Es geht ums Ganze: Wirtschaft ist Care ist Politik

Feline Tecklenburg, 4. September 2020
Neue Wege 9.20

Die Aufgabe einer gerechten Verteilung von Ressourcen betrifft Politik und Ökonomie. Wirtschaft ist Care ist ein umfassendes Demokratisierungsprojekt mit dem Ziel des guten Lebens für alle.

Der Mensch ist ein bedürftiges und von anderen abhängiges Wesen. Das ist der ethische Ausgangspunkt von Wirtschaft ist Care. Die Forderung, die Sorge füreinander, Care, ins Zentrum der Wirtschaft zu stellen, bedeutet einen ökonomischen Paradigmenwechsel. Dabei bleibt die Verteilungsfrage als zentrale ökonomische Frage bestehen: Wer braucht was, wann, wo und wie viel davon? Dies gerecht zu organisieren, ist eine politische Aufgabe. Dafür ist es weder sinnvoll, Wirtschaft und Politik als getrennte Einheiten zu betrachten, noch, Politik als rein parlamentarische Angelegenheit zu verstehen. Wirtschaft ist Care kann kein reines Wirtschaftskonzept sein, die Vision geht darüber hinaus und fragt nach dem zukünftigen Verhältnis von Politik und Ökonomie.

Was ist Politik?

Politik, das sind zunächst einmal Menschen, die Entscheidungen treffen. Manchmal tun sie dies miteinander im kleinen Rahmen, als Kollektiv eines Hausprojektes beispielsweise. Manche sind gewählte Repräsentant*innen, andere agieren als Vertreter*innen von Unternehmens­interessen. Wieder andere verleihen demons­trierend ihrer Meinung Ausdruck oder initiieren ein Referendum. Wo auch immer Entscheidungen mit gesellschaftlicher Tragweite angedacht, gestaltet, beeinflusst und am Ende auch gefällt werden, stehen Menschen dahinter. In den heutigen Demokratien geschieht dies in mehr oder weniger einflussreichen Parlamenten. Oft wird dabei der Eindruck erweckt, die politischen Entscheidungen seien aus Sachzwängen heraus entstanden, die den parlamentarischen Entscheidungsträger*innen keine Wahl liessen. Das ist in der vielgestaltigen und vernetzten Welt, in die jeder politische Akt eingebettet ist, manchmal auch der Fall. Dennoch ist es sinnvoll, sich zu vergegenwärtigen, dass diese Entscheidungen nicht ausschliesslich in Bundesversammlungen und Abgeordnetenhäusern sowie unter dem Einfluss von zivilgesellschaftlichem Engagement gefällt werden, sondern die angeführten Sachzwänge sehr oft von mächtigen Industrien und Interessenvertreter*innen artikuliert und beeinflusst werden. Im Bereich der klassischen Wirtschaftspolitik ist dies besonders stark zu beobachten, prägt dieser Sektor die Gesellschaft doch wie kaum ein anderer. Jedem Wandel, den die Wirtschaftspolitiken in Europa wie auch in anderen Teilen der Welt in den letzten Jahrzehnten durchgemacht haben, liegen politische Interessen zugrunde. Und die sind nicht zufällig entstanden. So ist auch das derzeitige Wirtschaftsparadigma, der Neoliberalismus, ein politisches und explizit antisozia­listisches Projekt (manche würden sagen: eine Ideologie), das von Wirtschaftswissenschaftlern wie Milton Friedman und Friedrich von Hayek mithilfe des einflussreichen Thinktanks Mont Pèlerin Society seit 1947 lanciert und ab der Mitte der 1970er Jahre vom chilenischen Diktator Augusto Pinochet sowie der britischen Premierministerin Margaret Thatcher und dem US-Präsidenten Ronald Reagan politisch umgesetzt wurde.1

Ein aktuelles Beispiel für die Konsequenzen dieser neoliberalen Wirtschaftspolitik ist schnell gefunden. Es waren politische Entscheidungen auf europäischer Ebene, die in Folge der Finanzkrise von 2008/2009 viele Länder in Europa zu einer zynischen Sparpolitik zwangen, die der Beruhigung der Finanzmärkte zugute kam und nicht den Bewohner*innen der betroffenen Gebiete. Italien und Spanien bekamen von den EU-Institutionen harte Sparmassnahmen diktiert, als Folge davon kollabierten die Gesundheitssysteme dieser Länder während der Coronapandemie im Frühjahr 2020. Dies zeigt deutlich, dass es die Wechselwirkungen einer profitorientierten Wirtschaftsweise und eines defizitären demokratischen Systems sind, die zu den heutigen ökologischen, humanitären und ökonomischen Krisen führen. Wir müssen also den dringend notwendigen Paradigmenwechsel nicht nur in der Wirtschaft einleiten, sondern auch nach neuen Formen des Politischen suchen – und zwar im grossen Raum zwischen Kapitalismus und Staatswirtschaft.

Welche (neuen) Formen des Politischen brauchen wir?

Es kann nicht darum gehen, das heutige Wirtschaftssystem lediglich sozial erträglicher zu gestalten – mit minimalen Lohnzugeständnissen an Krankenpfleger*innen, durch ein paar Väter mehr, die in Elternzeit gehen können, oder mithilfe von etwas nachhaltiger gestalteten Unternehmen als Massnahmen gegen den drohenden Klimakollaps. Es darf nicht dabei bleiben, dass Wirtschaft als ein wesentlicher gesellschaftlicher Gestaltungsbereich der kollektiven Entscheidungsfindung entzogen ist. Denn derzeit hat die Zivilgesellschaft keinen Zugriff auf Entscheidungen privater Wirtschaftsakteure, deren Auswirkungen jedoch alle betreffen – so wie im Fall der abgeholzten Regenwälder, die den Klimawandel beschleunigen, um nur ein Beispiel zu nennen.

In heutigen Demokratien wird anhand der Eigentumsfrage geklärt, was privat und was öffentlich ist – und, davon abhängig, was demokratisch gestaltet werden kann und was nicht. Diesen Zustand gilt es, mit einer Care-­zentrierten Politik aufzubrechen. Wie mit unseren gemeinsamen Gütern umgegangen wird, ist eine Frage, die auf politischer Ebene mit möglichst allen Betroffenen ausgehandelt werden muss. Welches politische System unterstützt dabei welches Wirtschaftssystem? Sind repräsentative Demokratien Teil des Übels, weil sie anfälliger für die Lobby kapitalistischer Interessen sind? Es gibt den Vorschlag der Wellbeing Economy Alliance, den Erfolg von Wirtschaftspolitik nicht mehr anhand des BIPs zu messen, sondern Faktoren wie die psychische Gesundheit der Bevölkerung, bezahlbaren Wohnraum, eine intakte Umwelt und die Gleich­berechtigung zwischen Männern und Frauen mit einzubeziehen. Dieser internationalen Allianz sind bereits Neuseeland, Island und Schottland beigetreten.2 Es werden Ideen einer radikalen Wirtschaftsdemokratie formuliert, bei der die demokratischen Rechte von Belegschaften kleiner wie grosser Unternehmen nicht nur gegen neoliberale Übergriffe verteidigt, sondern durch explizite Gestaltungs-, Organisations- und Mitspracherechte gestärkt werden.3 Projekte der Solidarischen Ökonomie erproben eine Form der Güterproduktion, die auf solidarische Finanzierung, hierarchiefreie Selbstverwaltung und Kooperation zwischen den verschiedenen Initiativen baut, wie beispielsweise bei der gemeinschaftlichen Nutzung von Geräten.4 Das europäische «Foundational Economy Collective» schlägt eine gesetzlich verankerte Wirtschaftsverfassung vor, die private Unternehmen als öffentliche Akteure einbindet und allen die gleichen gemeinwohlorientierten Verpflichtungen auferlegt.5 Ähnliches strebt zurzeit die Schweizer Konzernverantwortungsinitiative an. Und auch auf supranationaler Ebene wird an einem Paradigmenwechsel gearbeitet: Die Bewegung der Gemeinwohl-Ökonomie erreichte 2015, dass das Gemeinwohl-Modell vom Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss als geeignet dafür erachtet wurde, in den Rechtsrahmen der EU integriert zu werden.6 All diese Konzepte liefern dringend nötige Reformvorschläge dazu, wie Marktprozesse demokratisiert werden können. Dafür braucht es auch eine weitreichende Einbeziehung von Regional- und Kommunalpolitik. Wie können Kantone und Gemeinden vor Ort an der gesellschaftlichen Transformation mitarbeiten?

Eine Stärke des geforderten Paradigmenwechsels ist es, dass wir damit an Formen der wirtschaftlichen Kollektivierung anknüpfen, von denen wir uns im Grunde nie verabschiedet haben. Es ist die Rede von jenem «alltäglichen Kommunismus, der unserem alltäglichen Kapitalismus unterliegt und ihn überhaupt erst ermöglicht»7: den verschiedenen Infrastruktursystemen. Wasserversorgung, Stromnetze, Strassen, Krankenhäuser und öffentlicher Nahverkehr sind wirtschaftliche Leistungen, die vor über hundert Jahren zu einem enormen Anstieg der Lebensqualität führten. Jedoch werden auch diese Bereiche seit der neoliberalen Wende vor dreissig Jahren in zunehmendem Masse für den profitorientierten Markt geöffnet und der Wettbewerbslogik unterstellt. Die Privatisierung und die damit oft einhergehende Zerstörung dieser Gemeingüter ist in erster Linie eine politische Entscheidung, die in kantonaler oder kommunaler Hand liegt und dort auch wieder rückgängig gemacht werden kann, was bereits in vielen Gemeinden geschieht. Dies ist ein erster und wichtiger Schritt für die Umsetzung einer Wirtschaftsweise, die sich der basalen wie nachhaltigen Bedürfnisbefriedigung aller verpflichtet sieht.

Ein wichtiger Punkt ist, gemeinsam zu überlegen, wie Arbeit gesellschaftlich so organisiert werden kann, dass die Sorge füreinander wirklich im Zentrum steht. Hierzu gibt es die zunehmend lauter werdende Forderung eines Vier-Stunden-Lohnarbeitstages bei gleichbleibendem Lohn, der genügend Zeit für die fundamentalen sozialen und reproduktiven Tätigkeiten wie Kochen, Putzen, Kinderbetreuung oder Alten- und Krankenpflege sowie für politische und kulturelle Arbeit oder Freizeitaktivitäten ermöglicht.8

Wirtschaft ist Care ist nur mit einer gleichzeitigen Demokratisierung der Produktions- und Lebensumstände zu haben. Die Transformation der Ökonomie als ganzheitliches politisches Projekt zu denken, bedeutet, dass wir in und mit all den unterschiedlichen, vielseitigen und über den Planeten verteilten Gesellschaften gemeinsam darüber verhandeln werden, wie wir arbeiten, besitzen, lernen, wohnen, essen, gebären, sterben, feiern, lieben, uns fortbewegen und versammeln wollen. Und wir müssen uns sowohl gemeinsam als auch jede*r für sich fragen, woran wir all das messen wollen: am Gewinnzweck, der einige wenige wohlhabend macht, oder an einem Leben, in dessen Mittelpunkt die Sorge füreinander und für die Umwelt steht. Ein gutes Leben für alle kann nur geschaffen werden, wenn Wirtschaft und Politik im Dienst der Gesellschaft stehen.

  1. Vgl. Walter Otto Ötsch et al.: Netzwerke des Marktes. Ordoliberalismus als Politische Ökonomie. Wiesbaden 2018.

  2. wellbeingeconomy.org/wego.

  3. Vgl. Alex Demirovic: Wirtschaftsdemokratie neu denken. Münster 2018.

  4. degrowth.info/de/dib/degrowth-in-­bewegungen/solidarische-oekonomie.

  5. Vgl. Foundational Economy Collective: Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik. Berlin 2019.

  6. web.ecogood.org/media/filer_public/­13/30/1330a866-2d0a-42c5-81a6-73df8bf27521/stellungnahme_gemeinwohl_oekonomie-ewsa_deutsch.pdf.

  7. Wolfgang Streeck: Vorwort zur deutschen Ausgabe. In: Foundational Economy Collective: Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik. Berlin 2019.

  8. Vgl. Frigga Haug: Die Vier-in-einem-Perspektive. Politik von Frauen für eine neue Linke. Hamburg 2008.