Der Pfarrer hat Angst vor Gender

Andreas Hugentobler, 17. Oktober 2022
Neue Wege 10/11.22

Es war kurz vor unserer Rückkehr in die Schweiz. Eine Genderspezialistin sollte unsere Nachfolge bei der Basisorganisation Acobamor antreten, doch der Pfarrer hatte was dagegen …

Acht Jahre lebten wir nun bereits in El Salvador und begleiteten verschiedene Basisgruppen in Dörfern mitten in Kaffeeplantagen im Süden der Hauptstadt San Salvador. Als junge Organisation Acobamor näherten wir uns vor einigen Jahren einer Stadtpfarrei an. Las Delicias ist heute eher ein Schlafquartier, gelegen am Rande der Grossstadt Santa Tecla. Hier entstand in den 1980er Jahren, inmitten der staatlichen Repression gegen alles, was nach sozialer Bewegung roch, eine eindrückliche Basisarbeit unter Inspiration des Theologen und Pädagogen Miguel Cavada Diez. Bei dieser kollektiven Verwurzelung wollten wir mit unserer Arbeit ansetzen. Deshalb machten wir uns für eine stärkere Zusammenarbeit im Sinne des «caminar juntos», des gemeinsamen Weges zwischen Basisbewegung und Pfarrei, stark. Doch als unsere Basisgemeinden, 40 Jahre nach dem Kampf für Landreform und Arbeiter*innenrechte, erneut den Mut aufbrachten, Partei zu ergreifen – diesmal für die Opfer von Patriarchat, Gewalt und sexueller Ausbeutung, ernteten sie radikalen Boykott von Seiten der Pfarreileitung. Die konservativ-katholische Moral und Doktrin im «Kampf gegen die Genderideologie» verhinderte den Schutz von Mädchen und jungen Frauen als Opfer sexuellen Missbrauchs.

Das aus Naturlehm erbaute, einfache Pfarreizentrum in Las Delicias ist voller subversiver Geschichten. Wir hatten das Glück, über unsere Kolleg*innen davon zu erfahren: von nächtlichen Zusammenkünften, Medizinkursen, Gesangsworkshops, Kurstagen. Subversiv waren damals nicht die Aktivitäten an sich, sondern dass sich dort Unterdrückte zusammenschlossen, Bewusstsein über ihre Situation erlangten und ihre Befreiungsbestrebungen zu verfolgen begannen.

Miguel Cavada war nicht nur ein akademischer Befreiungstheologe, vor allem war er ein ausgezeichneter Pädagoge mit viel sozialem und kulturellem Gespür. Damals noch Priester, richtete er seine Sozial- und Bildungsarbeit gezielt auf Campesinas und Campesinos auf dem Land aus. Der salvadorianische Dichter Roque Dalton nannte sie die «ewig Ausgeschlossenen, Vergessenen, für alles verantwortlich Gemachten, Ungebildeten, Gewalttätigen …». Sie fanden im kirchlichen Lehmhaus des Mittelschichtsviertels Las Delicias eine persönliche, spirituelle und politische Tankstelle. So kam es, dass jede Art der Zusammenkunft zum Nährboden für gemeinsame Initiativen und Prozesse wurde. Es entstanden die CAPs (comités de atención prioritaria – eine Art mobiler Gesundheitsversorgung für die Landbevölkerung), Hunderte von Songs, welche Volksspiritualität mit dem Kampf für eine gerechtere Gesellschaft verbanden, Menschenrechtsequipen, Musikfestivals, Theologiekurse, Flüchtlingslager und später neue Quartiere für die intern Vertriebenen des Bürgerkriegs. Und natürlich half diese Bewusstseins- und Praxiserfahrung der 1980er Jahre vielen jungen Männern und Frauen, ihren Beitrag zur «lucha», zum gemeinsamen Projekt der Revolution, zu leisten.

Nur kam Miguels Option für die seit der Kolonialzeit unterdrückten Landarbeiter*innen bei der Mittelschichtsbevölkerung von Las Delicias nicht gut an. Seine Predigten – ein Pfarreizentrum sei in erster Linie ein Ort für Menschen und kein Parkplatz für Luxusautos – trugen nicht viel zur ­Befriedung der Gemüter bei. Wer in einer polarisierten (Unrechts-)Gesellschaft eine klare Position für Unterdrückte einnimmt, hat mit allen möglichen Folgen und Diffamierungen zu rechnen. Miguel legte später sein Priesteramt nieder und widmete sich sein Leben lang der Volksbildung.

Kirchenleute wie Miguel Cavada sind einzigartig und derzeit kaum zu finden. Ich habe in den letzten Jahren in El Salvador gelernt, zwischen zwei Priestertypen zu unterscheiden: jenen, die möglichst viel Geld verdienen wollen und deshalb alles daran setzen, in eine wohlhabende Pfarrei zu «kommen» – und sich, wenn sie mal dort sind, unersetzbar zu machen –, und jenen, die durchaus ein Bewusstsein für soziale Ungerechtigkeiten haben, auf ein Leben in Luxus verzichten, es jedoch aus strategischen Gründen bei Aufrufen zu karitativem Handeln belassen, um es sich mit den traditionellen, wohlhabenden Kreisen nicht zu verscherzen.

Manuel Sandóval1, der aktuelle Pfarrer von Las Delicias, gehört klar zur zweiten Kategorie. Mit der frisch gegründeten Basisorganisation Acobamor, ohne jegliches Vermögen, dockten wir vor fünf Jahren bei ihm an und schlugen ihm vor, die Landpastoral auf dem Gebiet der Pfarrei als Laienorganisation mitzugestalten und als Gegenleistung zwei Pfarreiräume für Versammlungen und Büros zu erhalten. Wir wussten, dass wir theologisch und sozialpolitisch nicht viel von ihm erwarten konnten, Manuel hatte sein Theologiestudium in ­Spanien beim Opus Dei2 absolviert. Er vertrat eine dualistische Weltsicht, nach der sich die Kirche für die Belange des individuellen Heils einzusetzen habe und sich deshalb nicht in politische Belange einmischen solle. Wir vertrauten primär auf seine gewinnende, transparente Persönlichkeit. Aufgewachsen in einer Region, die stark unter dem Krieg gelitten hatte, war ihm klar, dass Acobamor der Tradition der Volkskirche und der Befreiungstheologie nahestand. Mit politischem Geschick versuchte er unsere Arbeit der äusserst konservativen, frommen und militärtreuen Bevölkerung von Las Delicias zugänglich zu machen.

Erst waren wir ein Jahr lang in einer Baracke untergebracht, später kriegten wir im Hauptgebäude ein Zimmer als Büro. Dann kam 2020 das erste Coronajahr, welches in El Salvador auch ein Wirbelsturmjahr war. Es brachte uns nochmals näher zusammen: Wir organisierten Hunderte von Hilfspaketen, schufen Notunterkünfte in den Landgemeinden. Manuel unterstützte uns dabei in der Logistik und half uns als Autoritätsperson, die Militärsperren zu durchbrechen. Später entstand aus einem weiteren Pfarreiraum ein Internetcafé mit Bibliothek und Schulraum für das virtuelle Studium von benachteiligten Jugendlichen.

Besonders die Jugendarbeit brachte neue Dynamik in unsere gemeinsame Beziehung. Jugendliche, welche wir zu lokalen Reporter*in­nen ausbildeten, begannen ihre «neuen» Forderungen an gesellschaftliche Transformation zu stellen: Chancengerechtigkeit, sexuelle Aufklärung, effektiver Schutz von Minderjährigen gegen Vergewaltigungen und – ganz sanft, aber dennoch hörbar: Umgang mit sexueller Diversität. Die Genderthematik, der wir uns bislang nicht spezifisch zugewandt hatten, brachten unsere Jugendlichen als zentrale Herausforderung auf den Tisch. Als Organisation begannen wir das Thema in Bildungstreffen aufzugreifen mit dem Ziel, unsere traditionelle Basis für dieses zentrale Anliegen zu sensibilisieren und das kulturelle Tabu im Umgang mit Sexualität und Gleichberechtigung zu brechen.

Als wir dann Ende 2021 unseren Einsatz ab­­­schlossen und eine erfahrene Frau und Gender­expertin die besten Karten für die Nachfolge hatte, zog der uns über weite Strecken gut gesinnte Pfarrer alle möglichen Register, um ihre Wahl zu verhindern. Angst vor dem Abweichen von einer moralistisch verstandenen Doktrin, vor interner Rüge, dem Verlust der Pfarrei oder gar vor einer Bedrohung durch Regierungskreise mögen seine Gründe dafür gewesen sein. Doch wo blieb die Würde der Opfer von sexuellem Missbrauch und pa­­triarchaler Gewalt? – Als Gegenüber hatte der Pfarrer eine menschlich und sozialpolitisch gereifte Generation junger Menschen bei Acobamor, die den Mut aufbrachten, sich dieser aktuellen Problematik zu stellen. Religiöse Doktrin stand gelebter (und politisch verstandener) Nächstenliebe gegenüber. Letztlich schaffte es leider der Pfarrer aufgrund seiner Autorität, mit Druck sowie einer Drohung, die Organisation rauszuschmeissen, die Wahl der Genderspezialistin zu verhindern.

Was er damit nicht erreichen wird, ist ein Stopp im Bewusstwerdungsprozess bei der jüngeren Generation. Und genau darum geht es bei guter Basisarbeit: Neue Generationen definieren ihre (neuen) Kämpfe aufgrund erfahrener Realitäten. Dabei kümmern sie sich weniger um Diskurse oder Doktrin als vielmehr um Authentizität, Perspektiven und eine gute Portion Lust. Es ist stets eine Frage der Zeit, bis sich solche Haltungen durchsetzen.

  1. Name geändert.

  2. Das Opus Dei steht in der jüngeren Kirchengeschichte El Salvadors für die konservative Regression gegen die lateinamerikanische Befreiungstheologie und die ­Beschlüsse der lateinamerikanischen Bischofskonferenzen. Es hat während fast zwei Jahrzehnten die Priesterausbildung am interdiözesanen Seminar in San Salvador stark beeinflusst und die Zusammenarbeit mit der zentralamerikanischen Universität UCA der Jesuiten verhindert. Stattdessen wurden viele Priesteramtskandidaten in Spanien an Hochschulen des Opus Dei ausgebildet.

  • Andreas Hugentobler,

    *1982, studierte Theologie in Fribourg und San Salvador, arbeitete als Jugendseelsorger und Pastoralassistent in Biel, bevor er von 2014 bis 2022 kirchliche Basisgemeinden in El Salvador begleitete. Aktuell ist er bei Fastenaktion (ehemals Fastenopfer) für Theologie und die Sensibilisierungsarbeit in der Schweiz zuständig.