Das Erzählte ist politisch

Regina Heyder, 23. Juni 2022
Neue Wege 7/8.2022

Verschiedenen neuen Publikationen gelingt mit autobiografischen Erzählungen eine folgenreiche Machtkritik im kirchlichen Kontext. In Theologie und Religions­wissenschaft hat das Nachdenken über Erzählungen und Erzählen seit langer Zeit seinen Platz: Erzählen ist im jüdischen und christlichen Glauben eine wichtige Praxis.

Erzählungen sind allgegenwärtig. Man findet sie, so der französische Philosoph Roland Bar­thes in seiner berühmten Introduction à l’analyse structurale des récits (1966), «in diesen nahezu unendlichen Formen zu allen Zeiten, an allen Orten und in allen Gesellschaften». Selbst wenn Erzählungen im Kontext spezifischer Gruppen entstehen, so werden sie doch «von Menschen unterschiedlicher, ja sogar entgegengesetzter Kultur gemeinsam geschätzt»; sie sind «international, transhistorisch, transkulturell, und damit einfach da, so wie das Leben».1

Erzählungen, das deutet Barthes bereits an, bedürfen ebenso eines erzählenden Subjekts wie der Rezipient*innen. Der*die Erzählende verortet sich im Erzählen in einer spezifischen Kultur (und sei es durch deren Negation) beziehungsweise in zunehmend fragmentierten, diversitätsaffinen Gesellschaften in einer spezifischen Gruppe. Im Erzählen konstituieren Menschen als Individuen ihre Identität und ihre Zugehörigkeit(en). Gleichzeitig wäre Erzählen sinnlos, würde der*die Erzählende nicht an die transzendierende Kraft der Erzählung glauben, also auf das Verstehen von je anderen hoffen.

Narrative turn – auch in der Theologie

Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebt die Erzählforschung eine Konjunktur, im 21. Jahrhundert hat sie mit der Publikation zahlreicher Lehr- und Handbücher, Lexika und Zeitschriften an Fahrt gewonnen. Der narrative turn in Kultur- und Sozialwissenschaften hat sich längst in narrativer Wirtschaft, narrativer Medizin und narrativer Psychologie fortgesetzt, um nur wenige Beispiele zu nennen. Narrationen werden immer in spezifischen Kommunikationszusammenhängen und mit konkreten Intentionen erzeugt – das Erzählte ist nie nur privat, sondern immer auch politisch.

In Theologie und Religionswissenschaft hat das Nachdenken über Erzählungen und Erzählen seit langer Zeit seinen Platz. Der Germanist Harald Weinrich beschrieb in einem wegweisenden Essay für die Zeitschrift Concilium von 1973 die Anfänge des Christentums als Erzählgemeinschaft. Das Christentum habe dann jedoch bald seine «narrative Unschuld» verloren und sich dem im griechischen Denken so wichtigen Postulat logischer Begründungen gebeugt.2 In derselben Ausgabe von Concilium bezog der Theologe Johann Baptist Metz «argumentative» und «narrativ-memorative Theologie» aufeinander: Nur im Modus des Erzählens sei es möglich, des Leidens der Opfer zu gedenken («memoria»).3 Dietmar Mieths Narrative Ethik, seit den 1970er Jahren entwickelt, «verbindet die moralisch wichtige Kategorie der Erfahrung mit rationalem Handeln und eigener Identitätsbildung».4 Literarische Texte und Erzählungen können die ethische Urteilsbildung ebenso anregen und prägen wie Normen. Dafür steht par excellence die biblische Beispielerzählung vom «barmherzigen Samariter».

Die Bibel: Welt erzeugende Erzählungen

Besonders produktiv angewandt wurde die narrative Analyse in der Bibelwissenschaft, die heute den Erzählcharakter der Bibel insgesamt betont. Exemplarisch zeigt dies ein Blick in die sogenannte Einheitsübersetzung, die erstmals 1980 für den gesamten deutschen Sprachraum als verbindliche Bibelausgabe erschien. Die Einführung in «die fünf Bücher des Mose» – die jüdische Tora – geht von mehreren literarischen Schichten aus. In die «Geschichtsdarstellung» seien die «Gesetzestexte aufgenommen». Das Wort «Erzählung» begegnet Lesenden in dieser Einführung lediglich ein einziges Mal, wenn von «Erzählungen über Personen und Ereignisse» als einer weiteren Überlieferung die Rede ist.5 Demgegenüber hebt die revidierte Einheitsübersetzung von 2016 den fundamentalen Erzählcharakter der fünf Bücher Mose hervor, der «zu etwa gleichen Teilen Erzählungen und Vorschriften» enthalte. Die «Weisungen» seien nicht isoliert zu betrachten, sondern erhalten nach der neuen Einleitung «ihren vollen Sinn» dadurch, dass sie in den Erzählbogen von der Erschaffung der Welt bis zum Tod des Mose eingebettet sind.6 Diese Sicht ist eine interpretatorische Vorentscheidung: Die Bibel als ganze und ebenso einzelne narrative Texte sind nach der Alttestamentlerin Irmtraud Fischer und in Anlehnung an den Philosophen Nelson Goodman «Welt erzeugende Erzählungen», «bindend und normativ» für Gruppen, die sich auf diese Texte beziehen, und gleichzeitig vieldeutig, vielfältig, widersprüchlich.7

Ereignisse des Glaubens erzählen

Die Theologie hat so im 20. Jahrhundert theoretisch reflektiert, dass Erzählen eine zentrale Praxis des jüdischen und christlichen Glaubens ist, denn die vergegenwärtigende Erinnerung vergangener Heilsereignisse geschieht im Modus des Erzählens. Wenn am Sederabend vor Pessach der Befreiung Israels aus Ägypten gedacht wird, dann gibt die Haggada – sie ist Erzählung und Liturgie zugleich – die Ordnung vor. «An diesem Tag erzähl deinem Sohn: Das geschieht für das, was der HERR an mir getan hat, als ich aus Ägypten auszog», heisst es bereits in der Weisung des Mose für das künftig zu feiernde Pessachfest (Ex 13,8).

Jesus verknüpft Verkündigung des Evangeliums, Erzählung und Erinnerung, was hier exemplarisch an der Salbung in Bethanien aufgezeigt werden soll: «Auf der ganzen Welt, wo das Evangelium verkündet wird, wird man auch erzählen, was sie getan hat, zu ihrem Gedächtnis», heisst es über die Frau, die Jesus wenige Tage vor seiner Hinrichtung salbt (Mk 14,9; Mt 26,13 EÜ).8 Es ist eine sperrige Episode, gleichsam ein Gegennarrativ, das hier überliefert wird, denn die Verpflichtung zur Erinnerung an diese Frau ist Widerstand gegen die Jünger, die das Öl lieber verkauft und den Armen gegeben hätten. Diese «ereignete unerhörte Begebenheit» (Goethe zu Eckermann, 27.1.1827)9 ist erzählwürdig, weil sie jene fünf Bedingungen für Ereignishaftigkeit erfüllt, die der Slawist und Narratologe Wolf Schmid definiert hat: 1) Relevanz der Zustandsveränderung «in der jeweiligen narrativen Welt»; 2) Imprädikabilität, also «Abweichung von […] dem in der jeweiligen narrativen Welt allgemein Erwarteten»; 3) Konsekutivität, das heisst die Veränderung hat «im Rahmen der erzählten Welt Folgen für das Denken und Handeln des betroffenen Subjekts» oder verändert sogar «die Normen der jeweiligen erzählten Welt»; 4) Irreversibilität, also die «Unwahrscheinlichkeit, dass der erreichte Zustand rückgängig gemacht wird»; 5) Non-Iterativität, denn «Veränderungen, die sich wiederholen, konstituieren […] bestenfalls nur geringe Ereignishaftigkeit».10

Wie sehr Erzählung und Ereignishaftigkeit zusammengehören, berücksichtigt die revidierte Einheitsübersetzung von 2016 an einer prominenten Stelle: Das Lukas-Evangelium beginnt nun mit «Schon viele haben es unternommen, eine Erzählung über die Ereignisse abzufassen, die sich unter uns erfüllt haben» – 1980 war διήγησις noch mit «Bericht» übertragen worden.

Autobiografische Erzählungen als Gegenreden

Menschen «weben sich ihr Bild der Welt aus Erzählungen zusammen»11, und gleichzeitig entwerfen und präsentieren sie ihre Identität und je eigene Welt in Erzählungen, als Individuen ebenso wie als Gemeinschaften. So konstituiert die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie ihre Identität, indem sie die ihr offerierten Welten negiert und von diesem Prozess erzählt: «Irgendwann war ich eine glückliche afrikanische Feministin, die Männer nicht hasst und Lippenstift und hohe Absätze zum eigenen Vergnügen und nicht zum Vergnügen der Männer trägt.»12

Gerade in der römisch-katholischen Kirche wurden in jüngster Zeit verschiedene Sammlungen mit autobiografischen Texten veröffentlicht. Die Erzählungen vollziehen Tabubrüche und sind Gegennarrative: In Erzählen als Widerstand schreiben 23 Autorinnen über spirituellen und sexuellen Missbrauch, den sie als erwachsene Frauen in religiösen Kontexten erlitten haben. Ihr Schreiben ist subversiv, denn es richtet sich gegen die von den Täter*innen errichteten Schweigeordnungen und gegen das Narrativ der «Einzelfälle». Im Erzählen gewinnen die Autorinnen jene Handlungsmacht zurück, die ihnen durch die Fremdbestimmung des Missbrauchs genommen wurde.13 Tabubrüche vollzieht auch die von der Benediktinerin Sr. Philippa Rath herausgegebene Sammlung Weil Gott es so will14 mit 150 Zeugnissen von Frauen, die von ihrer Berufung zur Diakonin oder Priesterin erzählen. Sr. Philippa Rath wollte der «fachtheologischen Arbeit» im Synodalforum «Frauen in Diensten und Ämtern der Kirche» «die konkrete Lebenswirklichkeit von Frauen an die Seite stellen» – «sozusagen als eine andere Autorität».15 Allein die Zahl der Texte widerspricht der bischöflichen Vermutung, «dass es doch in Wahrheit eigentlich wohl nur ganz wenige berufene Frauen gäbe».16

Gleich mehrere Veröffentlichungen der letzten Jahre machen Selbstverständnis und Diskriminierungserfahrungen queerer Katholik*innen öffentlich. In Love Tenderly erzählen 23 meist US-amerikanische lesbische und queere Ordensfrauen von ihren Lebenswegen und häufig auch von intersektionaler Diskriminierung.17 Die Kampagne «#OutInChurch – für eine Kirche ohne Angst» zeigt exemplarisch, dass Erzählen in den unterschiedlichsten Medien geschieht: Die ARD sendete am 24. Januar zur Prime Time den Film Wie Gott uns schuf. Für eine Kirche ohne Angst mit rund einhundert queeren Protagonist*innen. Homepage und Buch gehören ebenfalls zur Kampagne.18

Die autobiografischen Berichte in den genannten Sammlungen produzieren nicht nur Wissen, sondern sie konstituieren gleichzeitig Erzählgemeinschaften. Jede einzelne Erzählung stärkt die Glaubwürdigkeit und Relevanz der je anderen Erzählungen, ohne Diversität und Widersprüchlichkeiten auszublenden. Immer sind diese Erzählungen Machtkritik und enthalten den Appell, die erzählten Welten wahrzunehmen und das Handeln zu verändern.

Welche Überzeugungskraft solche Erzählungen tatsächlich besitzen können, zeigen jüngste Entwicklungen sowohl in der Weltkirche wie auch in den deutschsprachigen Bistümern. Das im Juni 2021 reformierte kirchliche Strafrecht ahndet nun den Missbrauch durch Kleriker und andere Kirchenleute unabhängig vom Alter der Betroffenen (vgl. can. 1395 § 3). Damit ist anerkannt, dass es Missbrauch an Erwachsenen gibt – eine Abkehr vom lange in Kirche und Gesellschaft vorherrschenden Narrativ, dass Erwachsene doch «Nein» sagen könnten und dass es deshalb Missbrauch an Erwachsenen gar nicht geben könne. Im Bistum Chur hat die Veröffentlichung eines Verhaltenskodex zum Umgang mit Macht mit fast zwanzig Zitaten aus Erzählen als Widerstand für Furore gesorgt.19 Ebenso erfolgreich könnten die von #OutInChurch formulierten Forderungen sein: Die deutschen Bischöfe haben angekündigt, das kirchliche Arbeitsrecht zu reformieren.

Wenn ich hier die Wirkungsgeschichte von Erzählen als Widerstand und #OutInChurch darstelle, dann ist diese Wirkungsgeschichte wiederum selbst eine Erzählung. Dabei ist zu bedenken: Die Darstellung kausaler Zusammenhänge ist ein Strukturmerkmal von Erzählungen und immer konstruiert, weil sie aus einer Vielzahl möglicher Ereignisse auswählt. Jede Geschichte könnte auch anders erzählt werden. Doch auch dieses Wissen gäbe es nicht ohne Erzählungen.

  1. Roland Barthes: Einführung in die strukturale ­Analyse von Erzählungen. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt 1988, S. 102–143, hier S. 102.

  2. Harald Weinrich: Narrative Theologie. In: Concilium 9 (1973), S. 329–333.

  3. Johann Baptist Metz: Kleine Apologie des Erzählens. In: Concilium 9 (1973), S. 334–341, hier S. 339.

  4. Dietmar Mieth: Rationalität und Narrative Ethik. ­In: Nicole C. Karafyllis/Jan C. Schmidt (Hg.): ­Zugänge zur Rationalität der Zukunft. Stuttgart 2002, S. 277–302, hier S. 277.

  5. Die Bibel. Altes und Neues Testament – Einheitsübersetzung. Stuttgart 1980, S. 3.

  6. Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Stuttgart 2016, S. 15 f.

  7. Irmtraud Fischer: Dokumentierte Welt versus Welt erzeugende Erzählung. In: Gerhard Büttner u. a. (Hrsg.): Narrativität (Religion lernen. Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik, Bd. 7). ­Babenhausen 2016, S. 23–32, hier S. 24 f.

  8. Das griechische λαληθήσεται (eigentlich «man wird davon reden») ist hier aufgrund der Ereignishaftigkeit der Episode angemessen mit «erzählen» übertragen.

  9. Zitiert in Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. Berlin u. a. 3. Auflage 2014, S. 12.

  10. Ebd., S. 16–19.

  11. Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. ­Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. ­Frankfurt/M. 2012, S. 9.

  12. Chimamanda Ngozi Adichie: Mehr Feminismus! Ein Manifest und vier Stories. Frankfurt 2016.

  13. Barbara Haslbeck, Regina Heyder, Ute Leimgruber, Dorothee Sandherr-Klemp (Hrsg.): Erzählen als ­Widerstand. Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche. Münster 2020.

  14. Vgl. Neue Wege 4.21.

  15. Philippa Rath (Hrsg.): «Weil Gott es so will». ­Frauen erzählen von ihrer Berufung zur Diakonin und ­Priesterin. Freiburg i. Br. 2021, S. 13.

  16. Ebd.

  17. Grace Surdovel (Hrsg.): Love Tenderly. Sacred stories of Lesbian and Queer Religious. Mount Rainier, MD, 2021.

  18. Vgl. www.outinchurch.de

  19. Vgl. https://www.zhkath.ch/kirche-aktuell/kirche-im-kanton/2022_verhaltenskodex_macht_bistum_chur.pdf

  • Regina Heyder,

    *1966, ist Theologin und Dozentin ­des Theologisch-Pastoralen Instituts in Mainz. Ehren­amtlich ist sie Vorsitzende der Theologischen ­Kommission des Katholischen Deutschen Frauenbundes (KDFB) e. V.