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Clara Ragaz: «Ist die Frau Pazifistin?»

Léa Burger, 15. Juli 2021
Neue Wege 7/8.21

Das Engagement für eine fried­vol­lere Welt ist in der Tradition der Neuen Wege eng mit Clara Ragaz verbunden. Sie war überzeugt: Wenn Frauen politisch partizipieren, ist eine friedvollere Welt möglich. Welches Geschlechterverständnis steckt hinter dieser Überzeugung?

Seit ein paar Jahren schon begleitet mich Clara Ragaz-Nadig. Gelebt hat sie lange vor mir: 1874 wurde sie in Chur geboren, 1957 starb sie in Zürich. Ich kam 1987 zur Welt.

Mit ihren beiden Kindern und dem Ehemann Leonhard Ragaz, Mitbegründer der Neuen Wege und des Religiösen Sozialismus in der Schweiz, lebte Clara Ragaz an der Gartenhofstrasse in Zürich. Ihr Wohnhaus wurde zum zentralen Ort des pazifistischen, asylpolitischen und sozialen Engagements der Bewegung. Der Gartenhof ist bis heute Treffpunk von friedens- und sozialpolitisch engagierten Menschen und Organisationen.1

Clara Ragaz pflegte auch eigene Frauenräume und Beziehungen, gerade wenn es um Pazifismus ging. So präsidierte sie rund vierzig Jahre lang die Schweizer Sektion der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit, kurz IFFF. Sie organisierte nationale und internationale Konferenzen, initiierte mit ihren Mitstreiterinnen Petitionen für Abrüstung, gegen Waffenexport oder für die Einführung eines Zivildienstes. Sie führte, auch während der beiden Weltkriege, Korrespondenz mit unterschiedlichsten Frauen und Sektionen der IFFF. «Wenn sie nicht Jahrzehnte um Jahrzehnte dabeigeblieben wäre, treu und zuverlässig, wäre die Internationale Liga für Frieden und Freiheit sicher anders herausgekommen», resümiert Historikerin Heidi Witzig heute. Sie kennt sich bestens mit der Schweizer Frauengeschichte aus und hat sich immer wieder mit Clara Ragaz beschäftigt.

Ganzheitlich denken

Bis zum Ersten Weltkrieg ist Clara Ragaz zwar pazifistisch eingestellt, aber nicht als Pazifistin öffentlich aktiv. Mit Ausbruch des Krieges änderte sich das: 1915 gründet sie die erwähnte Schweizer Sektion der IFFF mit. Im selben Jahr hält sie anlässlich der Generalversammlung des Schweizer Verbands für Frauenstimmrecht in Biel eine Rede, die bis heute das wohl meistzitierte Vermächtnis von Clara Ragaz ist. Dort sagt sie: «Ein Sozialismus, der nur nach Herrschaft und Gewalt einer Klasse strebt; eine Frauenbewegung, die nur Frauenrechte wollte; eine Friedensbewegung, die nur auf die Abschaffung des Krieges, nicht aber seiner tieferen Ursachen hinarbeitete – sie alle könnten noch nicht den Anspruch darauf erheben, Menschheitsbewegungen im tiefsten Sinne und damit wirkliche Friedebringer zu sein.»2 Clara Ragaz ruft in dieser Rede, die unter dem Titel Die Frau und der Friede publiziert worden ist, zu einem ganzheitlichen Denken und Handeln auf. Entsprechend enttäuscht ist sie von der damaligen Sozialdemokratie ebenso wie von der Frauenbewegung. Beide hätten weder das grosse Ganze noch die Beziehungen unter den einzelnen Menschen im Blick gehabt und seien der Kriegsbegeisterung verfallen.

Clara Ragaz fragt sich sodann, ob Frauen anders gehandelt hätten, hätten sie das Stimmrecht gehabt und politisch partizipieren können. Enttäuscht stellt sie fest: Nein, «weil wir zu wenig wir selbst waren, weil wir zu abhängig vom Manne sind, weil wir immer noch der Meinung sind, die Welt, wie sie die Männer für uns und für sich eingerichtet haben, sei die einzig zu Recht bestehende.» In der Zeit des Ersten Weltkriegs hätten Frauen also keine eigenständige Politik betreiben können. Und: «Clara Ragaz macht hier darauf aufmerksam, dass wir gar nicht wissen, was Frauen denn tun würden oder was ihnen gemäss wäre, wenn sie in einer Welt leben würden, in der sie selbst gestalten und bestimmen könnten», gibt Ruth Ammann zu bedenken. Die Historikerin hat sich intensiv mit der Frauenbewegung um 1900 auseinandergesetzt und zu Dora Staudinger, einer religiös-sozialen Weggefährtin von Clara Ragaz, geforscht.3 Sie plädiert für eine differenzierte Auseinandersetzung mit Clara Ragaz und ihren Weggefährtinnen, wenn es um das damalige Geschlechterverständnis geht. Allzu schnell würde interpretiert, Clara Ragaz schreibe den Frauen eine friedfertigere Natur zu und begründe diese Zuschreibung biologisch. Solch eine Interpretation steht etwa im Historischen Lexikon der Schweiz: «Das Gebot christlicher Ethik bedeutete für [Clara Ragaz] Engagement für eine gerechte Gesellschaft, für den Frieden und für das Recht der Frauen auf politische Partizipation. Letztere begründete sie damit, dass Frauen von ihrem biologischen Geschlecht her sanft und hingebungsvoll seien, was sie für den Kampf gegen Krieg und soziale Ungerechtigkeit prädestiniere.»4 Dieser Interpretationsweise bin ich selbst lange gefolgt. Bei der Relektüre von Clara Ragaz’ Texten und im Gespräch mit Ruth Ammann und Heidi Witzig wird mir aber klar, dass es der religiösen Sozialistin viel eher um die gesellschaftlichen Verhältnisse ging, in denen Frauen bestimmte Eigenschaften zugeschrieben wurden. Und dass sie davon ausging, dass diese Eigenschaften wie Friedfertigkeit nicht einfach da sind, sondern eingeübt werden können. Um diese beiden Aspekte geht es im Folgenden.

Ideale und Zuschreibungen …

Welche Friedenspolitik wäre den Frauen gemäss? Clara Ragaz stellt diese Frage zur Diskussion, lässt die Antwort aber offen. Vielmehr beschreibt sie im Aufsatz Die Frau und der Friede die von den Männern festgelegten Ideale, welche Geschlechterrollen und -verhältnisse bestimmen: «Das männliche Ideal ist Mut, Tapferkeit, Trotz, so wurden wir von Jugend auf gelehrt, und das weibliche Ideal ist Sanftmut, Hingebung, Milde. Gut, sei es so! Ich will das heute nicht weiter untersuchen. Aber warum soll denn die Welt, die aus Männern und Frauen zusammengesetzt ist, nur das Gepräge der männlichen Tugenden haben und sollen bloss Mut, Tapferkeit, Trotz gelten? Könnten nicht in dieser Welt auch einmal die Gesetze der Sanftmut, Hingebung und Milde herrschen? Nein, nicht wahr, das ist eine Utopie, und es ist echt ‹frauenhaft›, einen solchen Gedanken auch nur einen Augenblick in sich auftauchen zu lassen? Da haben wir uns die Rollen ja viel besser verteilt: dem Mann mit seinen männlichen Tugenden der Selbstbehauptung, des Machtdrangs, der Eroberungslust sind die Angelegenheiten des öffentlichen Wohls anvertraut und der weniger geistesstarken, etwas zu Sentimentalität geneigten Frau bleibt es dann überlassen, allfällige Härten der Gewaltherrschaft auszugleichen, allfällige Wunden des Lebenskampfes zu verbinden. So ist es in gewöhnlichen Zeiten und so ist es in erhöhtem Masse in Kriegszeiten.»5

Enttäuscht, wütend und mit ironischem Ton sinniert Clara Ragaz über die Geschlechterrollen, deren Verhältnis von Männern bestimmt und von vielen Frauen unhinterfragt akzeptiert sei. Damit erkennt sie, dass das, was Frauen und Männer zu tun und zu lassen hätten, nichts Natürliches, in ihrer Biologie Begründetes ist, sondern etwas Diskursives und Performatives. Gleichzeitig nimmt sie die den Frauen zugeschriebenen Attribute an, wenn sie sagt: «Gut, sei es so!», und fordert auf, diese festgelegten Verhältnisse bis in letzter Konsequenz durchzudenken.6

Clara Ragaz möchte das System grundlegend ändern und all jene miteinbeziehen, die von der offiziellen Politik ausgeschlossen sind. Das betrifft Frauen ebenso wie die Arbeiterklasse, wenn sie schreibt: «Die Menschheit ist aus Männern und Frauen zusammengesetzt, […] aus ökonomisch Starken und ökonomisch Schwachen. Da geht es nicht an, dass die besonderen Gaben und Vorzüge der einen Hälfte der Menschheit im gesamten Aufbau des öffentlichen Zusammenlebens einfach ausser Kraft gesetzt werden, und es geht nicht an, dass ganze breite Volksschichten, die aus ihren besonderen Nöten und Umständen heraus wieder zu ihrer besonderen Erkenntnis und Auffassung gelangt sind, diese Erkenntnis und diese Auffassung in der entscheidenden Stunde einfach beiseitelegen. Wenn irgendwo, dann gilt hier die Lösung: Ein jegliches diene mit seiner Gabe.»7 Clara Ragaz fordert also einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel: Möglichst viele verschiedene Lebensrealitäten und -erfahrungen sollen in den politischen Diskurs einfliessen und seine Konsequenzen im Alltag mitprägen. So könnte Gerechtigkeit und in diesem Sinne auch Frieden entstehen, ist sie überzeugt.

… oder doch Biologie?

Wenn Clara Ragaz die Erfahrungen von Frauen in der Politik vermisst, stellt sich die Frage, was diese auszeichnet. Ist es die gesellschaftlich andere Position oder so etwas wie das Wesen der Frauen? Definiert Clara Ragaz Frausein nicht nur über soziale Zuschreibungen, sondern auch über die Natur oder Biologie? Es sind Fragen, die mich seit der ersten «Begegnung» mit ihr beschäftigen und die ich Ruth Ammann stelle. Sie sagt: «Die Frauen dachten den Begriff Wesen viel weiter, als wir das heute tun. Für sie war klar, dass es mehr ist als bloss Körper und Trieb, sondern auch soziale, geistige und seelische Dimensionen hat.» Es gehe Ragaz also viel eher um Eigenschaften, die frau kultivieren oder vernachlässigen könne. «Natürlich spielt bei Clara Ragaz die Biologie eine Rolle – also Mutterschaft und die körperlichen Erfahrungen als Frau. Aber das heisst nicht, dass die Frauen von damals sich auf ihre Biologie reduzieren liessen, im Gegenteil: Den Frauen wurde vorgeworfen, triebhaft zu sein und deswegen nicht argumentieren oder politisieren zu können. Dagegen wehrten sich die Frauen und lebten wohl auch deswegen mitunter asketisch, ja fast körperfeindlich.» Ruth Ammann betont zudem, dass bei Clara Ragaz die beiden Themen Bildung und politische Rechte zu berücksichtigen seien, wenn es um die Frage nach ihrem Geschlechterverständnis gehe. Hierfür lohnt sich ein Blick in einen anderen Aufsatz der religiösen Sozialistin.

Fürsorge ins Zentrum stellen

Gleich zu Beginn des Aufsatzes Ist die Frau Pazifistin?8 schreibt Clara Ragaz, sie gehe trotz ihres langjährigen Engagements bei der IFFF nicht davon aus, dass die Frau friedlicher sei als der Mann. Sie spricht zwar vom gemeinsamen Kampf von Frauen und Männern, betont aber auch die Relevanz von Frauenräumen und den Wert der (Selbst-)Bildung – ein Thema, das in der späteren Frauenbewegung der 1970er und 1980er Jahren zentral werden wird. In der Verschiedenheit der Frauen könnten Frauen sich selbst kennenlernen und ebenso das, was sie mit anderen verbindet. Das können Verhältnisse sein, in denen Frauen ausgebeutet und unterdrückt werden, oder Aspekte von Mütterlichkeit.

Ruth Ammann macht deutlich, dass bei Clara Ragaz auch Mütterlichkeit keine biologische Kategorie sei, «so wie das später in der Frauenbewegung und auch in der historischen Analyse oft gesagt wurde. Damals ging es immer auch um soziale oder geistige Mütterlichkeit, eine spezifische Qualität von Frauen, die sie ausbilden und in die politische Ordnung einbringen konnten.» Mütterlichkeit muss für Ragaz nicht unbedingt auf einer körperlichen Erfahrung basieren, wenn sie schreibt: «Darum liegt für mich die Erziehungsarbeit, die wir als Frauen zu leisten haben, nicht in erster Linie in der Kinderstube, sondern in der Erziehung der Erwachsenen, in der Erziehung, die wir an uns selbst zu leisten haben.» Heidi Witzig sagt dazu: «Dieses ‹Ich bin eine Mutter› war eben nicht nur für die Familie gemeint, sondern so, dass sich die Mütterlichkeit auch auf die Gesellschaft, auf den Staat, ja im Idealfall auf die ganze Welt bezieht.» So könnten schliesslich Solidarität und Verbundenheit über Klassen und Landesgrenzen hinweg zugunsten des Friedens gefördert werden.

Heute liesse sich dieses Verständnis von Mütterlichkeit mit den Schlagworten «Fürsorge» oder «Sorgearbeit» ergänzen. Sie sollten im Zentrum von Politik und Wirtschaft stehen. Denn mit Fokus auf Lebenszeit und Liebe, die Menschen damals wie heute in neues Leben stecken – ob biologisch verstanden oder ­ideell –, könnte sich die Gesellschaft menschenfreundlich anstatt lebensfeindlich und damit friedlicher organisieren. Im Aufsatz Die Frau und der Friede fordert Ragaz entsprechend, dass die «Kinderstubenmoral» zur Lebensmoral werden müsste: «Entweder gilt das, was wir die Kinder lehren sollen, Güte, Freundlichkeit, Liebe, Vertrauen, Grossmut, Treue, Wahrhaftigkeit, auch im späteren Leben und Zusammenleben, oder sonst hat es auch für die Kinderstube nicht viel Wert; denn der Kinderstube sind die Kinder bald entwachsen, und was sollen sie dann mit diesen Kinderstubenidealen anfangen, die ihnen im Lebenskampf ja nur hinderlich sind?»9

Clara Ragaz hoffte auf eine Welt ohne Krieg. Den Schlüssel dazu sah sie in den Beziehungen zwischen den einzelnen Menschen, in der Sorgearbeit von Frauen und Männern. Für Clara Ragaz brachten sie zwar unterschiedliche Erfahrungen in Politik und Wirtschaft ein. Doch wenn es um Rechte und Verantwortung geht, stellt Ragaz die Gleichheit der Menschen jenseits einer geschlechtlichen Zuschreibung ins Zentrum, wenn sie schreibt: «Dabei wissen wir, dass es sich bei diesem Aufstieg der Menschheit, an den wir glauben, nicht um Mann oder Frau, sondern um Mann und Frau handelt. Über dem Frauenideal und über dem Mannesideal steht das Menschheitsideal, und unsere grösste Hoffnung ist, dass die freie Frau mit dem Manne zusammen an der Menschwerdung des Menschen arbeitet.»10

  1. Vgl. Ruedi Brassel, Ruedi Epple, Peter Weishaupt: Haus Gartenhof in Zürich. Raum für vernetzte ­Friedensarbeit. Zürich 2019.

  2. Clara Ragaz: Die Frau und der Friede. In: Neue Wege, 6/1915, S. 241.

  3. Vgl. Ruth Ammann: Solidarische Räume schaffen: Frauensache! In: Neue Wege 4/2020, S  6–9.

  4. Vgl. hls-dhs-dss.ch/de/articles/
    010792/2021-02-16

  5. Clara Ragaz: Die Frau und der Friede. In: Neue Wege 6/1915, S. 243 f.

  6. Vgl. ebd. S. 245 oder S. 250.

  7. Ebd. S. 247.

  8. Clara Ragaz: Ist die Frau Pazifistin? In: Neue Wege, 10/1997, zum 40. Todestag von Clara Ragaz, S. 278–279.

  9. Clara Ragaz: Die Frau und der Friede. In: Neue Wege 6/1915, S. 250.

  10. Ebd. S. 254.

Léa Burger hat für eine Radiosendung zu Clara Ragaz mit den beiden Historikerinnen Heidi Witzig und Ruth Ammann gesprochen und Zitate davon für diesen Artikel verwendet.

  • Léa Burger,

    *1987, studierte Religionswissenschaften und Gender Studies. Sie ist Fachjournalistin Religion und Mitglied der Neue Wege-Redaktion.