Die Bibliothek

Iren Meier, 1. Januar 2018
Neue Wege 1/2018

Da war dieses Zimmer. Jedes Mal wenn ich nach Pristina kam, gehörte es mir. Es war das schönste im Haus. Im eiskalten Winter geheizt, am Boden ein Teppich, auf dem Bett die beste Matratze. Das übrige Haus war voller Spuren des Familienlebens, laut, bunt, chaotisch. In meinem Zimmer war es ruhig, blitzblank aufgeräumt, so als hätte es seit meinem letzten Abschied niemand betreten. Der Gast bekommt den schönsten Raum. Eine Erfahrung, die man nicht nur in Pristina macht.

Dieser Raum aber hatte noch eine Besonderheit. Er beherbergte die Bibliothek. Zwei Wände voller Bücher. Wunderschöne Ausgaben. Die russische Literatur: Dostojewski. Deutsche Dichter und Philosophen: Goethe, Hegel, Kant. Französische: Diderot. Jugoslawische: Ivo Andric, Danilo Kiš, Alexandar Tišma. Alles – von Slowenien bis Mazedonien.

Andere Häuser haben einen versteckten Tresor in der Wand. Hier stand der Schatz im offenen Regal. Pajtims ganzer Stolz. Pajtims Welt, die weit über den engen, kleinen Kosovo hinausging, über Provinz und Nationalismus. Pajtim, dessen Augen leuchteten, wenn er von seinen Studienjahren in Belgrad erzählte.

Regie hatte er dort studiert. Und Literatur. In einem Land, das damals noch Jugoslawien hiess und dessen Hauptstadt eine offene war. Künstlerinnen, die debattierten,  zusammenarbeiteten, Projekte entwarfen. Künstler aus Kroatien. Mazedonien, Bosnien, dem Kosovo – aus Jugoslawien eben.

Die Bibliothek mit ihrer grossen Weltliteratur wuchs in dieser Zeit im schönen Zimmer in Pristina. Band um Band. Sie leuchtete, der Horizont war weit. Doch die Politiker taten alles, dass er sich verengte und verdunkelte. Gierig nach Macht und verblendet vom nationalistischen Taumel trieben sie die BürgerInnen Jugoslawiens an den Rand des Abgrunds – und darüber hinaus. Jede und jeden versahen sie mit einer Etikette einer angeblichen Identität. Du bist, was Du glaubst. Du sprichst so, also gehörst zu diesen oder zu jenen, zu uns oder zu den anderen.

Und auch Pajtim sass in seiner albanischen Ecke, sein Geist aber flog mit den Worten, Sätzen und Geschichten seiner Bücher weit in die Welt hinaus, über Grenzen und Fronten. Nichts drang in das schöne Zimmer. Immer noch war es heil. Der Krieg hatte bereits begonnen, die Vertreibung der albanischen Bevölkerung war nur noch eine Frage von Tagen, als ich das letzte Mal im Bücherzimmer übernachtete. Als ich ging, ich erinnere mich, betrachtete ich die Bibliothek länger als sonst.

Eine Woche später stand ich an der Grenze, auf der mazedonischen Seite. Ein nicht enden wollender Zug von
Menschen schleppte sich durch die kosovarische Landschaft hin zur Grenze. Langsam. Fast in Zeitlupe. Vertriebene. Ausgestossen aus ihren Städten und Dörfern. Mit gekrümmten Rücken, beladen mit der tragbaren Habe, Kinder hinter sich herziehend. Nach Stunden – ich sah sie von weitem – kamen Pajtim und seine Frau und seine Kinder.

Ohne alles standen sie da. Nicht erwünscht, nicht erwartet, nicht gewollt. In der Leere des Tales unter kaltem Himmel. Sieben Menschen unter Tausenden. Namenlose. Ich aber kannte sie. War vertraut mit ihrem Zuhause, ihrem Alltag, ihrem Leben. Als man die Familie zu einem Zelt mit Hilfswerkslogo führte, schaute ich ihnen nach, und es schob sich ein anderes Bild vor meine Augen: ihr Haus und das schöne Zimmer. Die Bibliothek. Die Küche, Pfannen auf dem Herd. Den langen Tisch, an dem sie assen, erzählten, lachten, stritten. Ihre Fahrräder, hingeworfen im Garten. Die Schulmappen, geöffnet, Hefte mit Aufgaben. Die Katze auf der Treppe.

Vertrieben heisst: herausgerissen aus dem Leben. Aus der Geborgenheit des Alltags. Vertrieben heisst: nackt. Vertrieben heisst: niemand. Vertrieben heisst: keine Vergangenheit und keine Zukunft. Vertrieben heisst: nicht mehr Pajtim, sondern Flüchtling. Vertrieben heisst: Dich braucht es nicht, Du fehlst niemandem.

All dies ging mir in einem flüchtigen Moment durch Herz und Hirn, als ich meine Freunde sah – im Zelt, bei der Registrierung, bei der Essensausgabe. Ich kann diesen Moment immer wieder abrufen. Hunderten von Geflüchteten bin ich begegnet im Lauf der Jahre, habe ihnen zugehört und geglaubt, ich verstünde, was sie sagen. Ich täuschte mich. Erst in der Gestalt von Pajtim und seiner Familie erkannte ich das Drama. Weil ich ihr «Vorher» kannte. Und weil ich Zeugin ihres «Jetzt» war.

Das «Jetzt» dauerte Wochen. Aber es hatte ein Ende. Die Eltern und ihre Kinder konnten zurück. Das Jüngste war fünf Monate alt. Auf dem Nachhauseweg kamen ihnen die serbischen Vertriebenen entgegen. Nun hatten sie keinen Platz mehr. Grausamer Austausch. Dasselbe Drama in anderen Kleidern. Mit anderen Namen.

Das Haus der Familie von Pajtim war Asche. Ein Nachbar hatte es angezündet, hörten sie. Das schöne Zimmer – Rauch. Die Bibliothek – verbrannt. Tolstoi, Hegel, Andric – alle weg.

Die Familie hat jetzt ein anderes Haus. Nur ein paar hundert Meter entfernt im selben Quartier. Grösser als das alte. Das Leben ist zurück: laut, bunt, chaotisch. Am neuen langen Tisch wird gegessen, erzählt, gelacht und gestritten. Heute sitzen Pajtims Enkelkinder mit am Tisch. Auch für mich gibt es wieder einen Raum – für den Gast. Gross und hell. Mit einem dicken Teppich auf dem Boden. Und einem Ofen. Aber es wird nie richtig warm in diesem Zimmer. Es ist, als komme die Kälte von den kahlen weissen Wänden. Kein Buch, nirgends.

Das Leben wieder aufnehmen nach der Vertreibung. Es ist ihnen gelungen, scheint es. Die Geborgenheit des Alltags ist zurück. Mit dem eigenen Staat scheint die grosse Sehnsucht erfüllt. Der Krieg ist lange schon zu Ende, Jugoslawien Geschichte. Und trotzdem bleibt es kalt im schönen neuen Zimmer. Das Leben, das Haus, der Tag – alles hat etwas Provisorisches, Momentanes. Ohne Garantie und Vertrauen. Und ohne festes Fundament. Die tiefe, existenzielle Verunsicherung, die die Vertreibung auslöste, wird überlagert von der Gegenwart, dem  wiederaufgenommenen Leben. Aber sie wirkt weiter unter der Oberfläche der Normalität. Was ein Trauma war für die Eltern und Kinder, bleibt ein Trauma.

Eine erfahrene Psychologin in Belgrad hat mir einmal gesagt: «Stell dir ein Haus vor mit vielen Zimmern. Als Metapher. Wenn ein kleiner Mensch», – sie arbeitete mit Kindern – «ein grosses Leid erfährt, einen schweren Verlust, etwas, das zu gross ist, um es zu bewältigen, dann nimmt dieses Etwas im ganzen Haus Platz. Alle Zimmer sind voller Trauer oder Schmerz oder Wut. Alles schwarz. Mit der Zeit, ganz langsam, wird es wieder heller im Haus, weil sich das Dunkle zurückzieht, in zwei Räume oder vielleicht in die kleine Abstellkammer. Aber es bleibt immer im Haus, breitet sich von Zeit zu Zeit wieder aus, zieht sich zurück. Irgendeinmal später, wenn das Kind selber die Kraft hat oder Hilfe bekommt, kann es die Tür zum dunklen Zimmer selbst schliessen – oder öffnen. In seinem eigenen Haus. In seinem eigenen Leben.»

In der Kolumne Alltag in ... beschreiben die Journalistin Iren Meier und die Poetry Slammerin Fatima Moumouni abwechselnd das, was sie an den Orten, an denen sie sich bewegen, beobachten - von Zürich bis in den Nahen Osten.

  • Iren Meier,

    *1955, lebt in Bern und berichtet hauptsächlich über die Türkei und den Iran. Seit 1981 arbeitete sie als Journalistin bei Radio SRF. 1992 bis 2001 war sie Korrespondentin für Osteuropa und den Balkan mit Sitz in Prag und Belgrad. 2004 bis 2012 arbeitete sie als Nahostkorrespondentin in Beirut.