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Lange Wanderung

Matthias Hui, 28. Februar 2020
Neue Wege 3.20

Soll politischer Protest mit allen Mitteln Veränderungen erzwingen, damit die Verhältnisse dereinst endlich besser sind und die Welt überlebt? Oder zeigt sich die Stärke einer sozialen Bewegung darin, wie bereits jetzt konkret Sorge füreinander und für die Erde erfahrbar wird, demokratische Entscheidungsprozesse, die Überwindung von Abgrenzungen und schlicht gemeinsame Lebensfreude Raum bekommen?

Drei Tage im Januar, die Winterwanderung für Klimagerechtigkeit ans WEF, haben Spuren hinterlassen. Allerdings weniger in Davos selber. Der Protest geriet nicht zu einem Kräftemessen mit der dort repräsentierten Macht. Die laut NZZ 118 Milliardäre und zweitausend schwarzen Limousinen sind längst zurück im Geschäftsalltag der Metropolen im Flachland. Vom angekündigten «Durchbruch» in der Klimafrage am WEF 2020 (Klaus Schwab, Tagesschau SRF vom 19.1.20) fehlt jedes Anzeichen.

Die Wanderung hat Spuren im Schnee am Wolfgangpass hinterlassen. Vor allem aber bei den vielen Beteiligten. Es sind Spuren eines Aufstands, der sich seit dem letzten Jahr an vielen Orten bemerkbar macht. Beim Auftakt in Landquart wurde der Internationale Klimarat zitiert, der «schnelle und weitreichende Systemveränderungen von noch nie dagewesenem Ausmass» als notwendig erachtet. Dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand nicht ganz unangemessen skandierten die Wanderer*innen in den Prättigauer Dörfern «one solution – revolution!». Ein gemeinsames Verständnis dieser Revolution gibt es bei weitem noch nicht, aber ein Gefühl dafür, dass sie in vielen Biografien und Projekten wieder Wurzeln schlägt. So wie die Entschlossenheit war auch die Heiterkeit an den Gesichtern der Wandernden abzulesen. Bündner Zaungäste, Einheimische, viele Frauen klatschten, winkten, fotografierten. Ein Restaurant stellte Tee für alle bereit; die Idee kam in einem nächtlichen Gespräch mit einem hohen Kantonsbeamten auf, der den Treck mit viel Wohlwollen und logistischer Unterstützung begleitete.

Das Wandern ermöglichte die Stärkung von Freundschaften und das Knüpfen neuer Kontakte. Dabei wuchs das Bewusstsein, dass Beziehungen nicht Nebeneffekte mühseliger Politik sind, sondern die Seele jeder radikalen Veränderung. Die Teilnehmenden, auch die Alleinwandernden, organisierten sich in Bezugsgruppen. So wurden delegierte Entscheidungsprozesse möglich, effiziente Beratungen mitten auf der Strasse. Endlich sprachen nicht mehr die paar gleichen Männer überall. Sorgfalt und Respekt drückten sich nicht nur in Worten aus, sondern auch im Rucksackpackplan des Organisationsteams und im Essen des Küchenkollektivs. Wenn das Postauto kam, rückte der Wanderzug für den Service public zur Seite, was mit einem Dreiklang aus dem Horn quittiert wurde. Und so viele entspannte, lachende Gesichter sieht die politische Schweiz nicht alle Tage, so viel Witz in Aktionen mitwandernder Clowns.

Menschen versuchen sorgfältiger als in den letzten Jahrzehnten, Gestalt und Forderungen ziviler Proteste in Übereinstimmung zu bringen. Die neueren Bewegungen oder «Versammlungen», wie sie die Philosophin Judith Butler weltweit nennt, «initiieren, veranschaulichen oder präfigurieren gar Formen des Regierens, die auf Gleichheit, Ablehnung von Gewalt und einer Verteidigung des öffentlichen Freiheitsgebrauchs basieren».Es sind Menschen, die sich mit ihren Körpern auf der Strasse zusammentun, furchtlos reden und Grenzen der eigenen Gemeinschaften überschreiten. Diese Tour fand in Davos kein Ende. Es waren drei Etappen auf einem längeren Marsch, der in Bagdad und in Moskau, in Santiago de Chile und in deutschen Kohlerevieren bereits fortgesetzt wird. Und, wer diese Wandernden erlebt hat, weiss: bald auch hierzulande.

  • Matthias Hui,

    *1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation humanrights.ch.