Die Rede von der Cancel Culture suggeriert eine neue Form linker Aggressivität. Vielmehr werden aber überfällige Debatten rund um Diskriminierung, Macht und Hierarchien in der letzten Zeit verstärkt geführt. Nicht zuletzt dank sozialer Medien ist für viele die Teilhabe an solchen Debatten erst möglich geworden. Das verschiebt Verhältnisse. Und das Verschieben von Verhältnissen gehörte immer schon zur Demokratie: Die Stimmen in den Aushandlungen des Zusammenlebens werden vielfältiger, marginalisierte Stimmen werden selbstbewusster, hörbarer. So gesehen ist die emotionale Rede von der Cancel Culture kein schlechtes Zeichen: Hegemonien verschieben sich. Was lange als quasi-natürliche soziale Wirklichkeit existierte, ist im Umbruch, zeigt Brüche, wird neu verhandelt. Wollen wir wirklich ausschliesslich Männer auf unser Podium einladen? Geben wir der Frage «Existiert Rassismus in der Schweiz?» erneut Platz in unserem Sendungsformat? Lassen wir die umstrittene Komikerin in unserer Zeitung wirklich einen Judenwitz erzählen? Sind manche Worte noch zeitgemäss? Wem schenke ich meine Aufmerksamkeit?
Für diejenigen, die es gewohnt sind, dass sie die Regeln bestimmen und ihre Stimmen Gehör finden, ist dieser Moment einer der Irritation. Der Hegemoniewandel bedroht und verunsichert, er löst Ängste und Wut aus: «Cancel Culture!», «Zensur!», «Man wird doch wohl noch sagen dürfen!». Übersetzt hiesse das vielleicht, etwas küchentischpsychologisch gesprochen: «Ich werde nicht gehört», «Ich bekomme keine Plattform mehr», «Man nimmt mich nicht mehr ernst». Das sind schmerzliche Erfahrungen, sicher. Erfahrungen, die für viele Menschen grundlegende Lebensrealität sind, weil sie den nötigen Habitus für die Schweizer Politarena nicht haben, weil sie aufgrund ihrer Hautfarbe von der Polizei kontrolliert werden und erfolglos zehn Mal den gleichen Satz wiederholt haben, weil sie ihren Vergewaltiger angezeigt haben und ihnen zunächst niemand glauben wollte, weil sie in der Endlosschleife der Bürokratie eines Asylverfahrens gestrandet sind und ihnen das Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit systematisch genommen wurde. «Cancel Culture!» ist immer auch ein Hinweis auf die Privilegien der Person, die so ruft. Und auf den existenziellen Prozess, Privilegien ein kleines Stückchen loslassen zu müssen.