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Eines fremden Tages

Iren Meier, 20. Februar 2019
Neue Wege 1/2.19

In den 1980er Jahren gab es diesen Film: Eine Saison in Hakkari. Ein junger Lehrer aus Istanbul wird für ein Schuljahr in die unzugängliche Bergprovinz im Nord­osten Anatoliens versetzt. Er erlebt eine ihm bisher völlig fremde Welt. Eine archaische Natur und Menschen, die Schicksal, Leben und Tod als unabänderlich hinnehmen. Es ist eine tiefe Fremdheit, die der Lehrer, ein Städter, ein Intellektueller, erfährt. Jenseits dessen, was er unter Zivilisation bisher verstanden hatte. 

Hakkari ist ein kleines Dorf, das an Felshängen mühsam überlebt. Kein fliessendes Wasser, kein Strom. Dafür Analphabetismus und patriarchalische Willkür. Es ist Winter, weiss und eiskalt. Nur ganz langsam lernt der junge Lehrer, sich dieser neuen Gegenwart hinzugeben, sich zu verständigen mit den kurdischen EinwohnerInnen, langsam wächst gegenseitiges Vertrauen. Als der Lehrer wieder gehen soll, möchte er «sein»Dorf nicht mehr verlassen. Er hat sich von Grund auf gewandelt. 

Das türkische Filmschaffen übte damals eine grosse Faszination aus. Nicht nur auf mich. Die ergreifenden Bilder, die langsamen Einstellungen, fast keine Handlung, wenig Worte. Fremdheit, die Sehnsucht auslöste. Eine Saison in Hakkari bekam 1983 den «Silbernen Bären» an der Berlinale. Ein Jahr früher ging die Goldene Palme in Cannes an den Film Yol von Yilmaz Günay. Als ich vor ein paar Jahren meinem türkischen Übersetzer und Kollegen vorschlug, nach Hakkari zu reisen, schaute er erstaunt. Er war noch nie dort. Auf der Fahrt durch die einsame Berglandschaft wurden wir beide ganz still. Eine atemberaubende Weite und Leere trotz hoher Berge und schroffer Abhänge. In der Nacht ein tiefdunkler Himmel voller Sterne.

Der Ort selber, Hakkari, war nichts Besonderes. Wie viele kurdische Städte ist er von Armut, vom harten Leben gezeichnet. Unser Hotel, das beste am Ort, war sehr einfach. Mein Zimmer im fünften Stock. Als ich ein bisschen ausruhen wollte, drang von oben, vom Restaurant, laute Musik zu mir, Bässe wummerten, Gesang, Lachen und immer wieder das Stampfen tanzender Füsse. Eine kurdische Hochzeit. Gute Nacht! Das wars mit Schlafen und Träumen. Also am besten ein bisschen mitfeiern in Gedanken, sich nicht auf den unerwünschten Lärm konzentrieren, sondern das Lachen wahrnehmen, die Freude der Hochzeitsgäste. Die Zeit verging, und die Decke des Zimmers vibrierte. Plötzlich aber wankte das ganze Haus. Wie ein Schiff auf hoher See, hin und her, hin und her. Endlos. Und immer stärker. Die Möbel im Zimmer bewegten sich. Ich sprang aus dem Bett, lief in den Gang. Aber ich war die einzige in Panik. An der Rezeption arbeiteten sie seelenruhig weiter. Auf der Strasse stand niemand still. Und über mir stampften, sangen, klatschten, lachten das Brautpaar und seine Gäste im selben Rhythmus und kein Phon leiser als zuvor. Nicht eine Millisekunde lang wurde das Fest unterbrochen. Warum auch. Wegen eines kleinen Erdstosses? Gehört zum Leben hier in dieser Erdbebenregion. Manchmal kommt die Katastrophe, viel öfter aber sind es nur so kleine Zeichen der Natur. Signale der Erde, eingebettet und inte­griert ins alltägliche Leben.

Ich kam mir so klein vor. So kläglich. So schwach. Es war nicht mehr das Hochzeitsfest, das mich wach hielt, sondern die Angst. Am frühen Morgen sah ich durchs Fenster, wie das Brautpaar eng umschlungen nach Hause ging. Zu Fuss, ganz langsam, versunken in seinem Glück. Durch die Strasse, die ich in Gedanken schon voller Trümmer von eingestürzten Häuser gesehen hatte. Da gingen zwei junge Leute in eine Zukunft ohne Sicherheit. Die Natur kann hier ihr Leben jederzeit begraben. Und der Krieg kann es zerstören. Dieser Krieg ist inzwischen zurückgekommen nach Hakkari.

Ich seh sie noch immer – die beiden. Wie sie gehen, immun gegen die Angst, das Unvorhersehbare. Vertrauen ins Leben – in Hakkari. Mut. Ausgerechnet in Hakkari. 

Rilke sagt, man müsse versuchen, «die Fragen selber lieb zu haben, wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind». Man müsse «alles leben, auch die Fragen. Vielleicht lebt man allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antworten hinein».

Der Abend in Hakkari ist verbunden mit solchen Fragen, die gelebt werden wollen, deren sehr fremde Sprache noch immer nicht entschlüsselt ist.

Warum ist es das kurdische Brautpaar, das mir Mut macht, mir ein Beispiel gibt? Warum sind es immer Menschen, die ein schweres Leben haben, die die Leichtigkeit leben können, von der ich – und wir? –träumen? Müsste es nicht umgekehrt sein: Ich, die ich in Sicherheit und Wohlstand lebe, müsste doch über ein Reservoir voller Vertrauen und Kraft verfügen. Das auch für andere noch reichte? Auch für kurdische Hochzeitsgäste im Erdbeben- und Kriegsgebiet. 

Dieser Tage habe ich das kleine Buch von Ahmet Altan gelesen: Ich werde die Welt nie wiedersehen. Und auf jeder Seite tauchten die Fragen auf. Woher diese Kraft, die aus einer fürchterlichen Gefängniszelle hierher nach Bern fliesst zu einer, die in Ruhe und Sicherheit das Buch liest? Warum ist es nicht umgekehrt? Ahmet Altan ist einer der wichtigsten und mutigsten Schriftsteller und Journalisten der Türkei, der nach dem Putschversuch im Sommer 2016 verhaftet wurde. Weil sein Wort der Freiheit und dem Rechtsstaat verpflichtet ist, wurde er zu lebenslanger Haft unter erschwerten Bedingungen verurteilt. Als «Terrorist». Altan beobachtet und beschreibt seine Verhaftung mitten in der Nacht, seine Zelle, seine Mitgefangenen so genau, dass es schmerzt. Er protokolliert die Demütigungen, die Versuche, ihm seine Würde zu nehmen, als ob er über einen anderen Menschen schriebe, nicht über sich selbst. Sein Geist ist frei, bleibt frei. Mit ihm fliegt er davon, durch ihn lebt er sein Leben ausserhalb der Mauern und Gitterstäbe. Und somit bleibt der Mensch Ahmet Altan frei – trotz der Gefangenschaft. Er schreibt, wie er zu ersticken und verrückt zu werden droht, als er das Gefühl für die Zeit verliert. Keine Uhr, keine Glocke, nur Stille. Und wie er sich daraus befreit: «Ich nahm ein abgerissenes Zeitungsblatt vom Boden auf und zerteilte es in zehn kleine Stücke. Nach je hundertachtzig Schritten in der Zelle, hin und her, legte ich einen Zeitungsschnipsel auf den Tisch. Ich rechnete aus, dass eine halbe Stunde vergangen war, wenn sich dort zehn solcher Schnipsel angesammelt hatten. Ich hatte eine aus Zeitungspapier bestehende Uhr erfunden.»

Ich lege das Buch weg. Die Fragen bleiben. Werde ich «eines fremden Tages in die Antworten hineinleben»?●

  • Iren Meier,

    *1955, lebt in Bern und berichtet hauptsächlich über die Türkei und den Iran. Seit 1981 arbeitete sie als Journalistin bei Radio SRF. 1992 bis 2001 war sie Korrespondentin für Osteuropa und den Balkan mit Sitz in Prag und Belgrad. 2004 bis 2012 arbeitete sie als Nahostkorrespondentin in Beirut.