Der Staat Israel feiert 60 Jahre seit seiner Gründung, das palästinensische Volk gedenkt der 60 Jahre seit der Nakba, dem arabischen Wort für Katastrophe. Was für die eine Seite Beginn eines blühenden Gemeinwesens mitten in der Wüste ist, bedeutet für die andere Seite Flucht und Vertreibung. Das Existenzrecht Israels ist unbestritten, es beruht auf dem Willen der Völkergemeinschaft, wie er in verschiedenen UNO-Resolutionen sich ausdrückt. Es beruht moralisch ebenso sehr auf der Katastrophe des Holocaust, die vieles erklärt, was dem palästinensischen Volk an Unrecht angetan wurde und wird, aber dennoch nichts davon entschuldigt. Auch das Umgekehrte gilt: Der palästinensische Widerstand erklärt sich durch die Nakba, rechtfertigt aber nicht den Terror gegen Zivilpersonen. Darum konnten und können die Neuen Wege nie nur für eine Seite Partei ergreifen; wie dieser kleine Rückblick zeigt, suchten und suchen sie vielmehr das Gespräch mit und zwischen den Friedenskräften auf beiden Seiten.
Zu seinem 70. Geburtstag hat Leonhard Ragaz eine kleine Festschrift aus Israel erhalten. Besonders freute ihn die Mitteilung der Herausgeber, er zähle zu den «Gerechten unter den Völkern», für ihn sei ein Baum im Herzl-Wald gepflanzt worden. Nicht weniger bemerkenswert ist, dass mit Ragaz damals, 1938, einer geehrt wurde, der dem «Judenstaat» ablehnend gegenüberstand. «Zion und die Völkerwelt» ist im Septemberheft 1929 der Neuen Wege ein Kommentar über den Zionistischen Kongress in Zürich überschrieben. Ragaz fragt sich besorgt, ob «die Pläne des Zionismus nicht als utopisch erschienen». Palästina sei doch ein «bewohntes Land», zudem ein «heiliges Land», nicht nur für das Judentum, sondern auch für den Islam und das Christentum. «Aber wie würde es nun gehen, wenn dieser Anspruch dreier Religionen von einer einzigen von ihnen verschlungen und die ansässige Bevölkerung von einer einzigen neuen verdrängt würde?»
Ragaz verfolgt mit kritischer Solidarität, wie das jüdische Volk, «das viel umgetriebene, viel gemarterte, sich anschickt, in seine seit fast zwei Jahrtausenden verlassene alte Heimat zurückzukehren, zum Erez Israel, zum Land Abrahams, Isaaks und Jakobs». Ziel aber könne nicht ein «Judenstaat» sein, sondern, «was Kern und Stern des Zionismus ist: eine Heimstätte in Erez Israel, eine hebräische Universität, die dauernde Wiederbelebung der hebräischen Sprache, der Wiederanschluss an den Boden, ein eigenes Land zum Teil als Besitz, zum Teil als Symbol, ein Wiederaufleben Zions als heiliger Mittelpunkt des Volkes und damit die Befreiung seiner Seele für das letzte Ziel Israels». Es geht Ragaz hier um das «Zion Gottes» als dem Synonym für das «Reich Gottes». «Als ganzes Volk nicht nationale Macht und Grösse zu suchen, sondern Gottes Willen, und das heisst: das Reich seiner Gerechtigkeit, in der Völkerwelt zu vertreten, das ist Israels Bestimmung, die höchste, die es gibt.»
Ragaz beobachtet bereits den «Aufstand der Araber». «Tiefer blickende Juden» wie Hans Kohn, ein seit 1925 in Palästina lebender Philosoph, hätten «davor gewarnt, dass man den arabischen Grossgrundbesitzern um hohe Preise das Land abkaufe, worauf dann die armen Pächter (die Fellachen) von Grund und Boden weichen müssten.» Und: «Sie haben darauf gedrungen, dass der Zionismus auch für die Araber Gutes bedeuten müsse, wenn sein Werk gelingen solle.» Bis kurz vor seinem Tod warnt Ragaz: «Ein nationaler und nationalistischer Judenstaat würde schwerlich lange dauern und könnte nur durch die Waffengewalt einer grossen Schutzmacht gehalten werden Nicht ein Judenstaat, sondern bloss eine Heimstätte ist gut und nötig. Den Arabern wird und darf dabei kein Unrecht geschehen» (NW vom Nov. 1965).
Martin Buber, der seit 1938 in Jerusalem lebende Religionsphilosoph, stimmt mit seinem Freund Ragaz im Wesentlichen überein. Im Maiheft 1947 äussert er sich kritisch über die «jüdische Siedlungsarbeit in Palästina», die am «Grundfehler» leide, dass sie «im Bann der traditionellen Kolonialpolitik» stehe. «Nicht ein Judenstaat, sondern ein binationales jüdisch-arabisches Staatsgebilde» müsse das Ziel sein. In diesen gemeinsamen Staat seien als «dessen konstruktive Grundlage die unerlässlichen Postulate der Rettungsaktion des jüdischen Volkes als Magna Charta Reservationum einzubauen». Buber warnt vor der Staatsgründung Israels, «weil ein winziger Nationalstaat mitten in einer grossen feindlichen Umwelt den organisierten nationalen Selbstmord bedeuten würde und eine lose internationale Basis die fehlende intranationale unter keinen Umständen ersetzen könnte».
In der März/April-Sondernummer 1954 «Um Israel» erinnert der 1928 nach Palästina emigrierte Religionsphilosoph Ernst Simon daran, dass der eigentliche Vordenker der «jüdisch-arabischen Einheit innerhalb eines ungeteilten bi-nationalen Palästinas» der liberale Rabbiner Jehuda Magnes, Leiter der hebräischen Universität in Jerusalem, gewesen sei. Was Simon über Magnes schreibt, gilt auch für Buber: «Die Araberfrage wurde ihm zum eigentlichen Kern der inneren Judenfrage, ganz wie die Judenfrage, besonders in ihrer antisemitischen Form, dem gläubigen Christen guten Willens zu einem der Massstäbe der eigenen Echtheit geworden ist.» Nochmals enthält dieses Sonderheft ein eindrückliches Bekenntnis zum Zion Gottes im religiösen Sozialismus des Judentums, hier vor allem vertreten durch Martin Buber, die Schriftstellerin Margarete Susman und den Religionswissenschaftler Schalom Ben-Chorin.
Die prophetischen Stimmen galten wenig im eigenen Land. In einem Nachruf auf Martin Buber schreibt Margarete Susman, dass dieser nach dem Rede- und Schreibverbot in Deutschland zwar «nur noch in seiner wahren Heimat, in Israel, lehren konnte», und fügt hinzu: «Von einem grossen Teil der Bevölkerung wurde er aber dort keineswegs mit den verdienten Ehren empfangen, weil er sich mit Leidenschaft für die aus Israel geflohenen Araber und damit zugleich für den Frieden in der Welt einsetzte» (NW vom Juli/Aug. 1965).
Nun hat sich allerdings nicht der «Judenstaat» als «utopisch» erwiesen, sondern die von Ragaz und Buber vorgetragene Vision einer «Heimstätte» oder eines binationalen Staates. Israel existiert. Seit dessen Gründung haben die Neuen Wege sein Existenzrecht nie in Frage gestellt. Unser letztes Jahr verstorbener Freund Ernst Ludwig Ehrlich liess auch keinen Zweifel mehr offen, dass der «Staat Israel, der Gedanke eines eigentlichen Staates in diesem unaustauschbaren Land schon wesentlich zum Judentum» gehöre (NW vom Nov. 1988). Dennoch haben Ragaz und Buber auf existenzielle Probleme des israelisch-palästinensischen Zusammenlebens hingewiesen, die bis heute nicht nur ungelöst sind, sondern sich zunehmend verschärfen.
Der Staat Israel wurde am 14. Mai 1948 proklamiert. Israels Existenzrecht beruht jedoch nicht auf dieser Erklärung, sondern auf dem vorangehenden Beschluss der UNO vom 29. November 1947. Eine bessere Legitimation als die se, die sich auf die Völkergemeinschaft stützt, konnte Israel sich auch gar nicht wünschen. Es wurde von der Völkergemeinschaft nach der Shoah als staatgewordene «Rettungsaktion» des jüdischen Volkes anerkannt. Das gesagt, beginnen die Probleme.
Wenige Jahre nach der Staatsgründung, im Januarheft 1954, erscheint ein von Buber und 32 weiteren Persönlichkeiten Israels unterzeichneter Aufruf «Unser Gewissen ruft!» Er richtet sich gegen Gewalt im Nahen Osten, «gegen Morde und Vergeltungsmassnahmen, die sich blind gegen Unschuldige – Juden wie Araber – auswirken». Der Aufruf erinnert an die Goldene Regel, an «Gedanken, die nach Hillel die Grundlagen des Judentums bilden: Was dir verhasst, tue es nicht an deinem Mitmenschen.» Was war passiert? Die jüdische Bevölkerung, die im früheren britischen Mandatsgebiet Palästina sechs Prozent des Landes innehatte, erhielt von der UNO mehr als dessen Hälfte zugeteilt. Der erste israelisch-arabische Krieg war die Folge. Dabei erweiterte Israel seinen Anteil am ehemaligen Mandatsgebiet bereits auf 78 Prozent. 800 000 Palästinserlnnen müssten ihre Heimat verlassen. Simon schrieb: «Es hat sich also jener Bevölkerungsaustausch vollzogen, den manche zionistischen Führer als die relativ friedlichste Lösung ansahen, freilich nun unter den grausamen Bedingungen eines bewaffneten Konfliktes.»
Den israelischen Unabhängigkeitskrieg vor Augen hat Margarete Susman im Novemberheft 1948 das Vorwort zur 2. Auflage ihres Hiobbuchs als Vorabdruck veröffentlicht. Für sie ist es «mehr als nur begreiflich», dass Israels Jugend «gegen die Übermacht der zur Feindschaft aufgepeitschten Nachbarvölker sich mit Waffengewalt zur Wehr setzt». Das Dilemma eines israelischen «Nationalismus» sei freilich absehbar: «Aber mit dieser kriegerischen Verteidigung wie mit dem Staat, der sie erfordert, hat doch das Volk ein Stück des ihm fremden Chaos in sich selbst hineingezogen und damit, schwerer noch als seinen äusseren, seinen inneren Bestand gefährdet.»
Fast zwanzig Jahre später, im Sechstagekrieg 1967, besetzte Israel zusätzlich das Westjordanland, Ostjerusalem, Gaza, den Golan und die Sinai-Halbinsel (die 1979 an Ägypten zurückgegeben wurde). Das bedeutete für drei Millionen palästinensische Flüchtlinge, die seither auf 4,5 Millionen angewachsen sind, der Nakba zweiten Teil. Unter seiner ständigen Rubrik «Weltrundschau» hat Hugo Kramer damals aber dennoch die Hoffnung geäussert, «der fast zu vollkommene Sieg der israelischen Waffen über die vereinigten Armeen der Ägypter, Syrer und Jordanier» werde «zur endgültigen Anerkennung und Sicherung des Lebensrechts und der freien Entwicklung Israels» führen (NW Juli/Aug. 1967).
Im November 1967 hat dann der UNO-Sicherheitsrat Israel mit der Resolution 242 aufgefordert, sich aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen – andere wie die israelische Arbeitspartei sagen es ohne bestimmten Artikel: aus besetzten Gebieten («from territories»steht in der englischen Version, «des territoires» in der französischen). Die Resolution anerkennt zugleich Israels «territoriale Unversehrtheit», damit implizit den territorialen Zugewinn von 1948.
Im Gegenzug verlangt sie eine «gerechte Lösung des Flüchtlingsproblems». Auf dieser Resolution beruhen seither alle ernsthaften Friedenspläne für den Nahen Osten. Selbst Yasir Arafats PLO hat im Oslo-Friedensprozess der 1990er Jahre Israels Existenzrecht auf diesen 78 Prozent Palästinas anerkannt. Doch die israelische Regierung scheint der «verborgenen Agenda» (Uri Avnery) zu folgen, den Friedensprozess unter allen möglichen Vorwänden hinauszuzögern, ja mit einer völkerrechtswidrigen Siedlungspolitik sein Territorium zu erweitern und mit dem ebenso völkerrechtswidrigen «Sicherheitszaun» vollendete Tatsachen zu schaffen.
Es ist hier nicht der Ort, eine Chronik des Nahostkonflikts seit 1967 zu schreiben, gar die Vergeltungsschläge» beider Seiten gegeneinander aufzurechnen. Nur soviel sei gesagt: Israel, das seine Existenz der Völkergemeinschaft verdankt, sägt mit seinen andauernden Verstössen gegen das Völkerrecht, wie eben wieder mit der Abschnürung der 1,3 Millionen Menschen von Gaza, am Ast, auf dem es sitzt. Auch muss es sich, wie Ragaz vorausgesehen hat, an «eine grosse Schutzmacht» anlehnen. Heute baue Israel «sich mit seinem Kleinkrieg gegen die Palästinenser als Speerspitze im Anti-Terror-Krieg und im Clash of Civilisations mit der islamischen Welt ein», sagt der Nahost-Korrespondent der NZZ (15.10.07). Dass die palästinensische Seite kein Mittel findet, um gegen den Terror militanter Gruppen vorzugehen, die Israels Bevölkerung in einen Zustand permanenter Unsicherheit versetzen, leistet nur der «verborgenen Agenda» Vorschub.
Ich bin überzeugt, dass eine gewaltlose Widerstandsbewegung im Sinne Gandhis schon längst einen dauerhaften Frieden bewirkt hätte. Der Appell richtete sich an ein Volk, das seit 3000 Jahren den Begriff des Gewissens kennt. Die Neuen Wege haben immer wieder versucht, Menschen, die auf beiden Seiten für einen friedlichen Wandel eintreten, zu Wort kommen zu lassen, in den 1980er Jahren zum Beispiel den palästinensischen Melkitenpriester Elias Chacour und den israelischen Musiker Joseph Abileah. Chacour wollte für das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge «niemals dieselben Mittel» einsetzen, «die man gegen uns angewandt hat». (NW vom März 1981). Abileah erzählte, wie palästinensische Muslime es nicht übers Herz brachten, ihn, den Juden, den sie auf arabischem Gebiet aufgegriffen hatten, zu töten, obschon das ihr Befehl gewesen sei. Er habe bei ihnen «das von Gott in unserem Herzen» erkannt und sei sich bewusst geworden, «wie nutzlos und sinnlos Waffen für die Verteidigung sind» (NW vom Juli/Aug. 1981).
In den 1990er Jahren haben wir Gemeinsamkeiten zwischen der Palästinenserin Sumaya Farhat-Naser, Leiterin des «Jerusalem Center for Women», und dem Israeli Danny Wieler, Leiter des Begegnungszentrums Givat Haviva, entdeckt. Höhepunkt war ein Gespräch mit den beiden im Juli/August-Heft 1999. Sumaya brachte die friedenspolitische Problemstellung auf den Punkt: «Es gibt in diesem kleinen Land weniger als fünf Millionen Israeli und mehr als vier Millionen Palästinenser. Keine Seite kann und darf die andere beiseite schieben. Wir brauchen einander Die zwei Staaten sind eine Vorstufe, um zur Einsicht zu kommen, dass wir uns in Richtung Konföderation bewegen müssen. Daraus könnte dann vielleicht eines Tages ein Staat Palästina-Israel oder Israel-Palästina hervorgehen.»
Mag sein, dass die israelische Führung glaubt, für ihre Expansionspolitik arbeite die Zeit. Das hätte zur Folge, dass Israel dem palästinensischen Volk einen Flickenteppich isolierter «Bantustans» überliesse, auf dem ein eigener Staat gar nicht lebensfähig wäre. Dann aber würde die Zeit - oder die «List der Vernunft»? – vielleicht doch auf jenen binationalen Staat hinarbeiten, für den sich die erste israelische Friedensbewegung um Magnes und Buber eingesetzt hatte.
1937-2016, war von 1977 bis 2007 Redaktor der Neuen Wege. In seiner Kolumne Zeichen der Zeit kommentierte er das Zeitgeschehen aus religiös-sozialistischer Perspektive.