Medien haben ein Problem. Alle können heute, was lange nur sie konnten: viele Menschen erreichen. Jene, die auf Instagram, Tiktok, Twitter, Facebook richtig direkt und auf die richtige Art direkt sind, erlangen eine grosse Öffentlichkeit.
Wer für die eigenen Posts auf sozialen Medien Werbung schaltet, will möglichst viele erreichen. Wer als Star viele erreicht und von diesen vielen respektiert oder gar gemocht wird, konkurriert mit Zeitungen, Fernseh- und Radiosendern. Journalismus bedeutet mehr, als viele Menschen zu erreichen. Aber viele Menschen zu erreichen war lange Alleinstellungsmerkmal im Geschäftsmodell hinter dem Journalismus.
Ob es um Bezahlfotos auf Instagram geht oder um den Werbeclip vor einem Newsvideo: Überall verdienen Unternehmen wie Alphabet (Google) und Facebook (inklusive Instagram) mit. Seit über zwanzig Jahren fliesst eine grösser werdende Tranche an die Silicon-Valley-Riesen – auf über siebzig Prozent wird deren Anteil am Schweizer Onlinewerbemarkt von Expert*innen geschätzt. Die gesamten Werbeeinnahmen von Schweizer Magazinen und Zeitungen sind in den letzten zehn Jahren um eine Milliarde (!) auf 924 Millionen Franken gesunken.
«Wenn Sie x Dollars in Werbung schalten, erhalten Sie y Gewinn. Das wissen wir», soll der ehemalige CEO von Google, Eric Schmidt, 2003 zu einem empörten Medienmanager alter Schule gesagt haben. Nun – fünfzehn Jahre danach – mehren sich Zweifel, ob das stimmt. Aber in der Zwischenzeit wuchsen und wucherten Plattformen wie Facebook, Youtube, Netflix und Spotify. Sie haben ihre Marke über die Infrastruktur gestülpt: Zwei Drittel der Nigerianer*innen und knapp über sechzig Prozent der Indonesier*innen stimmten 2015 der Aussage «Facebook ist das Internet» zu. Dies auch infolge einer gezielten Kampagne des Unternehmens in «Schwellen- und Entwicklungsländern».
Praktisch alle journalistischen Medien gingen einmal enge Bündnisse mit den Plattformen ein: Das öffentlich-rechtliche SRF-Virus erreicht sein junges Publikum über Youtube; Echo der Zeit hört man auch über Spotify. Vom Blick bis zur NZZ kämpfte man um das grösste Stück vom Aufmerksamkeitskuchen in der Schweizer Facebook-Community. Man setzte auf Reichweite, und die erhält man mit Gratisinhalten. Das könnte sich nun ändern: Die SRG plant eine eigene Streamingplattform. Die grossen Zeitungsverlage kündigten vor einem Jahr gross eine «Login-Allianz» an, die den Abfluss von Werbeeinnahmen nach Kalifornien stoppen soll.
Die Ansätze kommen zu spät – und bleiben inkonsequent: Die SRG setzt parallel stärker auf Youtube. Die Verlage nutzen weiterhin jene Facebook-Tools, die es dem Unternehmen ermöglichen, Nutzer*inneninfos abzusaugen und damit den eigenen Werbealgorithmus zu verbessern.
Vor allem aber haben die Verlage nun schon lange am Journalismus gespart, und sie tun es – im Pandemieschock – beschleunigt: An die zweihundert Stellen bei Schweizer Medienunternehmen gingen alleine seit März 2020 verloren. Wie sollen immer weniger Journalist*innen Zeitungen machen, die in einem immer globaleren Umfeld – die New York Times ist immer bloss ein Klick entfernt – Menschen vom Abo überzeugen? Schlimmer kann es nicht kommen, denken Journalist*innen seit über zehn Jahren. Aber der Nullpunkt ist noch immer nicht in Sicht. Heute macht ein und dieselbe Redaktion den Inland- und den Internationalteil von Der Bund, Berner Zeitung, Tages-Anzeiger, Basler Zeitung, Der Landbote und anderen Titeln mehr. 45 Personen im Aarauer Industriequartier Telli verfassen und verantworten heute die überregionalen Berichte der über zwanzig Lokalzeitungen von CH Media. Gleichzeitig werden die Lokalredaktionen weiter ausgedünnt.
Man muss sich von Werbung unabhängig machen – sagen die Medien, die sich im alternativen Verlegerverband «Medien mit Zukunft» zusammengeschlossen haben. Darunter sind zahlreiche kleine bis mittlere Erfolgsgeschichten, etwa die Republik, die mit ihrem Crowdfunding-Weltrekord Schlagzeilen gemacht hat und sich komplett über Abos finanziert. Was all diesen Medien gemein ist: Während die Pandemie anderswo zum Komplett-Blackout geführt hat, bei 20 Minuten der Umsatz um fast fünfzig Prozent eingebrochen ist, erlebten verschiedene «Medien mit Zukunft» einen Solidaritätspush. Weil sie auf Abos setzen, haben sie einen anderen Umgang mit ihren Leser*innen; sie haben auch ein wirtschaftliches Interesse daran, in möglichst hoher Qualität zu berichten – statt mit der möglichst höchsten Verbreitung.
Die «Medien mit Zukunft» bestehen aus einem Strauss unabhängiger Medien, die grösstenteils tolle Arbeit leisten, manchmal demokratierelevante Recherchen liefern und wider alle Wahrscheinlichkeiten überleben. Doch darunter sind kaum tagesaktuelle Medien. Einige von ihnen begegnen ihrem Newsdefizit so, dass sie Neuigkeiten zusammenfassen: täglicher Newsletter über das Wichtigste in der Stadt Zürich um 17 Uhr, tägliche Zeitungszusammenfassung über das Wichtigste in der Region Basel um 7 Uhr. Toller Service – aber es gibt ihn nur dank der Arbeit von anderen.
Fast alle «Medien mit Zukunft» berichten nicht von jedem Anlass, sie können selektiv sein, oft mit mehr Zeit nachhaken, zeichnen sich dadurch aus, dass sie eben nicht über alles berichten. Ihr Journalismus wird erst ermöglicht durch den Rohstoff von Tagesjournalismus und Keystone-SDA, der letzten verbliebenen Nachrichtenagentur in der Schweiz. Würden bloss die «Medien mit Zukunft» überleben, verkäme die Schweiz ausserhalb der Zentren trotzdem zur «Medienwüste».
Es macht keinen Spass, jeder Debatte im Bundeshaus zuzuhören. Aber es ist wichtig, tut es das Bundeshausbüro von Keystone-SDA. Es ist auch wichtig, fragt jemand nach, wenn ein Unternehmen einen Stellenabbau verkündet. Die Journalist*innen, die das tun, haben vielleicht bloss eine halbe Stunde für ihren Beitrag – aber ohne ihre Arbeit gäbe es die Nachricht bloss als Medienmitteilung in euphemistischem PR-Sprech. Diese Journalist*innen erhalten keine Preise und tragen ihre Beiträge nicht stolz vor sich her, so wie es vielleicht erfolgreiche Podcast-Macher*innen tun. Aber in den drei Tagen, die für Podcast-Konzept, -Vorbereitung und -Produktion bleiben, haben Newsjournalist*innen ein Soll von zehn bis sechzig Beiträgen. In den drei Tagen berichten (klassische) Lokaljournalist*innen vielleicht von drei Anlässen und führen noch ein Interview. Die Berichte sind wohl weniger ansprechend geschrieben, man zahlt lieber für den Podcast.
Genau wegen dieses Dilemmas muss die mediale Wüstenbildung mit politischen Mitteln bekämpft werden.
Etwa mit mehr Freiheit für den öffentlich-rechtlichen Journalismus: In Artikel 93 der Bundesverfassung, noch vor «Wirtschaftsfreiheit», ist festgehalten, dass Radio und Fernsehen «zur Bildung und kulturellen Entfaltung, zur freien Meinungsbildung und zur Unterhaltung» beitragen. Sie müssen «sachgerecht» sein und «die Vielfalt der Ansichten» abbilden. Das Problem an diesem Artikel der Bundesverfassung liegt in den Begriffen «Radio und Fernsehen»: Auf SRF.ch werden Texte häufiger gelesen als Ton- oder Videobeiträge. Aber die SRF-Online-Redaktion muss für jeden einzelnen Artikel einen Bezug zu einer Sendung herstellen und einen Video- oder Radiobeitrag einbetten, der dann seltener angeklickt, als der Text gelesen wird. Im Internet gibt die SRG noch immer gleichzeitig Gas und drückt auf die Bremse. Das ist nur schon deshalb widersprüchlich, weil sie gleichzeitig gemäss Konzession seit Anfang 2019 Inhalte speziell für Junge produzieren muss. Damit die SRG im Internet frei sein kann, bräuchte es eine Verfassungsänderung.
Mehr öffentliche Gelder für private Medien und für die journalistische Ausbildung sind auch ohne Verfassungsänderung möglich. Ausser libertären Ideolog*innen ist fast allen klar, dass in der kleinräumigen Schweiz Medienwüsten nur verhindert werden, wenn die Unterstützung für private Medien ausgebaut wird. Seit der Gründung des Bundesstaats werden Zeitungen verbilligt zugestellt; seit den 1970er Jahren sucht man im Bundeshaus Wege, die staatliche Presseförderung auszubauen. Aktuell beschäftigt sich das Parlament mit der Frage, ob erstmals auch Bezahlmedien im Internet unterstützt werden sollen. Bei Onlineprojekten wie dem werbefreien Recherchemedium Das Lamm, das mit Fixkosten von 7000 Franken 25 000 Menschen im Monat erreicht, würden öffentliche Gelder nicht nur das Fortbestehen sichern – sondern der Redaktion auch den Weg aus einem sehr prekären Leben ebnen.
All diese Massnahmen befreien den Journalismus nicht von seinen Mitessern aus Kalifornien. Nehmen wir an, diejenigen, die weiterhin für kein/kaum Geld Journalismus machen, wollen nicht fünfzehn bis sechzig unkreative Meldungen am Tag schreiben. Nehmen wir an, es gäbe vielleicht eine reiche Stiftung, die Journalismus in Basel oder Genf durchfüttert – aber keine, die das im Berner Oberland tut. Nehmen wir an, Journalismus bleibe kein Geschäft. Wie sorgt man flächendeckend für eine vielfältige Medienlandschaft?
Verschiedentlich gefordert wurde ein «GA für News». Ob WOZ oder Tages-Anzeiger, alles würde man mit demselben Abonnement lesen. Das Problem: Wer bestimmt, wer im «Tarifverbund» dabei ist und wie die Einnahmen verteilt werden? In der gegenwärtigen Marktsituation würde ein solches GA nicht den Abwärtstrend stoppen, sondern den grossen Schweizer Konzernen helfen, im schwindenden Markt ihre Anteile zu bewahren.
Das SBB-Generalabo gibt es heute nur, weil die Schweizer Männer 1898 für die Verstaatlichung der Eisenbahnen gestimmt haben. Medien können und sollen so staatsfern sein und berichten wie möglich: Die Social-Media-Plattformen sind Teil der Infrastruktur des digitalen Daseins. In allen anderen Bereichen hat sich die Gesellschaft darauf geeinigt, dass Infrastruktur eine öffentliche Aufgabe sein soll: Die Fahrt von Basel nach Zürich ist mit einem privaten Busunternehmen günstiger als mit dem öffentlichen Verkehrsmittel. Aber nur die öffentlichen Verkehrsmittel bringen auch die Bewohner*innen im abgeschiedenen Bleniotal zu fairen Bedingungen von Ort zu Ort. Der Austausch via Facebook, Twitter und Instagram ist für das öffentliche Leben so essenziell geworden, dass Social-Media-Plattformen als Infrastruktur zur Service-public-Aufgabe werden müssen.
Die öffentlich-rechtlichen Medien sind bisher als Kanäle gedacht worden, seit fünfzehn Jahren sind aber Plattformen entscheidend. Die Social-Media-Plattformen sind öffentliche Räume. Deshalb müssten die Plattformen nach Service-public-Prinzipien geführt werden; nicht bloss einzelne Kanäle auf den Plattformen.
Die privaten Quasi-Monopolunternehmen tun sich schwer damit, Hassreden zu unterbinden und Falschnachrichten zu stoppen. Sie sind regelrechte Bullshitschleudern. Wie Gesellschaften einst eingesehen haben, dass man universitäre Bildung und Forschung nicht den Klöstern überlassen kann, wie erkannt worden ist, dass Bibliotheken eine öffentliche Aufgabe sind – eben, weil sie wichtige Emanzipations-, Aufklärungs- und Begegnungsorte waren –, braucht es heute eine öffentlich-rechtliche Social-Media-Plattform. In diesem neuen öffentlichen Raum könnte kritischer, staatsferner ebenso wie unterhaltsamer Journalismus um sein Publikum kämpfen, ohne dass siebzig Prozent der Werbegelder und Daten an die Mitesser bei Facebook abfliessen.
*1990, ist Autor und freier Journalist, u. a. regelmässig für die WOZ, swissinfo und die
Medienwoche. Sein neuer Roman Hyäne – eine Erlösungsfantasie ist gerade erschienen.