Mir gegenüber im Zug sitzt ein Polizist. Er hat die Beine weit geöffnet, beansprucht gute zwei Drittel des vorhandenen Platzes. An seinem Gürtel hängen Schlagstock, Pistole, Taschenlampe und allerlei Gerät. Er streichelt gedankenversunken die Waffe, die ihm zwischen den Beinen vom Gürtel hängt. Eigentlich schreibe ich an einem Text. Hacke in die Tasten. Über die Zusammenhänge von Männlichkeit, Polizei und Waffen will ich mir jetzt keine Gedanken machen. Ich muss mich konzentrieren.
Aber ich werde wütend.
Vor mir liegt Literatur zu Yoga und prägenden Persönlichkeiten in der Yoga-Geschichte. Ich bereite einen Vortrag für meinen Yoga-Ausbildungsgang vor. Die Vertiefung in diese Weisheiten ist aufregend. Den Körper als Instrument zu nutzen, um den Geist zur Ruhe zu bringen, begeistert mich. Doch in der Lektüre stosse ich immer wieder auf einengende Vorstellungen von Weiblichkeit: Passiv, empfangend, weich, liebend, mütterlich soll das Weibliche sein. In meiner Recherche tauchen zahlreiche Namen von berühmten Yoga-Lehrern auf, über die in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Berichte über sexuelle Übergriffe an die Öffentlichkeit gelangten: Pattabhi Jois, Bikram Choudhry, Swami Akhandananda, Kausthub Desikachar …
Eigentlich will ich lernen, aber ich werde wütend.
An einer Organisationssitzung eines linken Projektes: Die Redeanteile sind ungleich verteilt, eine überwältigender Teil der Zeit wird von Männern gesprochen. Die Sprache ist nicht inklusiv. In der männlichen und binären Sprechweise sollen sich alle mitgemeint fühlen. Ich dachte, das hätten wir in den achtziger Jahren schon geklärt und bin wütend.
Im Internet ist ein Artikel zu finden, der Tamara Funiciello bei einer Reise begleitet. Sie besucht Menschen, die im Netz gewaltvolle und verletzende Kommentare über sie geschrieben haben und fragt sie nach ihren Gründen. Ich bewundere den Mut von Tamara und bin froh, dass damit der Anonymität des Netzes etwas entgegengesetzt und gezeigt wird, dass hinter Hasskommentaren echte Menschen stehen – auf beiden Seiten. Dann lese ich unter dem Text die Kommentare, die dem Artikel quasi als gute Beweisgrundlage dienen könnten. Tamara ist zu dick, sollte endlich schweigen, ist frustriert und «untervögelt», steht da. Nur weniger «freundlich» formuliert. Ich weiss, man sollte das nicht lesen, aber schon bin ich wütend.
Ich gehe einkaufen. Ein Schild auf der Strasse wirbt für Uhren. Das Sujet: Ein in die Luft gestreckter Arm mit grosser Uhr daran. Soweit unauffällig. Die Hand ist zur Faust geballt, der Arm und die Uhr wohl «männlich». Darunter steht: «Für Ladykiller». Das «killen» soll wohl für unglaubliche Attraktivität stehen. Ich denke dabei eher an Statistiken zu häuslicher Gewalt. Opfer von sogenannten vollendeten Tötungsdelikten waren in den Jahren 2009 bis 2018 fast dreimal mehr Frauen als Männer. Und die Täter mehrheitlich Männer: Im Jahr 2016 beispielsweise waren waren 76 Prozent der beschuldigten Personen Männer. Der «Ladykiller» macht mich wütend.
Ich treffe ein befreundetes Hetero-Paar auf einen Kaffee. Sie haben vor einer Weile ein Kind bekommen, und ich lerne den kleinen Menschen endlich kennen. Irgendwann geht das Gespräch über in eine politische Debatte. Das Kind schlägt dabei mit dem Löffel auf den Tisch und verteilt den Nachtisch auf der Tischplatte. Die Freundin kümmert sich, er diskutiert mit mir weiter. Immer deutlicher wird die Dynamik: Sie ist mit der Aufmerksamkeit beim Kind, er bei der politischen Frage, die wir diskutieren. Und es ist nicht so, dass sie beide unkritisch wären, das Patriarchat ihr gesellschaftlicher Wunschzustand und er ein schlechter Vater. Vielleicht ist das alles auch Zufall. Und doch: Sie hört mehr, sieht mehr, spürt mehr, und er findet das Gespräch gerade wichtiger. Und ich werde wütend.
Am 14. Juni trage ich die Wut auf die Strasse. Dort ist Platz für meine Wut.●