaskade der Anbetung. Ein anderes Mal wird pure Lust zum Ausdruck gebracht. Die dynamische Welt der Anziehung, die im Text aufgebaut wird, speist sich aus Naturmetaphern, die auf Pflanzen, auf wertvolle Naturstoffe wie Marmor und Gold, auf Bilder unberührter Natur sowie auf wild lebende Tiere Bezug nehmen. Die Anmut der Körper wird in einer explodierenden Bilder­welt zum Ausdruck gebracht. Die Schönheit der Körper liegt im Auge der Betrachtenden und wird in Form der Anrede gepriesen: Siehe doch, Du bist schön, meine Freundin! (Hld 4,1). Das Begehren als Resonanzgeschehen will die Andere erreichen, auch im Rufen und im Suchen der anderen Person. Die Poesie des Hoheliedes ist uns in ihrer Bilderwelt vermutlich in vielem fremd, vielleicht zu pathetisch und dann auch wieder faszinierend.

Hier eine kleine Kostprobe aus dem 5. Kapitel:9

1 Ich bin gekommen in meinen Garten
meine Schwester, Braut!
Hab meine Myrrhe genommen
samt meinem Balsam
hab meine Wabe gegessen
samt meinem Honig
hab meinen Wein getrunken
samt meiner Milch.
Esst Freunde trinkt
und berauscht euch
an der Liebe!
2 Ich schlief
doch mein Herz war wach.
Da ist die Stimme
meines Liebsten!
Und er klopft.
Öffne mir
meine Schwester
meine Liebste
meine Taube
meine Vollkommene!
Denn mein Haupt ist voll Tau
und mein Haar
voller Tropfen der Nacht.
3 Ich habe mein Kleid
schon ausgezogen.
Soll ich es wieder anziehen?
Ich habe meine Füsse
schon gewaschen.
Soll ich sie
wieder schmutzig machen?
4 Mein Geliebter
streckt seine Hand aus
durch die Öffnung
und das Innerste meines Schosses
stöhnt ihm entgegen.
5 Ich stehe auf.
Öffne meinem Geliebten
meine Hände triefen
von Myrrhe
und meine Finger
von fliessender Myrrhe
am Griff des Riegels.
6 Ich, ich habe ihm geöffnet
meinem Liebsten!

Hier wird die sehnsuchtsvolle Zuwendung ausgemalt, auch das sexuelle Begehren wird lustvoll beschrieben. Im Moment grosser Verletzlichkeit und Durchlässigkeit, in der sich die begehrende Person ganz geöffnet hat, erfolgt ein harter Schnitt. Die unerklärliche Abwendung des Geliebten wird konstatiert, und dann wird die erfolglose Suche nach ihm beschrieben:

Doch er
mein Geliebter!
Hat sich abgewandt
und ist weggegangen.
Da breche ich auf
mein Leben bricht auf.
Seinem Wort nach.
Ich suchte ihn
doch ich fand ihn nicht.
Ich schrie nach ihm
doch er antwortete mir nicht.

7 Es fanden mich Soldaten.
Sie sind’s
die in der Stadt herumgehen.
Sie schlugen mich
verwundeten mich
sie hoben meinen Rock hoch
die Soldaten der Stadt.

8 Ich beschwöre euch
Frauen von Jerusalem!
Wenn ihr meinen Geliebten findet
was sagt ihr ihm?
Krank vor Liebe bin ich.

9 Was unterscheidet
deinen Geliebten
von irgendeinem Geliebten
Schöne unter den Frauen?

Zunächst ist es das Spiel von Zu- und Abwendung, das im Folgenden von der Aura der Kriegsgewalt heimgesucht wird. Die Person, die nach ihrem Liebsten sucht, wird von den Soldaten gefunden. Eine Vergewaltigungs­szene wird erzählt. Eine Gruppenvergewaltigung, die mit Schlägen und weiteren Verletzungen einhergeht. Der Umschlag vom erotischen Begehren in die Begierden der Soldaten, die sie vergewaltigen, sie benutzen und wie ein lebloses Objekt behandeln, wird beschrieben. Besonders befremdlich für die heutige Leser*in ist der nahtlose Übergang in die nächste Kaskade des Begehrens, in der die Einzigartigkeit des Liebhabers besungen wird. Der Schmerz und das Entsetzen erhalten im Text keine Stimme. Im 5. Kapitel des Hohelieds erscheint die Szene der Gewalt wie eingekapselt, sie ist nicht weiter besprechbar. Die Spur der traumatischen Verstörung hat sich in diesem Schweigen tief in den Text eingegraben. Die Dynamik des Begehrens kippt. Mittels eines harten Schnittes werden die sexuellen Begierden im Krieg gezeigt.

Es ist der 2. April 2022. An diesem Tag lese ich das Lied der Lieder und sehe die Bilder der Zerstörung, die wir aus der Ukraine empfangen und in denen sich die Begierden, die der Krieg hervorbringt, spiegeln. Die Spur der Verstörung vertieft sich.

  1. Vgl. Ilka Quindeau: Sexualität. 2. Auflage, Giessen 2019, S. 28.

  2. Ebd., S. 30.

  3. Byung-Chul Han: Agonie des Eros. Berlin 2012, S. 32 f.

  4. Quindeau, ebd.

  5. Vgl. Mark Jordan: The Silence of Sodom: Homosexu­ality in Modern Catholicism. Chicago 2002.

  6. Saskia Wendel: «Minne mich gewaltig und minne mich oft und lang!» Die sexuelle Codierung mystischer ­Einigung bei Mechthild von Magdeburg. In: Jahrbuch für Biblische Theologie 33. Göttingen 2018.

  7. Vgl. Mark Jordan: The Silence of Sodom. Homosexu­ality in Modern Catholicism. Chicago 2002.

  8. Vgl. Christian Kupke: Lacan-Trieb und Begehren. Berlin 2007.

  9. Übersetzung nach der Bibel in gerechter Sprache, ­Gütersloh 2006. Die Interpunktion und der Satz dieser Übersetzung wurden übernommen. bibel-in-gerechter-sprache.de/die-bibel/bigs-online/

  • Andrea Bieler,

    ist Professorin für Praktische Theologie an der Universität Basel. Ihre Interessen sind: Verletzlichkeit als Horizont einer Theologie der Seelsorge, Religion im Kontext von Migration sowie die Erinnerung kollektiver Gewalt und ihre politische und religiöse Deutung. Zurzeit leitet sie das Forschungsprojekt «Conviviality in Motion».