Sie habe ein Problem mit dem neuen Buch, erzählte die Lyrikerin Nora Gomringer der Zeit. Als eine, die sich erfrischend unbekümmert zum Christentum bekennt, ohne es naiv abzunicken, enthält ihr neues Buch eben auch Gebete. Und die wollte der Verlag erst nicht. Sie seien ihm zu fromm. Gomringer scheint sich gegenüber dem Verlag durchgesetzt zu haben. Auf jeden Fall ist der Gedichtband Gottesanbieterin (April 2020) Gomringers Antwort auf die Gretchenfrage, die ihr des Öfteren gestellt wird. Ihre Antwort ist konkret, komisch, voller Klang und sehr persönlich. Und eben auch: voller Gebet.
Patin für den Gedichtband Gottesanbieterin steht die Gottesanbeterin, das grosse Insekt mit langen Vorderarmen und ganz eigener Ästhetik. Gomringer sass als Jugendliche im Garten ihrer US-amerikanischen Gastfamilie und beobachtete die Langsamkeit und den Stolz der Gottesanbeterin: ein kontemplatives Erlebnis, wie sie sagt. Beeindruckt von der Gottesanbeterin damals, wollte sie nun einen Gedichtband mit Gebetstexten anlegen. Aus der Gottesanbeterin wurde die Gottesanbieterin, eine 95 Seiten starke Gedichtsammlung, illustriert und fotografisch kommentiert von der Gestalterin Zara Teller.
Als Spoken-Word-Poetin trägt Gomringer ihre Texte an zahlreichen Lesungen vor, und der Gedichtband Gottesanbieterin wird mit Audio-CD geliefert. Sie liest, laut und schnell, markant und mit Hochdruck. Oft hat sie dabei einen provokativen, herausfordernden Unterton, einen, der bisweilen ins Schrille kippt. Manchmal wünscht man sich, Gomringer würde auch sprachlich etwas leisere Töne anschlagen, etwas weniger Posaune und Klamauk in ihre Verse packen. Gleichzeitig passiert genau dort vielleicht das Wesentliche dieser Gedichte: Sie sind mittendrin, in Tempo und Technik des heutigen Alltags und in seinen Sorgen. Sie fragen vehement danach, wie das heute bloss gehen soll mit dem Kommen des Göttlichen: mit «PR-Beratung», «live auf Youtube», schnell und bitte vor Weihnachten? Dass es kommt, das Göttliche, scheint in dieser Zeit so unwahrscheinlich, dass Gomringer es in mehreren Gedichten beschwören muss. Sie sehnt es förmlich herbei. Und im Sehnen sind sie dann auch zu finden, die leisen, sanften und zärtlichen Töne: Da steht das lyrische Ich in Des Architekten Zumthor Bruder Klaus-Kapelle und wächst beim Betrachten des Sakralraumes weit über sich hinaus. Da «teilt sich das Heilige durch dein Betrachten deinen Sinnen mit». Oder das Ich kann in Herr seiner Erschöpfung Ausdruck geben – «Herrje / ich bin müde / ich bin kleiner als meine Kleidergrösse» – und sich einen wünschen, der dafür sorgt, «dass ich noch in der Welt bin» und für eine Weile «aufgehoben in dir».
In diesen leisen Tönen spricht auch die Trauer aus dem lyrischen Ich. Ein Kapitel in Gottesanbieterin ist Tim gewidmet, einem nahen Freund von Nora Gomringer, der kürzlich gestorben ist. Kleine Sätze stehen dort, solche, die von der Unfassbarkeit des Todes im Alltag zeugen: «Ist einer tot, geht er nicht mehr an sein Telefon.
/ Das ist ganz logisch und doch vollkommen übertrieben.» oder «Sie sagen: Das Vergessen hat die Zähne eines Haifischs. / Ich tipp dir leise: das Erinnern auch.»
Ein solches «du» gibt es in vielen von Gomringers Gedichten. Sie sind als Kommunikation angelegt, sprechen unmittelbar an – «Schreibt man das so?», «machst du das heute noch so?» – und treten auch mit anderen Dichter*innen in den Dialog: mit dem Spoken Word-Kollegen Michael Lentz, mit Felicitas Hoppe – auch eine, deren Schreiben von christlicher Tradition und Suche durchdrungen ist.
Kritisch mit dem Christentum ist Gomringer höchstens am Rande, explizit politisch wird sie wenig. Und wer theologisch Gehaltvolles in ihrer Lyrik erwartet, wird vielleicht enttäuscht – Ausnahmen gibt es in Form von messerscharfen Sätzen wie «Jesus hat seit tausend Jahren einen schlimmen Schnitt in der Seite, den niemand verbindet» oder «Das leere Grab war eine Beleidigung und ein Wunder». Alltäglich beten lässt es sich allemal mit der Gottesanbieterin.