Das Märchen von der sparsamen Nation

Dominik Gross, 28. Oktober 2020
Neue Wege 10.20

Die Corona-Politik der Schweiz könnte eine finanz- und steuerpolitische Blaupause für die ökosoziale Wende werden. Dafür muss das Land aber zuerst liebgewonnene Selbstbilder überwinden. Die Illusion der sparsamen Nation und die Schulden­bremse gehören dazu.

In der Schweiz geht ein Coronamärchen um. Es ist allerdings kein epidemiologisches, sondern ein finanzpolitisches. In die Welt gesetzt hat es Finanzminister Ueli Maurer. Man schrieb den 20. März 2020. Seit einer Woche war die Schweiz im Lockdown. Das öffentliche Leben kam zum Erliegen, die Wirtschaft befand sich im freien Fall. Der Bundesrat sah sich gezwungen, in enger Zusammenarbeit mit den Schweizer Banken, der Nationalbank (SNB) und der Schweizer Finanzmarktaufsicht FINMA das grösste volkswirtschaftliche Hilfspaket des Bundes seit der Gründung des Bundesstaates zu schnüren.

An der Pressekonferenz stellte sich Maurer die erste Frage dann gleich selber: «Ja, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen – äh, kann der Bund überhaupt 42 000 Millionen ausgeben, diese 42 Milliarden, das ist wohl die erste Frage, die zu stellen ist.» Die Antwort: «Ich kann Ihnen versichern, dass der Bund das kann, dank dem, dass wir einen sehr robusten Finanzhaushalt haben, dank dem, dass wir die Schulden in den letzten Jahren abgebaut haben, dank dem wir Überschüsse erzielt haben, dank der Schuldenbremse.» Kein Widerspruch, keine Kommentare, keine Nachfragen aus dem Raum, weder von den anwesenden Finanzplatzexperten (darunter keine Frauen) noch von den Journalist*innen – also nächste Frage.

Maurers Märchen von der sparsamen Nation zeigte Wirkung – was gemessen an den Fakten erstaunlich ist. Zwar stimmt es, dass sich die Schulden des Bundes seit dem Höchststand von 2006 und nach der Einführung der Schuldenbremse 2003 um 24,3 Milliarden Franken reduziert haben. Das war möglich, weil der Bund dreizehn Jahre hintereinander zum Teil riesige Budgetüberschüsse verzeichnete und die gesamte Wirtschaftsleistung in derselben Zeit stark anstieg. Das wachsende Bruttoinlandprodukt (BIP) reduzierte so auch indirekt die Schuldenquote (Schuldensumme im Verhältnis zum BIP). Da aber Budgetüberschüsse nach Vorgabe der Schuldenbremse direkt in den Schuldenabbau fliessen müssen, kann der Bund mit ihnen kein Geld zur Seite legen, um es dann in schweren Zeiten wieder auszugeben. In Maurers Märchen ermöglicht aber ein angeblich in den letzten dreizehn Jahren gemästetes Sparschwein die Coronarettung der Wirtschaft und der Sozialwerke.

Wenn diese Rettung aber nicht von einem gemästeten Sparschwein ermöglicht wurde, von was dann? Darauf gibt es zwei Antworten. Die erste ist im Mechanismus zu finden, mit dem die Corona-Hilfskredite für Unternehmen abgewickelt werden, die zweite im Geschäftsmodell der Schweizer Volkswirtschaft.

Wie die Corona-Hilfskredite vergeben werden

Insgesamt hatte die Coronarettung des Bundes zu diesem Zeitpunkt ein Gesamtvolumen von 72,2 Milliarden. Über die Hälfte davon machten die oben beschriebenen Kreditgarantien für Unternehmen aus, 15 Milliarden solcher Kredite sind gemäss Finanzdepartement bis Ende Juni tatsächlich an Firmen vergeben worden.

Der Mechanismus der Hilfskredite funktioniert so: Der Bund garantiert für die Kredite, die Schweizer Geschäftsbanken an die betroffenen Unternehmen vergeben. Das Geld (die «Liquidität») für diese Kredite können die Geschäftsbanken direkt bei der Schweizerischen Nationalbank (SNB) beziehen, wenn sie dort die entsprechenden Schuldscheine hinterlegen.1 Nationalbankpräsident Thomas Jordan sagte an der erwähnten Pressekonferenz sogar, dass die SNB den Banken «unlimitiert» Geld zur Verfügung stellen könne. Die Nationalbank wiederum schöpft dieses Geld aus dem Nichts, wenn sie es den Banken für die Kreditvergabe zur Verfügung stellt. Das Geld für die COVID-19-Hilfskredite kommt also weder aus der Bundeskasse noch von den kreditgebenden Geschäftsbanken. Der Bund selbst garantiert gegenüber den Banken bloss für diese Kredite, er schiesst nicht selber Geld aus seinem Haushalt ein. Falls sämtliche kreditnehmenden Unternehmen den Banken ihre Kredite dereinst nicht zurückzahlen könnten, hätte der Bund also 41 Milliarden Franken verloren. So weit wird es aber wohl kaum kommen. Es wäre angesichts der Tatsache, dass die Liquidität für die Kredite den Banken von der Nationalbank gewissermassen geschenkt wurde, auch unverständlich: Die Banken erhielten zum Teil Geld zurück, das sie gar nie verliehen haben.

Direkt aus der Bundeskasse hingegen kommen die Ausgaben, die der Bund im Rahmen der Coronakrise für die medizinische Bekämpfung der Pandemie, Kurzarbeitsprogramme, die Erwerbsersatzzahlungen, die Stabilisierung der Sozialwerke, für Armee, Sport oder Kultur tätigt. Diese beliefen sich bis Ende Juni 2020 auf 30,7 Milliarden Franken. Während die Kreditgarantien für die Unternehmen den Bund bisher nichts kosteten, stellt sich die Frage, wie der Bund diese 30,7 Milliarden direkt finanzieren konnte.

Die Finanzierung war möglich trotz und nicht wegen der Schuldenbremse – das pure Gegenteil dessen, was Maurer behauptet. So schreibt die Eidgenössische Finanzverwaltung auf ihrer Corona-Website: «Die Schulden­bremse ist für aussergewöhnliche Situationen flexibel ausgestaltet, sodass hohe zusätzliche Ausgaben getätigt werden können. Sie enthält eine Ausnahmeregelung für nicht steuerbare Eventualitäten wie beispielsweise schwere Rezessionen, Naturkatastrophen, kriegerische Ereignisse und andere besondere Entwicklungen. Diese Ausnahmeregelung stellt sicher, dass der Bund im Krisenfall flexibel reagieren kann und dadurch die ordentliche Aufgabenerfüllung nicht beeinträchtigt wird.»2

Die Finanzierung der direkten Corona-Hilfszahlungen

Letztlich wird der Bund zur Finanzierung seiner Corona-Hilfe also einfach seinen Schuldenstand wieder etwas erhöhen, der heute gemäss dem Internationalen Währungsfonds (IWF) netto bei 19,2 Prozent des BIP liegt. Bis 2022 dürfte sich dieser auf 26,7 Prozent erhöhen. Auch das wird im internationalen Vergleich immer noch eine äusserst tiefe Verschuldung sein und weit unter dem Höchststand von 2006 liegen.3 Dank den negativen Leitzinsen der Nationalbank, an denen sich so schnell nichts ändern wird, kann der Bund zudem zum Nulltarif neue Kredite an den Finanzmärkten aufnehmen oder an diesen sogar noch verdienen. Fiskalpolitisch stellen also die Milliardenhilfen gegen die Coronakrise überhaupt kein Problem dar. Man kann theoretisch ganz einfach wieder zur Tagesordnung übergehen.

Die Schuldenbremse als politische Waffe

Das Schuldenbremsenmärchen kommt Maurer aber entgegen. Es liefert die passende Erzählung für eine nationalistisch-neoliberale Politik, die die öffentliche Gestaltungskraft des Staates trotz Gesundheits-, Klima- und Wirtschaftskrise, trotz wachsender sozialer Ungleichheit und Armut so eng wie politisch möglich fassen will und sich auf die Gewährleistung der inneren Sicherheit, die Armee, die Landwirtschaft und die nationale Wirtschaftsförderung beschränkt. Dafür steht der langjährige Ex-SVP-Präsident seit Jahrzehnten ein. Nur: Damit werden wir den grossen Krisen der Gegenwart nicht gewachsen sein. Das Schulden­bremsenmärchen tangiert zum Beispiel wesentliche Macht- und Verteilungsfragen. Denn wie schon die UBS-Rettung in der Finanzkrise von 2008 zeigt auch die Corona­politik des Bundes: Wenn der politische Wille vorhanden ist, kann in einem Land mit einer eigenen Währung, einer eigenständigen Zentral­bank und einem starken Finanzplatz grundsätzlich alles finanziert werden. Die Frage ist nur, wer von dem vielen Geld letztlich profitiert und die Macht hat zu entscheiden, wo investiert werden soll und in welche Richtung sich eine Gesellschaft entsprechend weiterentwickeln kann.

Um zu investieren, braucht es Kapital. Dieses Kapital häuft man über Kredite an – also über die Aufnahme von Schulden. Das Schuldenmachen war so schon immer die Grundlage für wirtschaftliches Wachstum, ja für den Kapitalismus selbst. Wenn aber öffentliche Institutionen wegen finanzpolitischer Ausgabenbeschränkungen wie der Schuldenbremse als Investor*innen limitiert und so demokratische Gesellschaften in ihrer Gestaltungskraft beschnitten werden, übernehmen die Privaten – mit anderen Interessen.

Dazu gehören Banken, Vermögensverwalter und Unternehmen auch ausserhalb der Finanzindustrie, die nicht als Erstes ans Allgemeinwohl denken, sondern an Aktionäre und (Gross-)Kund*innen. Nimmt man also die wirtschaftspolitischen Realitäten der letzten zwölf Jahre zum Massstab, in denen exorbitante öffentliche Summen in die Wirtschaft gepumpt wurden, stellt sich nicht mehr die Frage, ob der Staat in der Wirtschaft eine starke Rolle spielen soll, sondern nur noch, wem er dient: den wenigen Reichen, denen es trotz mannigfaltiger Krisen hauptsächlich darum geht, ihr Kapital zu sichern, oder der Allgemeinheit, die dringend auf eine grosse Transformation hin zu einer ökologischeren und sozialeren Weltgesellschaft angewiesen wäre.

Coronapolitik als Blaupause für eine Wirtschaftspolitik der ökosozialen Wende

Nicht nur in der Schweiz zeigt die Coronapolitik, wie eine wirtschafts- und finanzpolitische Wende aussehen könnte, in der die Gesellschaft nicht der Kapitalvermehrung dient, sondern das Kapital dem Wohl der Gesellschaft. So wird auch eine radikale ökologisch-soziale Transformation denkbar, auch in der kurzen Zeit, die uns bleibt, um die schlimmsten Folgen der Klimakrise noch abzuwenden.

Wie schon während der Finanzkrise von 2008 profitiert von den wirtschaftspolitischen Rettungsversuchen der Politik zuallererst die Finanzindustrie – und zwar noch in einem viel grösseren Ausmass als vor zwölf Jahren. Mitte März, auf dem ersten Höhepunkt der Coronapandemie im Globalen Norden, befanden sich die Finanzmärkte im freien Fall. Dann lancierten die US-amerikanische, die europäische und die britische Zentralbank das grösste Rettungspaket aller Zeiten. Seither entwickeln sich die Kurven der Finanzmarktindexe und jene der gesamtwirtschaftlichen Konjunkturprognosen fundamental auseinander: Während die Börsen neue Rekordhöhen erreichen, rasseln die Weltwirtschaftszahlen so tief wie kaum je zuvor in den Keller. Diese gegenläufigen Trends zeigen: Wieder einmal bleiben die exorbitanten Summen aus den staatlichen Rettungspaketen in den Finanzmärkten stecken und erreichen die Zonen realwirtschaftlicher Investitionen nur sehr zögerlich. Neben vielen anderen plädiert deshalb die britische Ökonomin Ann Pettifor in ihrem Buch The Case for the Green New Deal4 für einen fundamentalen wirtschafts- und finanzpolitischen Richtungswechsel. Staats- und Zentralbankengelder sollen nicht mehr privaten Investitionen auf die Sprünge helfen, sondern private Gelder öffentlichen Investitionen. Nur so sei die Kehrtwende in der Klimapolitik noch möglich. Es brauche Zentralbanken, die die Zinsen wie heute schon tief halten. Nur sollen nicht mehr in erster Linie private Investoren von diesem billigen Geld profitieren, sondern der demokratische Staat und also die Gesellschaft als Ganzes. So kann die Politik direkt in eine grüne Wirtschaft und mehr soziale Gerechtigkeit investieren.

Wie die Schweiz eine ökologisch-soziale Wende der Weltwirtschaft torpediert

Und hier kommen die spezifischen Gesetzmässigkeiten des Schweizer Geschäftsmodells wieder ins Spiel: Die gegenwärtige Schweizer Finanz- und Steuerpolitik torpediert die Entwicklung eines internationalen Finanz- und Steuersystems, das einen raschen ökosozialen Umbau der Weltgesellschaft ermöglichen würde. Gemäss einem Nachhaltigkeitsbericht der Bertelsmann-Stiftung aus dem vergangenen Jahr5 lebt kein Land so stark auf Kosten aller anderen. Gründe dafür sind unter anderen der grösste Offshore-­Finanzplatz der Welt, Tiefsteuergebiete für multinationale Konzerne und eine stark von ausländischer Produktion abhängige und auf den Export fokussierte Rohstoff-, Pharma-, Maschinen- und Nahrungsmittelindustrie. Da multinationale Konzerne in der Schweiz im internationalen Vergleich sehr tief besteuert werden, findet der globale Handel mit Rohstoffen, Kapital und Gütern von hier aus statt, deren Produktion und Verkauf aber vorwiegend im Ausland. Banken, Finanzdienstleister und Konzerne holen auf diese Weise viel ausländisches Kapital in die Schweiz, das von hier aus reinvestiert, an (vor allem ausländische) Kapitalbesitzer ausbezahlt und, wenn überhaupt, sehr günstig versteuert wird. So frisieren viele Kantone und der Bund ihren aufgrund jahrzehntelanger Niedrigsteuer- und/oder Sparpolitik unterfinanzierten Fiskus mit ausgeklügelter Standortpolitik. Der riesige Kapitalzufluss sorgt etwa dafür, dass der Staatsanleihenmarkt der Schweiz sehr wohlgesinnt ist, was ausserordentliche Ausgaben wie jene für die Coronahilfen locker finanzierbar macht. Die Schweiz ist also kein sparsames Land, es lebt bloss auf Kosten von anderen.

Würde sich der Bund von seiner Politik der Sparsamkeit um ihrer selbst willen verabschieden, könnte er seine Abhängigkeit vom Offshore-Finanzplatz und den Konzerntiefsteuergebieten reduzieren. Ein solcher Politikwechsel könnte einen ökosozialen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft einleiten, mit dem die Schweiz der Welt weniger schadet. Wie das gehen könnte, können wir anhand der Schweizer Coronapolitik sehen. Allerdings erst, wenn der kleinkrämerische Zauber von Maurers Coronamärchen verflogen ist.

  1. admin.ch/opc/de/official-compilation/2020/1077.pdf

  2. efv.admin.ch/efv/de/home/aktuell/brennpunkt/covid19.html

  3. Deutschland, die «Musterschülerin» punkto Haushaltsdisziplin in der EU, weist aktuell eine Quote
    von 41,3 Prozent aus, im Durchschnitt liegt diese in der Eurozone aktuell bei 69,1 Prozent (Prognose für 2020: 81,3) und unter den G20-Ländern bei 83,1 (Prognose für 2020: 101,3).

  4. Ann Pettifor: The Case for the Green New Deal. London 2019.

  5. bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/­Publikationen/GrauePublikationen/Sustainable_­Development_Report_2019_complete.pdf

  • Dominik Gross,

    *1981, arbeitet bei einer NGO in Bern als Spezialist für internationale Steuer- und Finanzpolitik. Er studierte Geschichte und Philosophie in Zürich und Berlin.