Der religiöse Frieden in einer säkularen Gesellschaft

Mustafa Atici, 8. Januar 2019
Neue Wege 1/2.19

Das religiöse Leben in der Schweiz ist vielfältig. Das erfordert Debatten, die den religiösen Frieden fördern. Ein Beitrag des Präsidenten der SP MigrantInnen.

Die Diskussionen um Religion und Gesellschaft werden sehr breit geführt und unterschiedlich verstanden. Ich fokussiere hier auf die Frage, was in einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft für ein friedliches Zusammen­leben wichtig ist. 
Als die SP im Sommer 2018 über ihre Positionierung zum Islam diskutierte, berichteten die Medien darüber so, wie es meistens der Fall ist: Konflikte überschatteten positive Aspekte und grundsätzliche Debatten. 
Unabhängig von der Auseinandersetzung der SP mit dem Islam führten auch die SP- MigrantInnen eine intensive Diskussion über die etwas breiter gefasste Frage, wie in einer zunehmend säkularen Gesellschaft der religiöse Frieden gewahrt werden kann. Die Delegiertenkonferenz setzte Anfang 2017 eine Arbeitsgruppe ein, diskutierte Entwürfe und beugte sich an ihrer Jahreskonferenz vom 9. Juni 2018 über zahlreiche Änderungsanträge. 
So gelang es, ein breit abgestütztes Positions­papier zu verabschieden, das nun als Grundlage für weitere öffentliche Diskussionen dient. Es ist ein Ziel der SP MigrantInnen, den gesellschaftlichen Kontext der Migration zu diskutieren und mit eigenen Beiträgen in laufende Kontroversen einzugreifen. 

 

Die Gesellschaft ist vielfältiger geworden

Die Herkunft der Bevölkerung der Schweiz weist im Vergleich zu anderen europäischen Ländern eine besonders grosse Vielfalt auf. 46 Prozent der Wohnbevölkerung haben mindestens einen Elternteil, der im Ausland geboren ist, unter den 15- bis 64-Jährigen sind es gar über 50 Prozent. Mit der vielfältigen Herkunft ist auch das religiöse Leben in der Schweiz vielfältiger geworden: Mit der Einwanderung sank der Anteil der ProtestantInnen. Der Anteil der Katholik­Innen und anderer christlicher Gemeinschaften wie Orthodoxe und AnglikanerInnen nahm zu, ebenso der Anteil der Konfessionslosen, der MuslimInnen und der Mitglieder anderer Religionen wie Hindus und BuddhistInnen.

Mit oder ohne Einwanderung nimmt der Anteil jener besonders stark zu, die kaum oder gar nicht am religiösen Leben teilnehmen, und zwar weit über die Konfessionslosen hinaus. Den grössten Anteil an nicht praktizierenden Personen weisen nach den Konfessionslosen die muslimischen Gemeinschaften auf: 46 Prozent geben an, in den letzten zwölf Monaten nie einem Gottesdienst beigewohnt zu haben. Das ist deutlich mehr als in der gesamten Bevölkerung, in welcher 30 Prozent im vergangenen Jahr nie an einem Gottesdienst teilgenommen haben. 

Ähnlich vielfältig stellt sich das Bild der religiös besonders Aktiven dar. Diese Gruppe wird durch die Angehörigen von evangelikalen Gemeinden angeführt: 72 Prozent von ihnen nehmen mindestens einmal pro Woche an einem Gottesdienst teil. Es folgen mit je 14 Prozent die KatholikInnen, Hindus und BuddhistInnen. Bei den MuslimInnen sind es bloss zwölf Prozent.

In einer überwiegend säkular und gleichzeitig religiös vielfältiger gewordenen Gesellschaft braucht es neue Überlegungen, damit der religiöse Frieden gewahrt bleibt. Sowohl die Religionslosen als auch jene, die ihre Religion praktizieren, verdienen Respekt. Alles unter einen Hut zu bringen, ist – nicht zuletzt in öffentlichen Einrichtungen wie der Schule, den Spitälern, Heimen und Gefängnissen, aber auch auf Friedhöfen – eine Herausforderung, der wir uns stellen müssen.

In Anbetracht dieser Tatsachen verlangen die SP MigrantInnen sowohl von Neuzugezogenen als auch von Alteingesessenen einen Beitrag zu einem friedlichen Zusammenleben. Wir müssen uns die grosse Diversität der Gesellschaft vor Augen führen und diese auch leben. Die SP MigrantInnen wollen nicht eine bestimmte Ideologie vorgeben. Vielmehr geht es uns darum, zu einer gesellschaftlichen Diskussion über das Verhältnis von Religion und Gesellschaft beizutragen. 

 

Was wollen die SP MigrantInnen?

Die SP MigrantInnen haben sich auf einige Grundlagen geeinigt: 

○Für ein friedliches Zusammenleben sind die Menschenrechte massgebend. Diese sind nicht verhandelbar – selbst dann nicht, wenn sie im Widerspruch zu religiösen Inhalten stehen. Religiöse Positionen können und dürfen die Menschenrechte nicht in Frage stellen. Namentlich verurteilen wir alle Versuche, mit religiösen Begründungen Gewalt und Hass zu schüren, Freiheitsrechte zu untergraben und die Gleichstellung von Frau und Mann zu torpedieren.

○ Die Politik muss die neue gesellschaftliche Realität anerkennen: Die menschliche Würde ist unteilbar. Alle verdienen Respekt: die Konfessionslosen, denen die Religion gleichgültig ist, und jene, die eine der vielfältiger gewordenen Religionen praktizieren. Das Entscheidende ist, dass jeder und jede Andersgläubige ebenfalls respektiert muss.

○Voneinander lernen statt Vorurteile schüren: Gegenseitiger Respekt erfordert Begegnung und Dialog, und er setzt gegenseitige Kenntnisse voraus. Es braucht Orte, wo der Dialog zwischen den verschiedenen Religionen und zwischen diesen und Religionslosen stattfinden kann.

○ Wir benötigen universitäre Lehrstühle für Religionswissenschaften und die Ausbildung von PriesterInnen sowie namentlich von Imamen in der Schweiz. Die Wissensbasis muss verbreitert werden.

Das Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften

Das Verhältnis zwischen Staat und Religion ist in den 26 Kantonen der Schweiz unterschiedlich organisiert. Den Kantonen sollte die Möglichkeit gegeben werden, Religionsgemeinschaften, die bestimmte Kriterien erfüllen, einander gleichzustellen. Die kleine Anerkennung im Kanton Basel-Stadt ist dafür ein gutes Beispiel. Gemäss dieser Regelung können privatrechtlich organisierte Kirchen und Religionsgemeinschaften anerkannt werden, sofern sie 

○ gesellschaftliche Bedeutung haben,

○ den Religionsfrieden und die Rechtsordnung respektieren,

○ über eine transparente Finanzverwaltung verfügen und

○ den jederzeitigen Austritt zulassen. 

Die kantonale Anerkennung erfolgt durch einen Beschluss des kantonalen Parlaments. Mit der Anerkennung kann der Kanton auf einer symbolischen Ebene seine Wertschätzung ausdrücken, was für die Betroffenen von enormer Bedeutung ist. Es ist wichtig zu betonen, dass dieser Anerkennungsprozess nicht als Diktat funktionieren kann und dass er auch innerhalb der religiösen Gemeinschaften stattfinden muss. 

Die Art und Weise, wie die Diskussion in den religiösen Gemeinschaften läuft, sollten diese selber bestimmen. Wird diese Diskussion offen geführt, so bin ich überzeugt, dass sowohl die Kantone als auch die Gemeinschaften einander und ihre jeweiligen Absichten besser kennenlernen. Das wird zu einem dynamischen Prozess führen, der für ein friedliches Zusammenleben nur hilfreich sein kann. Das ist in jedem Fall besser, als die Diskussion über die Medien zu führen, was allzu oft nur vorhandene Vorurteile festigt. Diese Diskussionen müssen nicht unbedingt in eine formelle Anerkennung münden. Vielmehr können sie auch dazu führen, dass eine bestimmte religiöse Gemeinschaft einen Begräbnisplatz erhält oder dass in Spitälern, Heimen und Anstalten alle, die das wünschen, einen geistlichen Beistand in ihrer jeweiligen Religion erhalten können.

Wichtig ist auch, alle darin zu unterstützen, zur Ausübung religiöser Handlungen geeignete öffentliche oder private Räume (Sakralräume) nutzen zu können oder solche zu errichten. Vorbildlich sind interreligiöse Einrichtungen wie das Haus der Religionen in Bern. Religiöse Gemeinschaften sollten für Tätigkeiten, die im öffentlichen Interesse liegen, finanzielle oder andere Unterstützung durch den Staat erhalten können.
Solange es noch kein gesetzlich geregeltes Anerkennungsverfahren gibt, schaffen der interreligiöse Dialog oder runde Tische die Voraussetzung zur Abdeckung dieser Bedürfnisse.
Öffentliche Institutionen haben die Pflicht, die Meinungs- und Religionsfreiheit zu respektieren. Deshalb haben sie auch das Recht, in ihrem Bereich deren Wahrung einzufordern.

Nicht Ausgrenzung, sondern Inklusion bildet die Grundlage unserer Gesellschaft. Alle öffentlichen Institutionen haben den Auftrag, der Vielfalt in unserer Gesellschaft gerecht zu werden. Das geht nur, wenn sie in ihrem Bereich gegen Intoleranz, Fundamentalismus oder verabsolutierte Weltbilder vorgehen. Wer die Menschenrechte als Grundlage einer inklusiven, vielfältigen Gesellschaft nicht anerkennt, darf in öffentlichen Institutionen keinen Einfluss erhalten, namentlich nicht auf das Bildungswesen. 
Intoleranz und Fundamentalismus gibt es in allen Religionen und Ideologien. Wir können aber nie akzeptieren, wenn jemand zu Hass und Gewalt aufruft. Oder keine Transparenz über die Abhängigkeit von ausländischen Ministerien oder Finanzquellen schafft. Oder Frauen unterdrückt und Hetze gegen Homo­sexuelle betreibt. All dies gibt es leider überall: in säkularen, nicht religiösen Kreisen ebenso wie in evangelikalen Sekten, in erzkonservativen katholischen Kreisen oder in der orthodoxen Kirche ebenso wie in radikalisierten Hindu- und buddhistischen Gemeinschaften oder in islamischen Gruppen. Deshalb sagen die SP MigrantInnen Nein zu religiösen Symbolen in der öffentlichen Schule wie Kruzifixe oder Kopftücher, die von Lehrerinnen getragen werden: Hier unterstützen wir die Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs. 

Für uns ist es wichtig, wie diese Diskussion geführt wird. Alle vernünftigen Kräfte der Gesellschaft sind gefordert mitzudiskutieren, statt jenen Medien oder politischen Kräften das Feld zu überlassen, die das Thema nach eigenen Interessen besetzen.●

  • Mustafa Atici,

    ○ *1969, ist in Elbistan/Türkei geboren. Er absolvierte ein Studium als Industrieingenieur in Ankara und der Wirtschaftswissenschaften sowie einen Master of Advanced European Studies in Basel. Er ist Unternehmer und seit 2004 SP-Mitglied des Grossen Rates Basel-Stadt. Seit 2013 ist er Präsident der SP MigrantInnen.

     

    mustafaatici.ch
    ○sp-ps.ch/de/thema/sp-migrantinnen