Küsse den Hund

Iren Meier, 23. September 2022
Neue Wege 9.22

Früher hatte man diese kleinen Dinge in der Hosentasche, die einen glücklich machten oder Glück bringen sollten. Talismane. Einen Stein, aufgehoben an einem ganz besonderen Ort. Eine Muschel, mitgebracht von diesem einmaligen endlosen Strand. Später wanderten diese persönlichen Kostbarkeiten weiter in die Schul- und dann in die Handtasche. Umgeben von vielen Neuzugängen. Kleine Liebesbriefe von Angehimmelten oder für sie. Eine Fotografie. Ein Spieglein …

Wenn man sich schön macht und die Tasche auf Rock oder Hemd abstimmt, bedeutet das jeweils einen Umzug. Es gilt, alles wieder neu einzureihen in die vielen Fächer. Und jedes Mal lässt man die Dinge durch die Hände gleiten und erinnert sich.

In meinem mobilen Schatz findet sich häufig ein Gedicht. So lange, bis ich es in meinem Inneren abgelegt habe. Bis es dort verankert ist und ich es auswendig kann. Dann tausche ich es gegen ein neues aus. Das gegenwärtige ist nun schon ziemlich lange mit mir unterwegs. Weil es nicht einfach ist, es im Gedächtnis zu behalten. Und weil ich es – so schön ist es – immer in Griffnähe oder, besser, in Hörweite haben möchte. Geschrieben hat es Ilma Rakusa. Ich schenke es Ihnen weiter.

Gedicht gegen die Angst

Streichle das Blatt
küsse den Hund
tröste das Holz
hüte den Mund
zähme den Kamm
reime die Lust
schmücke den Schlaf
plätte den Frust
neige das Glas
wiege das Buch
liebe die Luft
rette das Tuch
schaue das Meer
rieche das Gras
kränke kein Kind
iss keinen Frass
lerne im Traum
schreibe was ist
nähre den Tag
forme die Frist
lenke die Hand
eile und steh
zögere nicht
weile wie Schnee
öffne die Tür
lade wen ein
schenke dich hin
mache dich fein
prüfe dein Herz
geh übers Feld
ruhe dich aus
rühr an die Welt

 

Wenn Sie mögen, lesen Sie es einmal laut. Und langsam. Spüren Sie den Sog? Die Musik? Den Atem? Die Stille zwischen den Zeilen? Und den Trost? Lauter aneinandergereihte Imperative und gleichzeitig von einer solchen Sanftheit. Jede Zeile fordert auf und klingt doch eher wie ein leises «Hör mir zu. Ich mach dich aufmerksam. Auf alles, was um dich herum ist. Was du sehen, riechen, tun und lassen kannst.»

Lesen Sie es nochmals. Laut oder leise. Lauschen Sie den Worten nach. Und lassen Sie die Bilder auftauchen.

Ich mache mir unterdessen eine Tasse Kaffee und denke darüber nach, warum mich dieses Gedicht so anrührt und verzaubert. Wahrscheinlich ist es tatsächlich das Tröstliche seiner Botschaft. Und das Dringliche. «Mensch, setz dich in Bewegung! Ergib dich nicht der Ohnmacht, verlier dich nicht im Weiten, Grossen, sondern konzentriere dich auf deine kleinen Schritte! Du stehst mitten in der Welt, wo immer du gerade bist.»

Es ist eine ganz praktische Handlungsanweisung. Ich nehme manchmal eine Zeile, eine einzige, mit in den Tag. Und schaue, was mit mir geschieht. Kürzlich war es: Küsse den Hund. Ausgerechnet. Ich habe Angst vor grossen Hunden und zucke zusammen, wenn sich einer mir nähert. Und jetzt habe ich sie richtig angeschaut, wahrgenommen. Ihre Präsenz und Lebendigkeit, ihre Schönheit (manchmal), und ich habe beobachtet, wie die dazugehörigen Menschen mit ihnen umgehen, was zwischen ihnen ist, diese Verbindung. Geküsst habe ich keinen. Aber ich habe gemerkt, wie mein Blick weiter und meine Anspannung weniger wurde. Und mit dem Hund habe ich auch die Katze wahrgenommen, die ich sowieso liebe, und die Kuh auf der Wanderung in den Bergen, den frechen Spatz, das Eichhörnchen im Wald und die Biene und die Mücke. Unsere Mitgeschöpfe. Zum Küssen.

Kränke kein Kind – drei Worte, die mir jetzt jedes Mal in den Sinn kommen, wenn ich einem kleinen Menschen begegne. Hier. Oder wenn ich von den ausgebeuteten Kindern in fernen Ländern höre. Plötzlich hat die Verletzlichkeit des Kindes noch eine andere Färbung.

«Unterwegskind» nennt sich Ilma Rakusa selber in ihren Erinnerungen. Ein sensibler Blick auf die Welt von Beginn an. Geboren als Tochter eines slowenischen Vaters und einer ungarischen Mutter und aufgewachsen in Budapest und Ljubljana. Und in Triest am Meer, das sie so liebt (Schaue das Meer). Von der Hitze des Südens kam sie als Mädchen in die Kälte des Nordens, in die Schweiz (Weile wie Schnee).

Aber sie lebt auch im dichten Netz der Sprachen und Kulturen, in denen sie denkt, schreibt, übersetzt. Deutsch, Ungarisch, Slowenisch, Serbokroatisch, Französisch und Russisch. Letzteres hat sie in St. Petersburg studiert. Die Welt erfahren und später wiedergegeben als Schriftstellerin und Poetin.

Unterwegskinder sind wir doch alle irgendwie. Mit unterschiedlichen Radien. Tempi. Rhythmen.

Eile und steh – je nachdem.

Es ist ein Gedicht des Handelns und der Tat. Und es führt uns dorthin, wo der Trost seine Quelle hat. In die Natur, zu den Elementen, zu unserer Lebenskraft und zu unserer Mitmenschlichkeit. Es ist ein Instrument gegen die Angst, auf dem man spielen kann.

Eine Melodie wie aus einer anderen Zeit, altmodisch, leicht und beschwingt.
 

öffne die Tür
lade wen ein
schenke dich hin
mache dich fein

 

Hingabe. Ans Leben. An den Moment. An die Liebe. Und die Freundschaft.

Gerade jetzt, wo so viel Lähmendes und Bedrückendes um uns ist. Im Krieg habe ich immer wieder erlebt, wie Freundinnen «sich fein machten». Ohne äusseren Anlass. Einfach, um das Gefühl nicht zu verlieren. Einfach, um Würde und Schönheit zu bewahren. Einfach, um Widerstand zu leisten. Und sei es nur für die letzten Stunden vor der Flucht. Sich dem Moment hingeben – vielleicht ist dies die intuitivste Art des Widerstands gegen alles, was ängstigt, bedroht, zerstört und vernichten will. Vielleicht ist dies Hoffnung im Präsens. Eine grammatikalische Unmöglichkeit, die uns nicht kümmern soll. Ich kenne keinen anderen Weg. Leben, was gerade ansteht. Leben, wo es stattfindet. Und die Widersprüche aushalten. «Du stellst meine Füsse auf weiten Raum», heisst es in einem Psalm. Es ist an mir zu gehen. Alles andere fügt sich.
 

prüfe dein Herz
geh übers Feld
ruhe dich aus
rühr an die Welt

  • Iren Meier,

    *1955, lebt in Bern und berichtet hauptsächlich über die Türkei und den Iran. Seit 1981 arbeitete sie als Journalistin bei Radio SRF. 1992 bis 2001 war sie Korrespondentin für Osteuropa und den Balkan mit Sitz in Prag und Belgrad. 2004 bis 2012 arbeitete sie als Nahostkorrespondentin in Beirut.