Eine Kultur der Demut

Geneva Moser, 23. November 2020
Neue Wege 12.20

Die eigene Perspektive absolut zu setzen, ist Mitursache für Diskriminierung. Wie könnte dagegen ein «Benennen in Demut» aussehen? Ein Gespräch mit der Autorin Kübra Gümüşay über die Sehnsucht nach einer Sprache, die Menschen nicht auf Kategorien reduziert, sondern ein gemeinschaftliches Denken ermöglicht.

Geneva Moser: Sie beschreiben in Sprache und Sein, wie Ihnen Ihr Grossvater Ihren Namen gegeben hat. Er hat Ihnen als neugeborenes Baby den Namen eingeflüstert, und gleichzeitig erfolgte ein Gebetsruf. Was bedeutet Ihnen Ihr Name?

Kübra Gümüşay: Ich habe dieses Erlebnis mit meinem Grossvater erst verstanden, als ich das Gleiche bei meinen Geschwistern erlebt habe. In dem Moment, in dem einem Neugeborenen der Name eingeflüstert wird, wird der Gebetsruf gesprochen. Auf diesen Ruf hin wird aber kein Gebet verrichtet. Dieses Gebet wird erst am Grab des Verstorbenen gesprochen. Gebetsruf und Gebet bilden die Verbindung von Leben und Tod, sie schliessen die Klammer. Deshalb hat ein Name für mich mit Geburt und Tod zu tun: Es ist das Erste, was ein Kind ins Ohr geflüstert bekommt, und begleitet einen Menschen auf seiner Reise bis in den Tod. Namen prägen Menschen. Menschen identifizieren sich mit ihrem Namen.

Und was bedeutet Ihr Name konkret?

Mein Name bedeutet «gross und bedeutend» [lacht]. In meiner Pubertät beschloss meine Mama, ihn zu wechseln. Sie meinte, dass ich seine Bedeutung zu ernst nähme. Wir haben lange gesucht. Fand ich einen Namen, wollte sie einen andern und umgekehrt. Am Ende ist nichts davon hängen geblieben, und niemand hat mich anders benannt. Wir sind bei Kübra geblieben. Mein Mädchenname Yücel bedeutet «werde grösser». Mein Name war also: «gross und bedeutend, werde grösser» [lacht].

Namen können ein Programm in sich tragen, eine Herkunft oder ein Geschlecht signalisieren. Kann ein Name auch einengen oder, wie Sie es in Sprache und Sein formulieren, ein Käfig sein?

Mein Bezug zu meinem Namen ist nicht besonders emotional, auch weil er mich nie eingeengt hat. Die Bedeutung ist hier den meisten nicht bekannt. In der Türkei könnte man viel mehr über Klasse und Geografie aus dem Namen lesen als hier. Jenseits einer vermeintlichen Zugehörigkeit zu einem bestimmten Land sagt dieser Name nicht viel über mich aus. Durch die Aneinanderreihung von «ü» markiert er mich als türkeistämmig. Namen werden zu Käfigen, wenn wir den Namen eines Menschen lesen und zu wissen glauben, wer dieser Mensch sei, beispielsweise weil wir eine bestimmte Klasse, eine bestimmte Kultur oder eine bestimmte Religion mit diesem Namen assoziieren. Ich habe atheistische Freunde, die Mohammed heissen. Das kann sich schon wie ein Käfig anfühlen. Aber ich weiss auch, dass viele ihren Namen stolz tragen können und ihn mit anderer Bedeutung füllen. Sie akzeptieren die Bedeutung, die andere einem Namen geben, nicht zwingend als einzige Möglichkeit der Interpretation. Die Bedeutung eines Namens lässt sich ausweiten und mit eigener Bedeutung füllen. Wir haben Werkzeuge an der Hand, um die Wände dieser Käfige einzureissen oder um Türen einzubauen und beim Heraustreten deutlich zu machen, dass sich dahinter etwas ganz anderes verbirgt als vermutet.

Warum sind kollektive Zuschreibungen so problematisch?

Die allerwenigsten kollektiven Zuschreibungen sind an und für sich negativ, sondern Tatsachenbeschreibungen, die aber mit negativen Assoziationen, Inhalten und Bedeutungen verknüpft sind. Wenn wir glauben, wir hätten Menschen abschliessend verstanden, weil wir sie der korrekten Kategorie zugeschrieben haben, und mit diesem Absolutheitsanspruch an die Welt herangehen, dann werden Kategorien, die wir zum Überleben brauchen, zum abschliessenden Bild der Welt. Wenn wir glauben, wir hätten die Welt verstanden, obwohl die allermeisten Fragen nicht beantwortet sind. Wenn wir aufhören zu staunen. Wenn wir aufhören, uns überraschen zu lassen – und zwar nicht durch Krassestes, Radikalstes, sondern durch Kleinigkeiten. Wenn wir aber die Augen öffnen für alles, was sich jenseits unseres Horizonts befindet, weil wir ein Bewusstsein dafür haben, dass wir einen begrenzten Horizont haben, dann können aus Käfigen wieder Räume werden und dann können Kategorien einfach nur Werkzeuge sein. Dann kann «der Geflüchtete» oder «die Frau» oder «der Ostdeutsche» oder «die Migrantin» einfach eine Tatsachenbeschreibung sein und kein Käfig, der Menschen nicht nur gesellschaftlich und kulturell abwertet, sondern auch politisch. Die Abwertung führt ja auch dazu, dass ein Mensch weniger verdient, bestimmte Rechte nicht zugestanden bekommt, diskriminiert wird, eine Wohnung nicht bekommt – eben weil er dieser Kategorie zugeschrieben wird. Daran können wir arbeiten.

Wie genau? Wie können wir kollektive Zuschreibungen durchkreuzen?

Ich glaube im Kern – das hat sich für mich bei der Recherche herauskristallisiert und klingt vielleicht pathetisch –, dass vielen Unterdrückungssystemen in unserer Gesellschaft ein Mangel an Demut innewohnt. Das Patriarchat baut darauf auf, dass Männer glauben, ihre Perspektive sei die Absolute, sie seien der Standard, ihr Körper sei die Perfektion und alles andere sei eine Fehlkonstruktion. Viele Bereiche unserer Gesellschaft orientieren sich am Mann, seiner Perspektive, seinem Körper. Das reicht von der Medizin über das Design unserer Mobiltelefone bis hin zu den Toiletten. Diese Verabsolutierung der eigenen Perspektive ist ein eklatanter Mangel an Demut.

Mit etwas Demut würden wir den eigenen Blick hinterfragen und den Blick anderer suchen, hinzuziehen. Begreifen, dass wir auf sie angewiesen sind, um der Realität näher zu kommen, sie zu umfassen. Um die Welt umsichtiger zu gestalten. Man würde ganz selbstverständlich fragen: Schliesst das Gebäude ohne Rampe, das ich baue, Menschen aus? In dem Moment, in dem eine Perspektive verabsolutiert wird, verlieren andere Perspektiven ihren Geltungsanspruch – werden unterdrückt. Die Klima­krise baut auf die Verabsolutierung der Per­spektive des Menschen auf, der sich die Natur zum Untertan macht. Der Kapitalismus, der die Bedürfnisse einer Klasse Menschen über alle anderen stellt und durch Abstraktion, Zahlen und Wirtschaftstheorien die Ausbeutung ganzer Länder, der Natur und der Menschen rechtfertigt. Auch dem Rassismus wohnt der Irrglaube inne, man könne nichtweisse Menschen studieren, ihre Körper vermessen, über sie urteilen, so als ob sie Pflanzen oder Tiere wären, über deren Natur und deren Wesen man Wissen aufbauen kann – während der Mensch, über den wir sprechen, vor uns steht und genauso gut selber sprechen könnte. Darauf, auf der Verabsolutierung der weissen Perspektive, baut Rassismus auf, und das trägt sich bis heute weiter. Vielen Missständen liegt dieser Mangel an Demut und Perspektivbewusstsein zugrunde. Es ist, wie Nietzsche einst schrieb: Anderen die eigene Perspektive zu verordnen ist eine «lächerliche Unbescheidenheit».

In meiner Biografie hatte die Kategorie «Frau» eine ambivalente Wirkung: Einerseits ist sie ein Käfig und verweist mich auf einen bestimmten Platz in der Gesellschaft, aber sie hat mich auch mobilisiert, mich mit anderen Frauen zu verbünden.
Am Beispiel der Jüdin Margarete Susman wird deutlich, dass die Diskriminierung der Jüdinnen und Juden sie auf ihre eigene Tradition zurückgeworfen und Türen geöffnet hat, diese emanzipatorisch zu nutzen.

Unterdrückung kann ein Segen sein – das klingt zynisch, ist aber wahr. Ein afroamerikanischer muslimischer Theologe sagte, dass der Unterdrückung zwei Segen innewohnen: Der erste Segen sei, dass man nicht der Unterdrücker ist. Der zweite, dass man vorgeführt bekommt, wie man nicht werden sollte. Mich hat diese Sichtweise eine emanzipierte Herangehensweise zu den Umständen des Lebens entwickeln lassen. Ausgrenzung und Diskriminierung können dazu führen, dass eine Frau beispielsweise anfängt, sich mit ihrem Frau­sein zu beschäftigen, sich Wissen über ihren eigenen Körper anzueignen: eine Bereicherung in einer Gesellschaft, in der wir uns strukturell so viel mehr am Mann orientieren als an der Frau. Ausgrenzung eröffnete mir den Reichtum der Perspektiven, die den vorherrschenden widersprechen. Ich sehe keine Bedrohung darin, wenn mir jemand widerspricht, sondern erkenne, dass ich an der Grenze meines Horizonts stehe und jetzt dank dieses Menschen den nächsten Schritt gehen kann. So fügen sich neue Bilder zusammen, und das ist ein Geschenk. Gleichwohl wäre natürlich das Ideal, dass man in einer Gesellschaft lebt, in der man als Frau nicht zuerst ausgegrenzt werden muss, um seinen Körper kennenzulernen, dass man als jüdische Person nicht zuerst ausgegrenzt werden muss, um die eigene Religion neu kennenzulernen, dass man nicht Gewalt erfahren muss, um zu lernen, dass man nicht gewalttätig sein will. In einer idealen Gesellschaft bräuchte es all diese Dinge nicht, und wir dürfen sie nicht beschönigen.

Wie hängen Sprachmacht und materielle Voraussetzungen zusammen? Inwiefern steht der Verwertungsprozess des Kapitalismus hinter Benennungen und Zuschreibungen?

Derjenige, der publizieren und Worte mit Bedeutung füllen kann, der Worte in Umlauf bringen kann, derjenige, der politische und wirtschaftliche Hegemonie besitzt, der hat Macht. Wir würden anders sprechen, wenn wir die Welt durch die Augen eines armen Menschen betrachten würden. Wir würden Gesetzesvorschläge anders bewerten und über unser Bildungssystem anders urteilen. Genauso würden wir so manches Gebäude anders benennen, wenn wir es mit den Augen eines Menschen, der sich mit einem Rollstuhl fortbewegt, betrachten würden. All diese Übungen zeigen, wen wir gemeinhin als Standard im Kopf haben und von wem wir ausgehen. Interessant wird es aber in Situationen, in denen die kulturelle Hegemonie nicht den Menschen gehört, die wirtschaftliche Macht haben.

Sie haben den Begriff Demut ins Spiel gebracht. Der Begriff hat einen religiösen Anklang und wirkt ungewohnt in einer säkularisierten Sprache. Wo sehen Sie das Potenzial einer religiösen Sprache und auch einer Perspektive, die das Befreiende und Emanzipatorische an Religion sieht?

Ich gewinne aus meiner Religiosität den Antrieb, dass ich, auch wenn es niemand sehen und anerkennen würde, beständig versuchen sollte, die Welt zu einer besseren zu machen. Menschliche Anerkennung darf nicht mein Antrieb sein. Religion hilft mir, mich loszulösen von den Reaktionen anderer.

Ich beobachte, dass das menschliche Miteinander oft dadurch reguliert wird, ob etwas justiziabel oder legal ist. Es gibt ein Streben danach, das legal Machbare maximal auszukosten und so viel zu tun, wie innerhalb dieser Grenzen möglich ist. So drehen sich viele Diskussionen um Fragen wie: Darf man das jetzt noch sagen? Oder: Soll das jetzt verboten werden? Es wird von Sprachpolizei und Sprachverboten geredet. Für mich als religiösen Menschen – und das kann sicherlich auch für nichtreligiöse Menschen gelten – lautet die Frage aber vielmehr: Wer möchte ich sein? Wie kann ich respektvoll mit und über Mitmenschen sprechen? Was ist mein Ideal, und wonach möchte ich streben? Auch wenn es legal ist, einen Menschen auf der Strasse anzurempeln, herablassend und arrogant zu sein, ich würde das nicht tun wollen. Denn im Islam gilt beispielsweise selbst ein Lächeln als eine gute Tat. Natürlich kann Religion auch zu etwas werden, wo es nur um Verbote und strikte Reglementierungen geht. Aber Religion kann auch Motivation sein, sich für eine bessere Welt einzusetzen. Mehr Gutes zu tun als «notwendig».

Wie erlernen wir diese Demut?

Ich wünsche mir, dass wir eine Kultur entwickeln, in der nicht diejenigen Menschen mit Aufmerksamkeit und Anerkennung belohnt werden, die durch die Welt gehen, als sei alles schon fertig erklärt und absolut klar. Menschen, die vorgeben, sich durch nichts mehr beeindrucken zu lassen. Sie haben schon alles gesehen und durchdrungen. Stattdessen sollten wir jene mit Aufmerksamkeit belohnen, die mit einem Bewusstsein für ihre Begrenztheit durch die Welt gehen. Menschen, die zweifeln, zögern und auch mal sagen: Ich weiss es nicht. Doch lass uns gemeinsam ergründen, was die Antwort sein könnte.


Kübra Gümüşay, *1988, studierte Politikwissen­schaften in Hamburg und an der School of Oriental and African Studies in London. Sie war Kolumnistin der tageszeitung und beim Magazin bref. Mit diversen Onlinekampagnen und ihrem Buch Sprache und Sein (Berlin 2020) engagiert sie sich gegen Rassismus und Sexismus und untersucht die Zusammenhänge von Sprache und Herrschaft.


 

  • Geneva Moser,

    *1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.