Die Nachbarin

Geneva Moser, 14. April 2023
Neue Wege 4.23

In einer Zeit grösserer Umbrüche (in diesem Fall persönlicher Art – bezüglich der Weltlage von «Um­bruch», oder noch besser: von «Zeitenwende», zu reden, ist ja inzwischen schon zur floskelhaft unzureichenden Beschreibung der apokalyptischen Verhältnisse ge­worden) lässt sich auf meinem Fenstersims etwas Staunenswer­tes, ja Grossartiges beobachten: Ein Eichhörnchen baut ein Nest. Das kleine Tier trägt Äste, Stoff­fetzen, sogar ein Stück einer Plas­tiktüte hinter eine alte Metallkiste auf dem Sims und baut eifrig, emsig, beflissen an seiner Behausung. Ganz ungeachtet der besagten Weltlage, ganz ungeachtet der Tat­sache, dass auf der anderen Seite der Fensterscheibe – mindestens ebenso eifrig – eher ab-­ als auf­gebaut wird: Überflüssiges, über die Jahre Angesammeltes ausge­mistet, der Staub der Jahrhunder­te ausgeklopft, Innenräume raus­geputzt, Psychohygiene betrieben.
Die kleine «Nachbarin» auf dem Fenstersims lässt sich vom Baulärm im Inneren des Zimmers jedoch nicht beeindrucken, son­dern macht selber kräftiges Ge­raschel und knallt schon mal den einen oder anderen Ast an die Fensterscheibe. Zierlich ist sie, hellrot und unglaublich schnell. «Kobel» heisst die in Konstruk­tion befindliche Behausung, lese ich nach. Der, die oder das Kobel?, frage ich mich. Der die das Kobel muss auf mindestens sechs Me­tern Höhe gebaut werden und der die das Kobel hat immer zwei Aus­gänge, also immer einen Flucht­weg. Der die das konkrete Kobel auf meinem Sims ist ganz schön gross, und die Bauphase scheint noch nicht abgeschlossen zu sein. Die Nachbarin guckt dann und wann aus ihrer Behausung raus in meine rein. Warum eigentlich «die» Nachbarin? Eichhörnchen sind alleinerziehende Mütter, erklären mir Videos auf Youtube. Die Weibchen nisten gegen Ende des Winters, bereiten alles vor für den Nachwuchs und versorgen diesen dann während mehrerer Wochen. Und weil das da auf mei­nem Fenstersims irgendwie nach Geburtsvorbereitung ausschaut, schliesse ich: Es ist eine Nach­barIN, die ich da intensiv beob­achte. Stärker als die manchmal fast magische Anziehungskraft eines Bildschirms ist diese bau­ende Nachbarin: Alle paar Minu­ten schiele ich hinter den Vorhang, raus auf den Fenstersims. Manch­ mal – wenn mir etwas runterfällt, wenn ich besonders laut spreche oder Musik höre – , da gucken wir uns sogar durch die Glasscheibe in die Augen, oder es scheint zu­mindest so. Schwarze, wache Tie­raugen, ängstlich prüfend und abwägend dort – braun-grüne, neugierig­aufgeregte Menschen­augen hier.
Ich halte still, um das Tier nicht zu vertreiben. Lange Se­kunden vergehen dann. Und ich habe schon ein schlechtes Ge­wissen, dass die Nachbarin we­gen mir jetzt einen gehörigen Schrecken haben muss: Ein Raub­tier! Ein Jäger! Und noch dazu so nah ... Aber schliesslich habe ich sie nicht gezwungen, sich ausge­rechnet vor meinem Fenster, vor meiner eigenen lauten Baustelle niederzulassen. Und die Nachba­rin scheint immer wieder neu zu beschliessen, dass von mir keine Gefahr ausgeht. Die Nachbarin bleibt Nachbarin.
Kann man das eigentlich guten Gewissens, während die Welt rundum irgendwie – man kann es nicht anders sagen – den Bach runtergeht: so gänzlich unbeeindruckt kobelbauen und kobelbauenbeobachten? Sich freuen an diesem vom Weltge­schehen so unberührten Tun da draussen? Selbstverständlich ist die Nachbarin so unbeeindruckt dann doch auch nicht: Auch ihr setzt die Klimakatastrophe zu. Kürzere Winter bedeuten für die Eichhörnchen, dass auch der Nachwuchs früher kommt. Das wiederum bedeutet: mehr Kalo­rienverbrauch und dadurch mehr Futterbedarf bei gleichzeitigem Nahrungs-­ und Flüssigkeitsman­gel in den Wäldern und Hecken. Samen und Nüsse vertrocknen schneller und fehlen der Nagerin.
Wenn ich sie so beobach­te, die Nachbarin, dann mag ich mir gar nicht ausmalen, wie eine Welt ohne Eichhörnchen ausse­hen könnte. Ganz eigennützig gedacht: Auch in Zukunft will ich in Umbruchszeiten diese See­lenruhe, diese unbeeindruckte Geschäftigkeit auf meinem Sims beobachten können. Die Nachba­rin fragt offenkundig so gar nicht nach Sinn, nach Zukunft, nach dem Warum. Sie ist einfach da. Und das mit einer überraschenden Kraft und Beharrlichkeit. Und wie wird ihre Präsenz erst sein, wenn die kleinen Eichhörnchen dann geboren sind! Vielleicht drei, vier kleine, nackte und blinde Wunder, die von ihr das Eichhörnchenle­ben erlernen – direkt vor meinen Augen ... Was für ein Geschenk! Aber es sollte anders kommen: Ei­nes Tages, schon am Morgen weht ein kräftiger Wind, ist die Metall­kiste verschwunden. Sie liegt min­destens sechs Meter tiefer, einige Schritte weiter auf dem Asphalt. Zum Glück scheint niemand ge­nau dann unter dem Sims durch­ gegangen zu sein. Aber mit der Metallkiste ist die Aussenwand der Eichhörnchenbehausung weg. Und kurz darauf ist der Sims leer: Der die das Kobel ist verschwun­den. Einfach weggeweht. Und weg ist auch die Nachbarin. Ich sehe sie nicht wieder. Fast bin ich ein wenig beleidigt: Sie hätte sich doch wenigstens verabschie­den können! Bestimmt hat sie be­reits einen neuen Platz gefunden, mindestens sechs Meter über dem Boden, und baut emsig und ohne Warum und ohne Zukunftsangst eine neue Behausung. Der die das Kobel für ihren Nachwuchs.●

  • Geneva Moser,

    *1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.