Ich begleite eine demente Patientin in den Garten. Sie läuft trotz hohen Alters schnell und energisch Runde um Runde, der Mauer entlang, zwischen Büschen und frisch aufgeblühtem Vergissmeinnicht, und erzählt mir dabei atemlos die Eckpunkte ihrer Biografie. Identität erzählend zu festigen ist oft ein grosses Bedürfnis am Beginn einer Demenz: Ich bin dort aufgewachsen, habe so viele Geschwister, mein Beruf ist, und ich habe das erreicht, war dort und habe jenes geleistet. Interessiert zuhören, auch wenn eine Geschichte schon zum dritten Mal erzählt wird; der Erzählung zunächst einfach Glauben schenken, auch wenn sie lückenhaft, vielleicht sogar widersprüchlich ist; Bedürfnisse hören und ernst nehmen, auch wenn sie quer zum Tagesablauf und zur Struktur der Institution stehen – das gehört zur professionellen Menschlichkeit, die Pflege ausmacht. Gerade in hektischen, fordernden Zeiten wie diesen fällt das nicht leicht. Strukturelle Probleme, die die Pflege seit Jahren prägen, erschweren diese Aufgaben: Personalmangel, Spardruck überall, Leistungserfassung, bei der über jeden Handgriff digital Buch geführt werden muss und die eine Pflege à la minute zur Folge hat, Schichtarbeit und niedriger Lohn … Und jetzt noch die Aufhebung der Arbeits- und Ruhezeitvorschriften durch den Bundesrat. Von einer Gefahrenzulage ist nur zu träumen.
Die Patientin stoppt plötzlich, greift nach meiner Hand und schaut mich erschrocken an. Sie stottert beschämt, ihr sei «ein Malheur passiert», wie sie sagt. Ich begleite sie, so schnell es geht, auf die nächste Toilette, aber das «Malheur» ist tatsächlich ein ziemliches Unglück: Inkontinenzeinlage, Unterhose und Hosen sind voll mit Stuhlgang, mit Durchfall. Die Patientin kann nicht begreifen, wie so etwas geschehen konnte, schämt sich und ist gleichzeitig ungeduldig, ungehalten: Ich solle mich beeilen, alles endlich schnell wegputzen. Ich versuche, gleichzeitig schnell und freundlich zu sein, alle Hygieneregeln einzuhalten und die Würde der Patientin auch in dieser Situation zu wahren – keine einfache Kombination. Und: Der Ekel hat mich immer begleitet während meiner Berufstätigkeit in der Pflege, ich bin ihn nie losgeworden, und gleichzeitig schäme ich mich dafür. Die Patientin ist froh, endlich unter der Dusche zu stehen. Ich seife ihr den Rücken ein, helfe ihr, ihr Gesäss zu waschen, tupfe ihre faltige, pergamentartige Haut trocken und creme diese sorgfältig ein.
Pflege ist ein sehr körperlicher Beruf, auch in Zeiten von Corona. Gute Pflege ist Beziehung. Ein achtsamer Umgang mit der Verletzlichkeit und Emotionalität eines Menschen, mit der Nacktheit eines Körpers, ein professioneller Zugang zu Nähe und Intimität, bewusste Berührung – sie lassen sich nicht digital oder maschinell erledigen. Sie lassen sich auch nur schwer bürokratisieren und ökonomisieren, auch wenn die Leistungserfassung genau das versucht. Aber sie sind sehr wohl Wirtschaft. Während da draussen scheinbar «die Wirtschaft stagniert», hat sie hier drin Hochbetrieb. Pflege ist Ökonomie im eigentlichen Sinne: Sie dient der Befriedigung tatsächlicher menschlicher Bedürfnisse. Bedürfnisse wie Gesundheit, Ernährung, Ausscheidung, Bewegung, Körperhygiene, Kleidung, Beziehung, Kontakt, Würde, Anerkennung, Privatsphäre ... Sorgearbeit ist damit systemrelevant. Wenn etwas schmerzhaft deutlich wurde durch die Corona-Krise, dann das: Care-Arbeit gehört ins Zentrum der Wirtschaft, wie es viele feministische Ökonom*innen und andere engagierte Fachleute schon lange, lange, lange sagen.
Frisch angezogen und bereit für das Abendessen strahlt die Patientin mich an. Ich begleite sie in den Speisesaal und bringe ihr das Café complet.