Eine Woche später stand ich an der Grenze, auf der mazedonischen Seite. Ein nicht enden wollender Zug von
Menschen schleppte sich durch die kosovarische Landschaft hin zur Grenze. Langsam. Fast in Zeitlupe. Vertriebene. Ausgestossen aus ihren Städten und Dörfern. Mit gekrümmten Rücken, beladen mit der tragbaren Habe, Kinder hinter sich herziehend. Nach Stunden – ich sah sie von weitem – kamen Pajtim und seine Frau und seine Kinder.
Ohne alles standen sie da. Nicht erwünscht, nicht erwartet, nicht gewollt. In der Leere des Tales unter kaltem Himmel. Sieben Menschen unter Tausenden. Namenlose. Ich aber kannte sie. War vertraut mit ihrem Zuhause, ihrem Alltag, ihrem Leben. Als man die Familie zu einem Zelt mit Hilfswerkslogo führte, schaute ich ihnen nach, und es schob sich ein anderes Bild vor meine Augen: ihr Haus und das schöne Zimmer. Die Bibliothek. Die Küche, Pfannen auf dem Herd. Den langen Tisch, an dem sie assen, erzählten, lachten, stritten. Ihre Fahrräder, hingeworfen im Garten. Die Schulmappen, geöffnet, Hefte mit Aufgaben. Die Katze auf der Treppe.
Vertrieben heisst: herausgerissen aus dem Leben. Aus der Geborgenheit des Alltags. Vertrieben heisst: nackt. Vertrieben heisst: niemand. Vertrieben heisst: keine Vergangenheit und keine Zukunft. Vertrieben heisst: nicht mehr Pajtim, sondern Flüchtling. Vertrieben heisst: Dich braucht es nicht, Du fehlst niemandem.
All dies ging mir in einem flüchtigen Moment durch Herz und Hirn, als ich meine Freunde sah – im Zelt, bei der Registrierung, bei der Essensausgabe. Ich kann diesen Moment immer wieder abrufen. Hunderten von Geflüchteten bin ich begegnet im Lauf der Jahre, habe ihnen zugehört und geglaubt, ich verstünde, was sie sagen. Ich täuschte mich. Erst in der Gestalt von Pajtim und seiner Familie erkannte ich das Drama. Weil ich ihr «Vorher» kannte. Und weil ich Zeugin ihres «Jetzt» war.
Das «Jetzt» dauerte Wochen. Aber es hatte ein Ende. Die Eltern und ihre Kinder konnten zurück. Das Jüngste war fünf Monate alt. Auf dem Nachhauseweg kamen ihnen die serbischen Vertriebenen entgegen. Nun hatten sie keinen Platz mehr. Grausamer Austausch. Dasselbe Drama in anderen Kleidern. Mit anderen Namen.
Das Haus der Familie von Pajtim war Asche. Ein Nachbar hatte es angezündet, hörten sie. Das schöne Zimmer – Rauch. Die Bibliothek – verbrannt. Tolstoi, Hegel, Andric – alle weg.