Gott will die Zerstörung nicht. Reclaim the Apocalypse!

Luzia Sutter Rehmann, 21. November 2018
Neue Wege 12/2018

Die Offenbarung gilt vielen als Buch mit sieben Siegeln. Diese Apokalypse des Johannes ist Aufklärungsliteratur und stellt die Machtfrage. Sie leitet zum genauen Hinsehen an, zu ­Visionen, zum Widerstand.

Das verbreitete Unverständnis gegenüber der Offenbarung, dem letzten Teil der Bibel, ist oft mit einer tiefen Skepsis verbunden. In der Bibelwissenschaft erscheint die Offenbarung aber als spannendes Forschungsfeld, zum Beispiel wenn man sich mit ihren Rache- und Gewaltphantasien auseinandersetzt.1 Es lohnt sich, über die Sprache der Offenbarung nachzudenken und wahrzunehmen, wie oft sie von «wie, als ob» spricht. Damit wagt sie sich an den Rand des Unsagbaren. Elisabeth Schüssler Fiorenza bezeichnet die apokalyptische Sprache als mythologisch-phantastisch.2 Doch damit ist noch nicht gesagt, wie denn die apokalyptische Sprache funktioniert.

Die Offenbarung spricht von dem, was sich abzeichnet, aber noch nicht klar ist. Sie bewegt die Lesenden, schüttelt sie, erschüttert sie, sodass ihnen die Augen aufgehen. «Öffnen» ist ein Leitmotiv der Offenbarung – öffnen hat mit «hoffen» zu tun, es ist das Gegenteil von Abschotten, Mauerbau und Schwarz-Weiss-Polemik.

 

Das griechische Verb apokalyptein bedeutet «enthüllen, entlarven, aufdecken, offenlegen». In diesem Sinn können wir biblische Apokalyptik, neben der Offenbarung gehören etwa das Buch Daniel oder Kapitel 13 des Markus-Evangeliums dazu, als frühe Aufklärungsliteratur verstehen. Sie will zeigen, was geschieht, wenn nichts unternommen wird und alles weitergeht wie bisher.3 Sie deckt auf, wo es zwischen Himmel und Erde Verbündete gibt, die an der Verwandlung der Gewaltverhältnisse mitarbeiten. Die Offenbarung gehört damit in die jüdische Widerstandsliteratur: Sie will Machtverhältnisse aufdecken. Sie sucht Worte für Ohnmachts- und Gewalterfahrungen. Sie schaut hinter die Masken der Macht, die oft nur ein Bemänteln von Unrecht sind. Sie tut dies in einer wilden, farbigen, leidenschaftlichen Sprache, die ihre Bilder von Mythen und Propheten leiht. Gutes Hinhören und Hinschauen ist daher nötig. «Schau hin!» und «sehen» sind leitende Signalwörter.

Die Offenbarung stellt die Macht- und Gerechtigkeitsfrage: Wem gehört die Erde? Wer regiert diese Welt? Die Antwort auf die erste Frage ist klar: Die Erde gehört Gott, der sie geschaffen hat – so wie es beispielsweise die Psalmen unermüdlich singen (Ps 24,1; 50,12; 89,11). Doch regiert Gott denn die Welt? Diese Frage ist auch heute zu stellen. Wir können sie unterschiedlich beantworten: Es regieren die Finanzeliten, die weissen alten Männer, der Norden dominiert den Süden usw. Der biblische Gott, Adonaj, regiert sicher nicht.

Zur Zeit der Entstehung der Offenbarung waren die römischen Eliten die Herren des Weltkreises. Das Imperium Romanum beschaffte sich Güter von überallher – ­Oliven aus Griechenland, Korn aus Ägypten und SklavInnen vom letzten Krieg. Denn damals machte man keine Kriegsgefangenen. Entweder wurde getötet oder verkauft. Rom stieg auf dem Rücken der Sklaven zur Weltmacht auf.4

Johannes schreibt als einer, der den Krieg und seine Verheerungen kennt (Offb 6,8; 9,3; 11,7; 12,7; 13,7; 17,14). Er nimmt Unrecht dort wahr, wo die einen nichts Böses vermuten und die anderen es als «Schicksal» ansehen würden. Damit gelingt es ihm, Unrecht zu benennen und aufzudecken – apokalyptein.

Dass Apokalypse mit Weltuntergang gleichgesetzt wird, ist völlig falsch. Aber es stimmt, dass sich auf Wegsehen hin keine Zukunft bauen lässt. Was die Offenbarung lehren kann, ist Hinsehen, Nachfragen, bis sich ein Zusammenhang eröffnet und die Siegel des Buches brechen. 

So öffnen zum Beispiel die schrillen Klänge der Posaunen (8,7–14) die Sinne für die Gewalt, die bereits geschehen ist oder jetzt geschieht.5 Die Boten posaunen heraus, was der Fall war, nämlich die Zerstörung weiter Teile der Erde, der Provinzen, der Wälder, der Weinberge und Flüsse. Es sind nicht die Engel, die die Zerstörung verursachen, es ist nicht Gott, der diese Zerstörung will; die Zerstörung wird auch nicht vorausgesagt. Längst zeichnet sie sich doch ab. Längst ist die Welt für Hunderttausende untergegangen. Johannes gehen in der Posaunenvision die Augen auf über das Ausmass der Brandrodung, Brandschatzung, der Vernichtung von Lebensgrundlagen. Die Präsenz der Engel gibt ihm die Kraft, diese Gewalt wahrzunehmen und sie aufzuschreiben.

Von der Erfahrung der Zerstörung zur Vision

Die bittere Botschaft ist jedoch kaum in Worten zu fassen. Johannes beschreibt, was er hört, die Vibrationen, Dissonanzen, Unstimmigkeiten, die in der Luft liegen. Sie rütteln ihn auf. Plötzlich ist er in der Lage zu sehen, dass unzählige Bäume und Grasflächen verbrannt sind (8,7). Es gelingt ihm, seine Erinnerungen an das kriegsversehrte Palästina mit seiner Gegenwart zu verbinden. Er schreibt auf der Insel Patmos, sagt er (1,9). Die herrlichen Eichenwälder von Patmos waren zu seiner Zeit abgeholzt und für den Flottenbau verkauft. Die Insel wurde zur Strafkolonie für Gefangene. Im Los der Insel widerspiegelt sich das Schicksal der Entwurzelten. Johannes begann zu realisieren, dass das, was der Erde angetan wird, ein Spiegel dafür ist, was ihren Bewohner­Innen geschieht.

Aus der Erfahrung der Zerstörung, die er sehr genau wahrnimmt, entwickelt Johannes seine Vision für die Zukunft (z.B. 7,13–17). Er streckt sich nach einer Zeit aus, in der die Zerstörung aufhört und gutes Leben möglich ist. Dann wohnt Gott unter den Menschen, und die Welt wird zur sicheren Stadt, mit Bäumen reich bepflanzt, mit Wasserquellen, Schatten und Heilung (22,2). Gott «tut» in der Offenbarung eigentlich sehr wenig. Er/sie ist der tiefere Hintergrund der Heilung, der Verwandlung. Widerstehen, Widerstand leisten müssen schon die Menschen – das nimmt ihnen Gott nicht ab.

  1. Moises Mayordomo: Gewaltphantasien in der Offenbarung des Johannes in: Walter Dietrich u.a (Hg.): Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel. Zürich 2005, S. 174–182

  2. Elisabeth Schüssler Fiorenza: Die Johannesapoka­lypse in kritisch-feministischer Perspektive. Zeitschrift für Neues Testament 22/2008, S. 13–19

  3. Jürgen Ebach: Apokalypse – Vom Ursprung einer Stimmung. In: Einwürfe 2/1985, S. 5–61.

  4. Flavius Josephus, Historiker im 1. Jahrhundert, gibt ein Total von 97 000 versklavten Menschen allein aus dem jüdisch-römischen Krieg (66–73) an. (Josephus: De bello, 6.9.3) Der zweite jüdische Krieg (132–135) liess die Preise auf den Sklavenmärkten sinken, so dass jüdische Gefangene zum Preis eines Pferdes «verscherbelt» wurden. Vgl. dazu Walter Scheidel: The Roman Slave Supply. In: Keith Bradley and Paul Cartledge (eds.): The Cambridge World History of Slavery, 1: The Ancient Mediterranean World. Cambridge 2011, S. 287–310.

  5. Luzia Sutter Rehmann: Die Offenbarung des Johannes. Inspirationen aus Patmos. In: Luise Schottroff und Marie-­Therese Wacker (Hg.): Kompendium feministische Bibelauslegung. Gütersloh 1998, S. 725–741.

  • Luzia Sutter Rehmann,

    *1960, ist Studienleiterin beim Arbeitskreis für Zeitfragen in Biel, Titularprofessorin für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Basel und Einwohnerrätin der Grünen in Binningen.

    Luzia Sutter Rehmann: Wut im Bauch. Hunger im Neuen Testament. Gütersloh 2014.

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