Der biblische Lobgesang Marias, das Magnificat (Lukas 1,46–55), begleitet mich schon lange. Als Schülerin im Klosterinternat habe ich das Magnificat in der Vesper der Ordensfrauen zum ersten Mal gehört und zaghaft mitgesungen. Später dann haben wir Schülerinnen für eine CD-Aufnahme unterschiedliche Kompositionen zum Magnificat-Text eingeübt. Eine davon stammte vom Schweizer Komponisten Ernst Pfiffner, der mit der Zisterzienserinnenabtei eng verbunden war und häufig für die Schwestern und Schülerinnen komponierte.
Seine Vertonung des Magnificat wird in der Begleitpublikation beschrieben als «eine Lobpreisung des Schöpfers und eine Botschaft von Menschen, die beseelt sind vom Glauben, dass die Menschen als lebendige Steine am Haus Gottes weiterbauen und mit neuen Herzen und frischen Zungen die frohe Botschaft des Herrn verkünden». Die Schulleiterin Sr. Teresa Grollimund hatte den Text lyrisch umformuliert. Die Vertonung war voller Dringlichkeit, starker Disharmonien und kam mir damals als Teenager in ihrer Emotionalität irgendwie übertrieben, ja peinlich vor. Gleichzeitig hat sie etwas geweckt an Revolution für das Leben. Wenn ich das Magnificat heute singe, klingen darin für mich beispielsweise die Parolen aus Demonstrationen gegen feminizide Gewalt mit: «Ni una menos» (nicht eine weniger), oder #VivasNosQueremos (wir wollen uns lebendig). Das Magnificat ist «eine Klage, gleichzeitig sehr alt und nagelneu, die mit einer bestimmten Art zu atmen zusammenhängt»1.
ein neues lied will ich dir singen
ein lied für die menschheit […]
denn ich weiss:
mit mir tanzen alle frauen der erde
über generationen das lied der freude
und ich weiss:
geknechtete hüpfen gazellenleicht über viertausender
in armut gefesselte
jauchzen
neu geboren2
2013 nehme ich an einer feministisch-theologischen Bildungsreise durch Palästina und Israel teil. Sie führt mich in Gegenden, die aus biblischer Überlieferung bekannt sind, an Orte des palästinensischen Widerstands, zu jüdischen Gedenkstätten. Ich bin von der politischen Situation und der Geschichte überwältigt. In einem Garten gegenüber der Verkündigungsbasilika in Nazareth lesen wir das Magnificat. Ich freue mich, diesen Text gerade in Nazareth und aus der Bibel in gerechter Sprache (BigS) zu lesen. Nur: Dieses Magnificat erkenne ich nicht wieder! Mit «meinem» Magnificat hat diese Übersetzung nichts zu tun. Ich habe Widerstände, bin wütend: Das kann man doch nicht machen! Dieser Text hat Tradition, Geschichte, tägliche religiöse Praxis, die davon lebt, dass derselbe Text so von allen gebetet wird.
Erst nach und nach taste ich mich vor, erschliesse mir den Text mit dem Glossar und den vielfältigen Erläuterungen zur Übersetzung der BigS. Besonders gefällt mir die Übersetzung «Gott hat auf die Erniedrigung seiner Sklavin geschaut». Das ist zwar drastischer, aber sozial gerechter: In der griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel kommt das Wort «tapeinosis», hier wiedergegeben mit «Erniedrigung», an vielen Stellen vor, an denen es um die Zerstörung von Städten und um physische und psychische Gewalt an Menschen geht. Das Lukasevangelium wurde in einer Zeit geschrieben, als genau das geschah: Nach dem jüdischen Krieg wurde den Eroberern die Bevölkerung als «Beute» zugesprochen. Mit der Bezeichnung «Sklavin» wird deutlich, wie Maria erniedrigt wurde und wie Gott ausgerechnet sie mit grossen Dingen beauftragt. Bei «tapeinosis» geht es um soziale Erniedrigung und Unterdrückung. Im wissenschaftlichen Bibellexikon der deutschen Bibelgesellschaft heisst es: «[…] eine Lektüre, die individuelle Demut und Mutterglück ins Zentrum stellt, verkürzt die politische Dimension dieses Textes.
Hol die Mächtigen von ihren hohen Rössern, rette all die Unterdrückten aus ihrem Leid.
Meinem Gott begegne ich schon mal mit solchen Imperativen. Manchmal wütend fordernd, manchmal etwas trotzig anklagend. Gerade beim Blick in die Zeitung, beim physischen Spüren eines Schmerzes um diese Welt wünsche ich sie mir interventionistischer, vielleicht autoritärer, etwas durchsetzungsfähiger, die Ewige. Ich gebe es zu. Da kommt mir der berühmte Satz der Theologin Dorothee Sölle, Gott habe keine anderen Hände als unsere, wie eine widersinnige Überforderung vor. Die Spannung zwischen den Magnificat-Sätzen, die freudig bejubeln und sich an die ersttestamentliche Exoduserfahrung anbinden, und der erschreckenden aktuellen Realität, geprägt von machtversessenen Despoten, Hunger, Klimanotstand und Gewalt, ist zu gross. Wie kann ich da täglich in den Lobgesang von Maria hineinfinden, einstimmen in ihren Glauben an eine veränderte soziale Ordnung, in ihren Jubel über diese unfassbare Rettung? Wie mit Maria die Hoffnung aufrechterhalten?
Die Ewige vollbringt mit ihrem Arm machtvolle Taten:
Sie zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind.
Sie stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen.
Die Hungernden beschenkt sie mit ihren Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.