Eine verantwortliche Position?

Antje Schrupp, 30. Mai 2022
Neue Wege 6.22

Der russische Angriff auf die Ukraine stellt Linke und pazifistisch Denkende vor grosse Herausforderungen. Eine Spurensuche.

Als ich vom Angriff Russlands auf die Ukraine hörte, war meine spontane Reaktion, wie vermutlich bei vielen: Die Ukraine kann nicht gewinnen! Russland ist auf jeden Fall stärker! Putin hat Atomwaffen! Das darf nicht eskalieren! Im schlimmsten Fall, so dachte ich, muss sich die Ukraine halt ergeben. Alles ist besser als Krieg.

Und das waren nicht nur meine Gedanken. Auch die US-amerikanischen Militärs dachten offenbar so, denn sie boten dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi an, ihn ins Ausland zu bringen, in Sicherheit. Seine Reaktion ist inzwischen zum geflügelten Wort geworden: «Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit.» Inzwischen braucht – und bekommt – Selenskyi nicht nur Munition, sondern auch Panzer und andere schwere Waffen. Und ich, ich finde das gut.

Was ist passiert? Viele werfen mir vor, ich wäre zur «säbelrasselnden Bellizistin» geworden, wie ein Kommentator auf Facebook es ausdrückte. Tatsächlich habe ich meine Meinung geändert. Aber nicht, weil mir der Frieden nicht mehr am Herzen läge oder ich plötzlich zur Agentin der Waffenlobby oder des amerikanischen Imperialismus geworden wäre. Sondern es geht mir wie dem Soziologen Armin ­Nassehi: «Ich würde gerne gute Gründe gegen die Notwendigkeit von Waffenlieferungen an die Ukraine hören.» Aber genau wie ihn überzeugen auch mich die derzeitigen Appelle gegen militärischen Widerstand nicht. Im Gegenteil, sie bestärken mich in der Ansicht, dass der Verzicht auf militärische Verteidigung gegen Putin und Russland mehr Todesopfer, mehr Leid, grössere Gefahr bedeuten. In diesem Text möchte ich meinen Nachdenkprozess in den Wochen nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine nachzeichnen.

Aber eins noch vorweg: Ich verstehe das nicht als Absage an den Pazifismus. Pazifismus bedeutet nicht, einfach keine Waffen zu benutzen, sondern ist eine aktive, komplexe politische Praxis. Selbstverständlich ist der Pazifismus nicht gescheitert, denn er wurde ja überhaupt nie ausprobiert. Was aus meiner Sicht allerdings sehr wohl gescheitert ist, das sind bestimmte einfache, pseudopazifistische Wahrheiten und Slogans wie «Mehr Waffen führen immer zu mehr Toten» oder «Alles ist besser als Krieg».

Ignoranz und Irrtümer …

Richtig ist, dass in der Vergangenheit viele ­Fehler gemacht wurden und auch westliche Versäumnisse zur aktuellen Situation beigetragen haben. Dazu gehört, dass die NATO und die USA durch fragwürdige kriegerische Aktionen, vor allem im Irak und in Afghanistan, ihre eigene Glaubwürdigkeit mit untergraben haben. Nicht nur aus Gerechtigkeitsgründen, sondern auch im Sinne von nachhaltigen internationalen Beziehungen wäre wichtig gewesen, die russische Bevölkerung nicht schutzlos den Verwerfungen eines neoliberalen Kapitalismus zu überlassen. Stattdessen pflegte man die überhebliche Vorstellung, kapitalistische Handelsbeziehungen würden quasi automatisch zu Demokratisierung und Entmilitarisierung anderer Länder und Regime führen. Das ist aber schlicht und ergreifend falsch und war oft sowieso nur ein Vorwand dafür, bei inter­nationalen Beziehungen den eigenen Profit und den eigenen Wohlstand über moralische und ethische Kriterien zu stellen.

Ich nehme mich von dieser Kritik nicht aus. Wie für viele andere war auch für mich der Bau der Gaspipeline «Nord Stream 2» nicht der Skandal, der er hätte sein müssen. Womöglich kam ich auch aus ideologischen Gründen zu meiner Position: Wenn Donald Trump etwas vehement bekämpft, kann es dann wirklich so schlecht sein? Aber auch die russische Annexion der Krim 2014 und die kriegerische Besetzung der östlichen Gebiete der Ukraine spielten sich bei mir – aus heutiger Sicht merkwürdigerweise – irgendwie unter dem Radar ab. Ich interessierte mich nicht genug für die Entwicklungen in Osteuropa, um zu verstehen, dass es sich hier um eine gezielte Strategie Russlands im Umgang mit ehemaligen Sowjetrepubliken handelte: Von Georgien über Moldau, von Kasachstan eben zur Ukraine wurde der tatsächliche oder vermeintliche Schutz eines sich als russisch verstehenden Bevölkerungsanteils zum Hebel genommen, um diese Staaten innenpolitisch zu destabilisieren.

… Fehlschlüsse und Nebenwidersprüche

Der zweite Punkt ist: Mein Pazifismus war nicht wirklich ein durchgearbeitetes Konzept. In gewisser Weise war ich «Kulturpazifistin». Ich teilte einfach das, was in meiner Umgebung die meisten Menschen dachten. Das hat natürlich auch etwas mit der Zeit zu tun, in der ich aufwuchs. Als im Oktober 1981 Hundertausende in Bonn gegen den NATO-Doppelbeschluss demonstrierten, war ich gerade 17 Jahre alt geworden und stinksauer, dass meine Eltern mich nicht hinfahren liessen. Ich war quasi von Natur aus gegen Waffen, gegen die NATO, gegen das Wettrüsten. Das war einfach so, es war nicht das Ergebnis persönlichen Nachdenkens. Ich hatte auch als Jugendliche nie den Eindruck, dass ich nachdenken müsste, denn die Lager waren einfach völlig klar aufgeteilt: Kriege, so war ich damals felsenfest überzeugt, existierten überhaupt nur, weil es Waffenindustrie, Kapitalismus und Imperialismus gab. Es kam mir überhaupt nicht in den Sinn, dass man sich auch wegen unterschiedlicher Ideologien, Werte, Überzeugungen bekriegen könnte. Hier war ich, ohne es zu wissen, marxistisch geprägte Materialistin: Krieg als Nebenwiderspruch.

Als Feministin habe ich diesen materialistischen Fehlschluss schon lange kritisiert. Mir ist längst klar geworden, dass es bei Herrschaftsverhältnissen auch um symbolische und kulturelle Macht geht. Patriarchat gibt es auch unabhängig vom Kapitalismus. Auf internationale Beziehungen, Konflikte und Widersprüche habe ich das bisher nicht übertragen. Da geht es doch nun wirklich allein um wirtschaftliche Interessen und militärische Stärke. Oder?

Kristina Lunz, die Gründerin des Center for Feminist Foreign Policy in Berlin, sieht das anders. Sie ist der Ansicht, dass moralische Überzeugungen und ethische Werte auch bei internationalen Beziehungen eine grös­sere Rolle spielen sollten. Exakt am 24. Februar 2022, also dem Tag des Überfalls auf die Ukraine, erschien ihr Buch Die Zukunft der Aussenpolitik ist feministisch. Da ich die Autorin aus feministischen Netzwerken kenne, hatte ich mir ihr Buch schon vorab bestellt und also sofort zur Hand. Es begleitete mich in den ersten Kriegstagen. Lunz kritisiert vor allem das Paradigma des aussenpolitischen «Realismus» in der traditionellen politischen Theorie. Danach begegnen sich Staaten untereinander allein aufgrund von machtpolitischem Kräftemessen, solange es kaum übergeordnete Instanzen gibt, die etwaige Verstösse gegen die Standards wirksam ahnden können. Was in den beteiligten Ländern innenpolitisch geschieht, ist nach dieser Logik ihre eigene Angelegenheit.

Feministische Aussenpolitik

Das erinnert nicht zufällig stark an die Kon­struktion der bürgerlichen Familie, wo der Vater in der Öffentlichkeit und auf dem Markt mit seinesgleichen verhandelt, während es niemanden etwas angeht, was er im Privaten, mit Frau und Kindern tut. Feministische Aussen­politik, schreibt Lunz, hat nicht nur die Machthaber im Blick. Sie sieht Gesellschaften als ganze. Neben diplomatischen Beziehungen zu den Regimen sucht sie auch Kontakt mit der Zivilbevölkerung, vor allem den Frauen. Die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock hat sich ausdrücklich zu einer solchen Form von feministischer Aussenpolitik bekannt. Sie steht derzeit besonders im Kreuzfeuer pazifistischer Anschuldigungen. In meiner Facebook-Timeline kommen quasi minütlich Postings, die Baerbock zum Beispiel als «moralisch verkommene Kriegstreiberin» beschimpfen.

Tatsächlich hatten die Grünen in ihrem Wahlprogramm versprochen, keinen Waffenlieferungen in Krisengebiete zuzustimmen. Begehen sie nun Verrat an ihren eigenen Werten? Oder kann es vielleicht Umstände geben, die es erforderlich machen, die eigene Haltung in Sachen Kriegsmaterialexporten zu ändern? Immerhin hat Annalena Baerbock viel früher als die meisten klar gesehen und kritisiert, was das Problem an Putins Regime ist. Im Wahlkampf im Sommer 2021 erläuterte sie unermüdlich, anders als die Kanzlerkandidaten von CDU und SPD, warum Putins Russland gefährlich und «Nord Stream 2» ein Fehler ist. Die meisten von uns haben ihr damals nicht zugehört. Jetzt frage ich mich: Sollten wir nicht auf die hören, die schon früh die Lage richtig eingeschätzt haben?

Blinde Flecken und Missverständnisse …

Dasselbe gilt auch für politische Analysen aus Polen oder dem Baltikum. Regierungen und Akteur*innen in den Zivilgesellschaften in den östlichen Ländern der Europäischen Union haben ebenfalls früh vor Putins imperialistischen Ambitionen gewarnt. Aber für mich wie für viele war «der Osten» bisher ein blinder Fleck. Während ich über die Innenpolitik Frankreichs, Spaniens, Italiens oder Grossbritanniens ganz gut Bescheid weiss, kriege ich kaum die Namen der Regierungschefs von Polen, Litauen, Estland oder der Slowakei zusammen. Der Krieg in der Ukraine führt mir diese Unwissenheit schmählich vor Augen. Deshalb war ich froh, als mir jemand den Essay Der Osten. Eine politische Himmelsrichtung des Journalisten Johann Michael Möller empfahl. Das Buch ist schon 2019 erschienen und hat genau dies zum Thema: warum es so fatal ist, dass sich in Westeuropa so wenige Leute für das interessieren, was östlich des ehemaligen «Eisernen Vorhangs» vor sich geht.

Müller kritisiert im Wesentlichen zwei Fehlschlüsse im westeuropäischen Blick auf den Osten: Erstens, dass diese Länder nicht mit dem Kapitalismus zurechtkämen und ihre gesellschaftlichen Probleme vom Neoliberalismus verursacht wären. Und zweitens, dass diese Gesellschaften durch eine lange autokratische Geschichte irgendwie noch nicht zu wahrer Demokratie fähig wären. Diesen westlichen Narrativen steht, wie Möller zeigt, ein völlig anderes Selbstbild gegenüber. Zum Beispiel versteht sich «der Osten» gar nicht als Osten, sondern als Mitte, nicht als Rand, sondern als Zentrum Europas. Tatsächlich war das erste europäische Grossreich, in dem auch demokratische Ideen formuliert wurden, das der Jagiellonen. Vom 14. bis zum 16. Jahrhundert umfasste sein Gebiet das heutige Polen, Tschechien, Ungarn und den Westen der Ukraine. Die Bevölkerungen dieser Regionen glauben jedenfalls nicht, dass der Anschluss an «den Westen» ihnen Demokratie und Freiheit gebracht hätte. Sondern sie verstehen die Geschichte nach 1989 als erneuten Beweis ihrer demokratischen Traditionen und Werte: Sie wurden schliesslich nicht von der Sowjetherrschaft befreit, sie haben sich selbst befreit!

Ein weiteres Missverständnis: Hier im Westen halten viele von uns den Bezug auf die Nation für höchst suspekt. Unser Traum ist es, Nationen in übergeordnete Strukturen aufzulösen. In den ehemals der Sowjetunion angegliederten Regionen ist aber der Bezug auf die eigene Nation gerade der Hebel, mit dem sie sich aus den imperialistischen Strukturen der Sowjetunion befreit haben. Entsprechend alarmiert, weisen sie seit Jahren darauf hin, wie offen in Russland darüber diskutiert wird, dass diese Länder eigentlich gar keine Legitimation für eine eigenständige Nationenbildung ­hätten. Putin hat seinen Angriff auf die nationale Souveränität ehemaliger Sowjet­republiken gezielt mit einer solchen Propaganda vorbereitet. Doch wegen der starken antinationalistischen Reflexe in westeuropäischen linken Diskursen haben wir dieses strategische Narrativ nicht gesehen und verstanden. Im Gegenteil: Viele Linken sympathisieren auch jetzt noch mit Bekundungen, wonach eine eigene ukrainische Nation reine Fiktion sei – Nationalismus ist eben schlecht, so haben wir es verinnerlicht.

… und eingefahrene Glaubenssätze

Aber im Ukraine-Krieg wird deutlich, was die an Russland angrenzenden Länder schon lange wissen: dass nicht nur Nationalismus, sondern auch Antinationalismus als Legitimation für imperialistische Kriege dienen kann. Es ist deshalb auch grundfalsch, die NATO-­Osterweiterung als Ursache der jetzigen Krise zu verstehen: Länder wie Polen, Tschechien oder das Baltikum hatten durchaus gute Gründe, sich einem militärischen Verteidigungsbündnis anzuschliessen, spätestens seit dem Bosnien-Krieg. Zu keinem Zeitpunkt stellte die Existenz der NATO eine Gefahr für die territoriale Integrität Russlands dar. Aus heutiger Sicht ist es erschreckend, wie hier ein von Russland schon in den 1990er Jahren in die Welt gesetztes falsches Narrativ linke Diskurse bis heute prägt.

Eingefahrene Glaubenssätze müssen geprüft werden, bevor sie auf eine neue Situation angewendet werden: «Die Waffen nieder», «Nichts ist schlimmer als Krieg», «Wer Waffen liefert, hat Tote zu verantworten». Nichts gegen solche Leitsätze, aber sie müssen sich, wie jede andere politische Position auch, an der Realität überprüfen lassen. Wenn der Ukraine keine Waffen mehr geliefert würden, müsste sie in kurzer Zeit kapitulieren. Wollen wir dafür die Verantwortung tragen? Das habe ich in den vergangenen Wochen meine pazifistischen Freund*innen in den sozialen Medien vielfach gefragt. Meist kam als Antwort nur der Hinweis, sie wüssten auch keine Lösung, aber «alles» sei eben «besser als Krieg». Ich finde das, ehrlich gesagt, dem Ernst der Lage unangemessen.

Ein konkreter Vorschlag, den ich inzwischen mehrfach gehört habe, lautet, alle Ukrainer*innen sollten fliehen und der russischen Armee ein leeres Land überlassen. Andere schlagen vor, die Ukraine könne doch anders als militärisch Widerstand leisten, mit Sabotage, Demonstrationen, Verweigerung von Kooperation. Schliesslich steht natürlich die Forderung nach Verhandlungen anstelle von militärischer Verteidigung im Raum. Mich persönlich überzeugt nichts davon. Natürlich ist es richtig, ukrainische Geflüchtete zu unterstützen, sicher soll man Verhandlungen führen, wo immer sich eine Gelegenheit bietet, und jede erdenkliche Form von nicht­militärischem Widerstand ist sowieso zu begrüssen und zu fördern.

Das alles geschieht ja auch. Aber eben zusätzlich zum bewaffneten Kampf, nicht als Alternative. Denn dass mit einer Kapitulation automatisch «Frieden» einkehre und die Zivilbevölkerung geschützt sei, ist ein Irrglaube. Nach Francos Sieg in Spanien fanden über Jahre hinweg Massenerschiessungen und Massaker an vermeintlichen oder echten Franco-­Gegner*innen statt. Die Opferzahlen wurden nie richtig erforscht, aber heute geht man davon aus, dass es hunderttausend waren. Auch die Auslieferung Tschechiens an Hitler und die Kapitulation Polens haben nicht dazu geführt, die Bevölkerungen dort vor Deportationen, Massakern und Zwangsarbeit zu schützen.

Eine Diktatur ist kein «Frieden»

Während die Opfer von Bombardierungen und die Gefallenen in Schlachten skandalisiert werden und uns die entsprechenden Fotos «vor Augen» stehen, sind die Opfer von Gewaltherrschaft und marodierenden «Siegern» bisher weniger im Blick der Forschung gewesen und werden kaum thematisiert. Eine Diktatur ist kein «Frieden», nur weil keine Bomben fallen. Wenn die meisten Ukrainer*innen derzeit nicht kapitulieren wollen, dann nicht aus überschäumender Kriegsbegeisterung und auch nicht aus übersteigertem Heldenmut, sondern aus Verzweiflung: Es geht nicht nur um ihre Freiheit, es geht um ihr Leben!

Um meiner wachsenden Skepsis gegenüber «pazifistischen» Glaubenssätzen auf den Grund zu gehen, las ich schliesslich noch den Klassiker: Bertha von Suttners berühmten Roman Die Waffen nieder aus dem Jahr 1889. Ich vermute, die wenigsten, die den Buch­titel auf ihren Plakaten zur Friedensdemo tragen, haben Suttners Buch tatsächlich gelesen. Sonst wüssten sie nämlich, dass sich ihre Analyse nicht so ohne weiteres auf heutige Kriegs­dynamiken übertragen lässt.

Der Roman erzählt die Geschichte einer österreichischen Adligen namens Martha – das Alter Ego der Autorin. Martha lebt in einem Militärmilieu, bricht aber aufgrund ihrer Erfahrungen und ihres politischen Nachdenkens mit der Weltanschauung ihrer Zeit und wird Pazifistin. Der «Militarismus», den von Suttner kritisiert, ist jedoch etwas völlig anderes als das, womit wir es heute zu tun haben. Marthas männliche Familienmit­glieder sind begeistert vom Krieg, sie sehen darin eine Möglichkeit, die eigene Ehre und Männlichkeit, aber auch ihre berufliche Laufbahn voranzutreiben. Es ist diese Begeisterung, die Leid und Schrecken des Krieges ignoriert, gegen die von Suttner argumentiert. Dass Kriege im Verteidigungsfall notwendig sind, steht für sie gleichwohl ausser Frage. Der positive Held des Romans, ein pazifistisch gesinnter Offizier und Marthas zweiter Ehemann, beschreibt das anzustrebende Selbstbild eines Soldaten und Offiziers so: «Wir sind da, um, wenn der Feind das Land bedroht, dasselbe zu schützen, gerade so wie die Feuerwehr da ist, um, wenn ein Brand ausbricht, denselben zu löschen. Damit ist weder der Soldat berechtigt, einen Krieg, noch der Feuerwehrmann, einen Brand herbeizuwünschen. Beides bedeutet Unglück, schweres Unglück, und als Mensch darf keiner am Unglück seiner Mitmenschen sich erfreuen.»

Von Suttner wendet sich also gegen eine Kultur, in der Krieg als etwas Normales gilt, als «Fortführung der Politik mit anderen Mitteln», wie es der preussische Militärwissenschaftler Carl von Clausewitz am Anfang des 19. Jahrhunderts ausdrückte. Eine Kriegsbegeisterung wie die, gegen die von Suttner protestiert, ist heute schlicht nicht mehr existent. Abgesehen vielleicht von ein paar extremen Rechten gibt es keine politische Gruppierung mehr, die sich ernsthaft einen Krieg herbeiwünscht, damit ihre Männer Gelegenheit zum persönlichen Heldentum haben. Dass Krieg in jedem Fall ein Unglück ist, das aktiv vermieden werden muss, ist heute unumstritten.

Frieden ermöglichen

Die Frage ist eben nur: Wie kann das gelingen? Von Suttner schlägt nicht vor, einfach die Waffen niederzulegen, egal was dann passiert. Sondern sie fordert dazu auf, Wege zu finden, damit durch Krieg verursachtes Elend verhindert wird. Fast 150 Jahre später ist schmerzhaft klargeworden, dass eine blosse Entmilitarisierung der Kultur und des politischen Diskurses nicht automatisch dazu führt, die Gefahr von Kriegen zu bannen. Es braucht komplexe Massnahmen und kulturelle Veränderungsprozesse auf vielen Ebenen, um Frieden zu ermöglichen.

Welche das sein könnten, hat 1915 ein internationaler Frauenfriedenskongress in Den Haag ausformuliert. 1200 Aktivistinnen aus vielen Ländern reisten damals an, um dem Ersten Weltkrieg etwas entgegenzusetzen. Ihre Vorschläge sind bis heute aktuell – sie reichen von der Einrichtung internationaler Institutionen über eine Ächtung des internationalen Waffenhandels bis hin zur Einbeziehung von Frauen in Verhandlungen und Friedens­prozesse. Nichts davon ist überholt, das meiste noch immer nicht verwirklicht.

Viele Chancen sind in den vergangenen Jahrzehnten verpasst worden, zum Beispiel beim Versuch, die russische Bevölkerung für die einmal vorgesehene «Partnerschaft für den Frieden» und ein gemeinsames europäisches Zukunftsprojekt zu gewinnen. Pazifismus ist also wichtiger denn je. Aber er kann nicht bedeuten, im Angesicht von Unrecht danebenzustehen und zuzuschauen.

  • Antje Schrupp,

    *1964, ist promovierte Politikwissenschafterin, Theologin und Journalistin.

    antjeschrupp.com