Susanne Andrea Birke: June Barrett, Sie haben jahrelang im Haushalt von Menschen mitgelebt, die Sie betreuen. Nun arbeiten Sie für die Rechte von Hausangestellten. Wie kam es dazu?
June Barrett: 2001 kam ich in die USA. Ich habe ein Jahr lang als Kinderbetreuer*in gearbeitet, einige Monate später bekam ich meine erste Stelle in der Betreuung einer betagten Frau. Ich verliebte mich in die Care-Arbeit und wurde zertifizierte Pflegeassistent*in. Während ich als Hausangestellte* arbeitete, erlebte ich viel Diskriminierung: Mein Lohn wurde gestohlen, ich wurde rassistisch beleidigt und physisch angegriffen. So schloss ich mich der Bewegung der Hausangestellten im Miami Workers Center an. Im Februar 2019 erhielt ich das Dorothy-Bolden-Stipendium der National Domestic Workers Alliance. Dorothy Bolden war eine Hausangestellte, die mit dem grossen Martin Luther King zur Bürgerrechtsaktivistin wurde. In dieser Zeit hatte sie die Vision, die Hausangestellten zu organisieren. King sagte ihr: «Du bist stark genug, das allein zu tun.» So initiierte sie die nationale Gewerkschaft der Hausangestellten in den USA und war eine der kraftvollsten und erfolgreichsten Organisator*innen im Süden.
Was tut die National Domestic Workers Alliance mit Blick auf die rechtliche Situation von Hausangestellten?
Die NDWA wurde 2007 am Weltsozialforum in Atlanta, Georgia, gegründet. Wir kämpfen für das Recht der Hausangestellten, in Würde zu arbeiten, und dafür, dass diese Arbeit als echte und professionelle Arbeit anerkannt wird. Bis jetzt haben erst neun von fünfzig Staaten der USA Gesetze, die Hausangestellte schützen. Im Juli 2019 brachten wir eine Bill of Rights, eine Erklärung der Rechte von Hausangestellten, ins Repräsentantenhaus. Diese Erklärung enthält Gesetze zum Arbeitsschutz, wie Kündigungsschutz oder Gesetze gegen Lohndiebstahl und sexuelle Belästigung. Im Moment machen wir Lobbyarbeit im Abgeordnetenhaus. Bisher wird die Erklärung von elf Abgeordneten unterstützt. Wegen Covid-19 mussten wir die Arbeit unterbrechen, aber wir werden sie wieder aufnehmen. Wenn wir genug Unterstützer*innen haben, dann hoffen wir, dass die Erklärung vom Senat verabschiedet werden wird. Das würde die Situation von Hausangestellten völlig verändern. Die strengen Gesetze würden auch die Verletzlichsten unter uns schützen.
Hausangestellte arbeiten hinter den Kulissen. Welche Rolle spielen sie in der Wirtschaft?
Wir müssen Care-Arbeit in einem weiten Sinn denken. Fürsorge ist eine sehr wesentliche Arbeit und entspringt dem Mitgefühl. Gerade die Arbeit von Hausangestellten macht alle andere Arbeit möglich: Wir haben zwei Millionen Hausangestellte im ganzen Land. Wenn ich zurückschaue, habe ich Care-Arbeit geleistet, seit ich ein Kind war: Babysitting für jüngere Geschwister, für meine Community. Und ich arbeitete in der Industrie der häuslichen Pflege, die als Domestic Work klassifiziert wird. Diese Arbeit ist anspruchsvoll, und wir erleben viel Ausbeutung: Du pflegst und erwartest, respektiert zu werden, erwartest, angemessen bezahlt zu werden, erwartest, deinen Lohn rechtzeitig zu erhalten – und dann wird dir geraubt, was dir zusteht.
Sie haben Ihre persönlichen Erfahrungen angesprochen. Wie sieht es für Hausangestellte allgemein aus?
Eine der am schnellsten wachsenden Industrien in den USA, aber auch weltweit, ist Care-Arbeit von Hausangestellten. Schwarze Frauen und Women of Color leisten den Löwenanteil der bezahlten Care-Arbeit im Haus. Domestic Work, die Arbeit von Hausangestellten, wird entwertet, wird nicht als richtige Arbeit anerkannt. Hier kommt der Missbrauch ins Spiel. Er geht auf den systemischen Rassismus zurück, der auf der Entwertung Schwarzer Menschen und auf der Sklaverei aufbaut. Es ist kein Zufall, dass die Mehrheit der Frauen, die bezahlte Care-Arbeit leisten, Immigrant*innen, Schwarze Frauen und/oder Women of Color sind. Viele erleben schreckliche Missbräuche – Lohndiebstahl, rassistische Beleidigungen, physische Angriffe, sexuelle Übergriffe, pausenlose Arbeit, auch nachts, ohne jeden Arbeitsschutz. Diese Traumata tragen sie für den Rest ihres Lebens mit sich.
Viele von uns Hausangestellten können sich Pflege selbst nicht leisten: Wenn wir krank werden, werden wir nicht in der Lage sein, Pflege für uns selbst zu finanzieren. Nicht einmal auf professionellem Niveau gibt es für diese Arbeit einen Lohn, von dem sich leben lässt. Wir verdienen nicht genug, um eine Pflegeversicherung zu bezahlen. Wir haben kein Sicherheitsnetz, um Vorsorge zu treffen. Pflegekräfte leiden unter einer grossen Anspannung. Manchmal haben sie Angst, ihre Rechte einzufordern. Das ist ein globales Problem.
Wie können wir das Bewusstsein für Care-Arbeit weltweit und für die Situation der Hausangestellten wecken, und wie tun Sie das in Ihrer Arbeit?
Zu diesem Zweck lancierte die NDWA mit verbündeten Organisationen die Kampagne Universal Family Care. Es ist sehr wichtig, für Care-Arbeit eine gesamtgesellschaftliche Lösung zu finden. All diese Arbeit ist gesamtgesellschaftlich nicht anerkannt. Inzwischen ist Care eines der meistbesprochenen Themen hier in den USA. Wir müssen die Hausangestellten mobilisieren und Strategien entwickeln, wie Care nicht nur für Reiche zur Verfügung stehen kann, sondern auch für Menschen wie mich. Wie können wir Care-Arbeit gesamtgesellschaftlich so gestalten, dass sie als grundlegend und als eine für die Gesellschaft wichtige Arbeit behandelt wird?
Könnten Sie etwas über sexuelle Belästigung von Migrant*innen, insbesondere von papierlosen Menschen, sagen?
Die meisten Hausangestellten sind Immigrant*innen, People of Color und papierlos. Das macht es für sie schwieriger, sich zu wehren. Ich erzähle meine Geschichte von sexueller Belästigung bei vielen Anlässen in den USA und global, um die Stimmen derjenigen zu stärken, die noch schweigend im Schatten bleiben. Als #Metoo startete, nutzten wir die Chance, um Aufmerksamkeit auf die Problematik der sexuellen Belästigung und Gewalt gegenüber Hausangestellten zu lenken. Die NDWA wurde eine laute Stimme in der #Metoo-Bewegung. Viele Hausangestellte begannen, ihre Erlebnisse von sexueller Belästigung zu erzählen.
Ich war in Reykjavik zu einer #Metoo-Konferenz als Sprecher*in eingeladen. Nach meiner Rede kam am folgenden Tag eine junge Frau zu mir und gab mir einen Brief, der von ihrer Grossmutter handelte, die viele Jahre als Hausangestellte gearbeitet hatte. Mit Tränen in den Augen bat sie mich, die Geschichte ihrer Grossmutter zu erzählen, und ich versprach, das zu tun.
Sie sind Teil der Initiative We Dream in Black. Worum geht es da?
Meine Rolle bei der NDWA ist es, vor allem Schwarze Hausangestellte zu organisieren. We Dream in Black ist eine Initiative, die seit 2015 die Leben Schwarzer Hausangestellter ins Zentrum stellt. Sie waren bis dahin in der NDWA nicht sehr sichtbar. Wir haben nicht die gleichen Erfahrungen wie andere Hausangestellte, weil unsere Erfahrungen tief im Erbe der Sklaverei verwurzelt sind. Überall in den USA erleiden Schwarze Menschen aufgrund der allgegenwärtigen Militarisierung, der Polizeibrutalität, des Racial Profiling und der ständigen Überwachung ganzer Familien Traumatisierungen. Schwarze Frauen haben kein Vertrauen in die Entscheidungsprozesse in der Gesellschaft und den Organisationen, weil sie selten Frauen wie sie selbst mitreden sehen. Die Probleme, die unsere Gemeinschaften betreffen, und der Rassismus, den wir täglich erfahren, werden wenig diskutiert. Auch innerhalb der Bewegung der Hausangestellten erleben Schwarze Frauen viel antischwarze Diskriminierung. Darum ist es sehr wichtig, Räume zu schaffen, in denen sich Schwarze Hausangestellte willkommen und angenommen fühlen, um aus diesem geschützten Raum heraus für ihre kollektive Befreiung kämpfen zu können. Schwarze Hausangestellte haben sich seit vielen Jahren organisiert. Einer der ersten Streiks von Hausangestellten war 1881, als die Waschfrauen in Atlanta sich entschlossen zu streiken. Zwanzig Frauen begannen den Streik wegen tiefer Löhne und schlechter Behandlung. Sechs von ihnen wurden festgenommen und gebüsst. Daraufhin organisierten sich innerhalb von drei Wochen dreitausend Waschfrauen.
Wie ist die Lage für Schwarze Hausangestellte in den USA aktuell?
Gerade befinden wir uns in einer Zeit grosser Unsicherheit. Wir sind buchstäblich in Angst und inmitten eines Aufstandes. Ich habe gesehen, was Covid-19 der Schwarzen- und Of-Color-Gemeinschaft antut. In meiner Arbeit erlebte ich Fälle von Pflegekräften, die an Covid-19 starben, weil sie sich keine Krankenversicherung leisten konnten. Sie hatten nicht die Ressourcen für ein besseres Leben. Pflegekräfte wurden vor die Wahl gestellt, ganz im Haushalt der Arbeitgeber*innen zu bleiben und keinen physischen Kontakt zu ihren Familien mehr zu haben oder ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Das führt bei vielen Arbeiter*innen zu Nervenzusammenbrüchen. Wir müssen auch mit dem Tod von George Floyd umgehen und damit, dass kürzlich ein Schwarzer Transmann ermordet wurde. Dazu kommen die vielfachen Misshandlungen und Beleidigungen und die Militarisierung. Diese Traumata, die wir in den sozialen Medien ständig wieder sehen, besonders die himmelschreienden Ermordungen Schwarzer Frauen und Männer – all das liess viele von uns zusammenbrechen. Bei der NDWA sind wir in einer privilegierten Position. Wir hatten deswegen gerade einen Black Caucus, eine Zusammenkunft von Schwarzen, und arbeiteten eine Woche lang nicht. Selbstfürsorge ist eine radikale Handlung, wie die afroamerikanische Dichterin und Aktivistin Audre Lorde festhielt. Wir machten eine ganze Woche Blackout. So konnten wir unsere Kräfte bündeln, meditieren, trauern, damit wir gestärkt wieder zurückkommen konnten, sogar inmitten von Gewalt und Pandemie. Meine Community braucht Care. Wir haben Online-Heilkreise mit Schwarzen: Wir teilen Poesie und reden einfach. Das ist, wie wir heilen und Resilienz aufbauen.
June Barrett, *1963, ist ein*e queer*e, jamaikanisch*e Immigrant*in und arbeitet in der häuslichen Pflege. Barrett ist Organisator*in und Leiter*in beim Programm We Dream in Black der National Democratic Workers Alliance NDWA und des Miami Workers Center.
*1968, studierte Theologie und Pädagogik. Birke arbeitet bei der Fachstelle Bildung und Propstei der Römisch-Katholischen Kirche im Aargau für den Schwerpunkt Frauen* und Gender, zu dem auch die Regenbogenpastoral gehört.