Geneva Moser: Tradition ist nicht ein Wert an sich – im Fall der Neuen Wege aber finde ich es immer wieder faszinierend, auf ein so reiches und volles Archiv zurückgreifen zu können: Dass die religiös-sozialistische Pionierin Clara Ragaz Gedanken formulierte, die sich heute in der Formel «Wirtschaft ist Care» fassen lassen, oder dass die langjährige Redaktorin der Neuen Wege Berti Wicke nicht nur zwanzig Jahre lang treu die Texte redigierte, sondern sich durchaus auch streitlustig in so manches Thema einzumischen wusste – das motiviert mich sehr. Was bedeutet dir diese Vergangenheit?
Matthias Hui: Wenn wir als Redaktion im Haus Gartenhof in Zürich zusammensitzen, sind wir dort, wo schon vor fast hundert Jahren religiöse Sozialist*innen an derselben Zeitschrift arbeiteten! Dass wir durch die Geschichte hindurch Teil einer Gemeinschaft, einer Community sind, finde ich toll. Und wenn ich zum Beispiel Die neue Schweiz von Leonhard Ragaz aus jener Zeit lese, stosse ich zwar auf ein paar eigenartige Passagen gegen die reichen deutschen Tourist*innen, die in seinen Augen damals Graubünden überschwemmten. Aber sein Programm einer radikal demokratischen und genossenschaftlichen, aber auch ökologischen und pazifistischen, antipatriarchalen und kapitalismuskritischen Schweiz ist höchst aktuell. Vielleicht im Gegensatz zu anderen religiösen und sozialistischen Strömungen von damals ist mir ein Rückgriff auf unsere Tradition nicht peinlich. – Wen hast du denn als Lesepublikum heute vor dir, wenn du an einer neuen Ausgabe der Neuen Wege arbeitest?
Geneva Moser: Das ist eine gute Frage. Ich merke, dass ich da immer ein bisschen einen Spagat im Kopf mache. Es gibt ein breites linkes Publikum, welches viele Berührungsängste zu Religion und Christ*innentum mitbringt, die Neuen Wege aber punktuell interessiert liest. Dann gibt es ein sehr engagiertes theologisches oder kirchliches Milieu, welches die Neuen Wege treu abonniert und auch sehr genau liest. Beide Leser*innenkreise – wenn wir das überhaupt so schematisch aufteilen wollen – möchte ich ansprechen und in eine Diskussion bringen. Und: Ich frage mich auch, wen wir noch nicht als mögliches Publikum im Blick haben, aber eigentlich in den Blick nehmen sollten. Wer hat noch nicht von uns gehört und würde sich aber freuen, die Neuen Wege zu lesen?
Matthias Hui: Ich vermisse Leser*innen und Autor*innen, die zur heute «Neuen Schweiz» gehören, Menschen, die hierhingezogen sind und neben der eidgenössischen, säkularen Realität noch anderes in sich tragen – hinduistisch-tamilische, muslimisch-syrische oder christlich-nigerianische Verwurzelungen etwa. Diese Menschen haben andere Blicke auf politische und gesellschaftliche Wirklichkeiten. Die Neuen Wege waren ja nie einfach reformiert oder katholisch. Jüdische Menschen wie Margarete Susman zum Beispiel haben in der Geschichte unserer Zeitschrift eine grosse Rolle gespielt, im Moment fehlen sie uns.
Geneva Moser: Wie hat sich denn unser Leser*innenkreis in den letzten Jahren verändert?
Matthias Hui: Mir fällt auf, dass wir mit einzelnen Schwerpunkten und Beiträgen oder auch an unseren Veranstaltungen, die wir ja regelmässiger organisieren als früher, Menschen über unser Kernpublikum hinaus erreichen: Sie finden bei den Neuen Wegen Stoff zu einem Thema, das ihnen persönlich wichtig ist – und das hier in Verbindung mit Religion und Utopie, Glauben und Spiritualität gebracht wird. Anderswo wird diese gleichzeitig heikle und tabuisierte wie überraschende und inspirierende Verknüpfung selten geschaffen. Landwirt*innen haben so auf einen Beitrag einer feministischen Befreiungstheologin zum Agrarbusiness reagiert, Dichter*innen waren gerne bereit, in unserer Poesienummer auch Religiöses offenzulegen. Mit der Gretchenfrage nach der Religion in ihrer politischen Tradition und in ihrer Biografie haben wir Mitglieder der SP konfrontiert oder Menschen, die mit dem Anarchismus verbunden sind. Wir stehen an einem anderen Punkt als vor zwanzig, dreissig Jahren, als Religiöses viel stärker in einer Ecke, in einer Sackgasse steckte. Die Geschichten, die an einem Abend der Neuen Wege in der Berner Reitschule zum Thema «queer glauben» erzählt wurden, und die Tatsache, dass das möglich war – das hat mich sehr berührt. Aber wie wir diese gesellschaftlichen Entwicklungen, diese publizistischen Erfahrungen zu etwas Kontinuierlichem gestalten können, ist mir noch nicht klar. Menschen sind vielleicht von einer Ausgabe begeistert, abonnieren die Neuen Wege deswegen aber noch nicht gleich.
Geneva Moser: Da sprichst du etwas Zentrales an! Ich bin froh, nicht aus diesem Gefühl einer Sackgasse heraus ein Heft gestalten zu müssen … Für unsere Zukunft ist eine einigermassen stabile Situation unerlässlich, dazu gehören auch stabile Arbeitsbedingungen. Wir möchten unsere Arbeit sorgfältig und professionell leisten können. Auch umfangreichere Recherchen und Debatten wären attraktiv. Aber Tatsache ist: Die schnellen, digitalen Zeiten stellen uns vor grosse finanzielle Herausforderungen. Dass die Neuen Wege sich über Werbung finanzieren lassen, kommt ja nicht in Frage. Doch Jahr um Jahr treu ein Printabo bezahlen, das wollen viele Lesende heute nicht mehr. Nur auf Aboeinnahmen zu setzen, wäre da kurzsichtig. Die Frage, wie wir neue Formen der Finanzierung finden können, beschäftigt mich. Die Finanzierungsfrage ist auch eine Frage der Präsenz und Sichtbarkeit. Worauf wir sicher noch mehr setzen können, sind die sozialen Medien.
Matthias Hui: Wir erhalten seit gut zwei Jahren durch Twitter und Facebook ein Stück mehr Breitenwirkung. Aber klar: Wer uns dort findet, zahlt nicht. Bezahlschranken für unsere Texte kann ich mir im Moment nicht vorstellen; aus technischen Gründen, vom Aufwand her, aber auch von unserer Grundidee, dass unsere Arbeit, unsere Texte niederschwellig zugänglich sein sollten. Vielleicht ergeben sich im Kontext des Verbands «Medien mit Zukunft», dem wir jetzt angehören, mit der Zeit gemeinsame digitale Medienplattformen. Unter den kritischen Medien haben wir mit unserem Bezug zu Religiösem ein Alleinstellungsmerkmal und damit etwas zu bieten für jene, die keinen Bogen um dieses Thema machen, sondern neugierig sind. Es wäre toll, wenn einzelne Beiträge aus den Neuen Wegen auch anderswo online sichtbar würden und gelesen werden könnten.
Geneva Moser: Wir brauchen – und das ist ja heute die Realität für fast alle Medien – begeisterte und solidarische Menschen, die uns tragen. Auch finanziell sind wir auf unsere Basis, auf unsere Community angewiesen. Sie haben ein Solidaritätsabo oder sie verschenken zusätzlich ein Abo. Die Neuen Wege haben in den letzten zwanzig Jahren sogar drei grosszügige Legate erhalten, die den heutigen Stand der Zeitschrift ermöglichen. Nicht zuletzt daran zeigt sich, dass die Neuen Wege massgeblich von einem Netzwerk von Menschen leben. Wie können die Menschen dieser Community stärker einbezogen werden – als Pat*innen, als Botschafter*innen, als Ideengeber*innen?
Für mich ist die Verbreitung unserer Inhalte und das Flechten unseres Netzwerks immer auch in einen grösseren Kontext eingebettet: Es geht nicht nur darum, dieses Heft zu erhalten, sondern auch darum, etwas in den Herzen, Körpern und Köpfen der Menschen zu bewirken. Ich bin da bewusst idealistisch: Für mich ist die Arbeit bei den Neuen Wegen politischer Aktivismus und Teil einer Arbeit am Reich Gottes. Wir sind zwar klein, aber wir können Menschen erreichen, eine Plattform bieten, Stimmen stärken, Positionen sichtbar machen.
Die Neuen Wege werden seit 1906 von Abonnent*innen und Spender*innen getragen. Mehr Informationen zum Abo gibt es hier: https://www.neuewege.ch/abos
Weiteres zur Geschichte und zur Redaktion der Neuen Wege ist hier nachzulesen: https://www.neuewege.ch/ueber-uns
*1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.
*1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.