Heilen statt vorbeugen

Matthias Hui, 29. Mai 2018
Neue Wege 5/2018

Prävention von gewalttätigem Extremismus ist zum neuen Kompass der Politik geworden. Das globale Label verschafft PopulistInnen und AutokratInnen aller Couleur frische Legitimation. Terrorismusprävention wird zu einer zentralen Raison d’être des neoliberalen Staates. Seine Medien-, Migrations-, Rüstungs-, Religions-, Geschlechter- oder Menschenrechtspolitik werden auf Linie gebracht. Es fehlt nicht an Verzweifelten und Verblendeten, die zu allem bereit sind und die Rolle von Todfeinden staatlicher Macht einnehmen. Die USA zum Beispiel haben allerdings in Saudiarabien, im Irak oder in Afghanistan auch selber viel dazu beigetragen, jene Terroristen zu schaffen, deren Bekämpfung sie sich dann verschreiben konnten.

Über die Ursachen der Konflikte aber herrscht Schweigen. In Gaza sind es Vertreibung und Enteignung, Abriegelung und Perspektivlosigkeit der Massen, Korruption der Eliten. Gaza steht exemplarisch für globale Entwicklungen. Menschen, die sich politisch auffällig manifestieren oder allenfalls zu Gewalt bereit sind, können von Scharfschützen oder Drohnen abgeschossen werden, wenn sie zu TerroristInnen erklärt werden. Der 11. September 2001 war zwar eine Zäsur, Terrorismus ist aber nichts Neues. Prävention legitimiert – Israel ist nur ein Beispiel – fast jegliche militärischen Kosten und Formen von Gewalt, uneingeschränkte High-Tech-Überwachung, dazu die systematische Stigmatisierung der «feindlichen» Bevölkerungsteile. Doch der Kampf gegen den Terror frisst sich auch ins eigene Recht, in die eigene Moral, ins eigene Unterbewusstsein hinein. Frieden und Menschenrechte sind im besten Fall Mittel zum Zweck, im Normalfall des Ausnahmezustandes problemlos verletzbar.

Gaza ist nur ein Beispiel. Die aktuelle türkische oder russische Politik bieten weitere. Nicht nur an diesen Orten ist «die Zeit aus den Fugen». Der ganze Globus ist aus dem Gleichgewicht geraten durch ein Wirtschaftssystem, das Katastrophen am laufenden Band produziert, beim Klima, bei der ungleichen Verteilung von Arbeit, von Reichtum, von Nahrung oder Wasser. Die Frage ist: Vorbeugen oder heilen? Werden alle Kräfte eingesetzt, um die Wunden des Planeten zu heilen, welche Menschen in Not und Verzweiflung treiben – und einzelne in den Teufelskreis von Fanatismus und Gewalt? Oder werden die Ressourcen in Aufrüstung und Überwachung gelenkt, um eben diesem
Terrorismus vorzubeugen – der gerade dadurch erneut genährt wird?

Dieser Geist schleicht sich ein auch in ein Land wie die Schweiz. Der Gesetzesvorschlag des Bundesrates über polizeiliche Massnahmen gegen den Terrorismus richtet sich gegen «Gefährder», Menschen, die sich weder einer Straftat schuldig gemacht haben noch einer solchen verdächtigt werden. Spekulationen über ihre Absichten können zu drastischen Eingriffen führen. Wenn Sicherheitsmassnahmen nicht mehr abgewogen werden, sondern unhinterfragbar sind, geschieht dies auf Kosten von Menschenrechten. Höhere Budgets für Überwachung und Rüstung gehen zulasten von sozialer Sicherheit. Im Moment heisst das Feindbild «IslamistIn», zu gegebener Zeit können andere Gruppen unter Generalverdacht geraten. Im Visier sind «GefährderInnen», nicht der eigene Anteil an der Unordnung der Welt.

Die Präventionsgesellschaft kann auch bei aller Beeinflussung von individuellem Verhalten nie an ihr Ziel gelangen. Es liegt immer in der Zukunft. Die gegenwärtige, subjektive Angst bleibt, sie wächst gar. «Fürchte dich nicht» wäre eine alternative Haltung zur politischen Auseinandersetzung mit (Un-)Sicherheit. Sie mag biblisch und naiv klingen, ist gewiss nicht ohne Risiko. Aber weniger gefährlich als die sich immer totalitärer auswirkenden Präventionsstrategien. Fürchte dich nicht und trage deinen Teil bei zur Heilung von Verhältnissen der Ungleichheit.

  • Matthias Hui,

    *1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation humanrights.ch.