Ich weiss nicht, was zwischen uns war. Eine vertraute, verlässliche Beziehung über Jahrzehnte? Oder gar eine Art Liebe, in Respekt vor dem Anderssein des anderen? In den letzten Jahren versuchte ich unser Verhältnis zu retten, trotz Tonalitäten, die ich nicht mehr ertrug. Jetzt geht es nicht mehr. Die alltägliche Begegnung hinterlässt ständig kleine Verletzungen, unser Verhältnis wird destruktiv. Ich kündige das Abonnement auf.
Natürlich vergesse ich nicht, wie wir uns kennengelernt haben. Ich sehe meinen Vater in seinem Ledersessel am Fenster, wie er vor vierzig, fünfzig Jahren in seinen Mittagspausen jeweils die NZZ las, dazu einen Kaffee trank und sich durch nichts ablenken liess. Für meine Mutter gab es diesen Luxus nicht. Mein Vater gab mir einen der damals drei bis vier Bünde der NZZ ab, und ich las mich schon als Zwölfjähriger bäuchlings auf dem Spannteppich durch die Seiten. Am Abend bisweilen dasselbe Ritual nochmals, diesmal mit der Nachmittagsausgabe der Züri Zytig, die auch zu bewältigen war.
Als Jugendlicher begann ich mich über Inhalte der NZZ zu empören. Wie die Zeitung die Zürcher Jugendunruhen kommentierte oder die lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen in das Ost-West-Schema des Kalten Kriegs einordnete. Ich begann, andere Blätter zu abonnieren, und überliess die NZZ meinem Vater. Meine Mutter fand vor lauter Arbeit zu Hause immer noch kaum Zeit dafür.
Aber es dauerte nicht lange, und ich las sie wieder. Ich wollte wissen, was mein Schulfreund René Zeller als Sportredaktor und später als Inlandchef der NZZ in die Welt setzte. Ich war beeindruckt, wie viel Zeit ein NZZ-Redaktor wie Christoph Wehrli an Konferenzen zu Entwicklung, globaler Solidarität oder Kirchenpolitik verbrachte, an denen ich unterdessen beteiligt war, und wie er mit fairer, liberaler Feder ausführlich darüber berichtete.
Wo mir die NZZ am Kostbarsten war: auf ihren Auslandseiten, speziell mit der Berichterstattung zum Nahen Osten. Unübertrefflich war, wie der langjährige Korrespondent Arnold Hottinger Zusammenhänge aufzeigte. Diese Tradition setzten Journalist*innen wie Martin Woker, Jürg Bischoff, Karin Wenger oder Monika Bolliger fort. In Leitartikeln las ich Schlüsse wie jenen von Martin Woker 2012: «Zwischen Jordan und Mittelmeer ist langfristig nur ein einziges Staatsgebilde vorstellbar, mit gleichen Rechten für alle Bewohner.» Auch wenn die NZZ zwischenhinein weiterhin hochstehende Reportagen und differenzierte Analysen bietet – seit einem halben Jahr Gazakrieg sind für mich fahrlässig gesetzte Kommentare unerträglich geworden: «So wenig wie die Ukraine gezwungen werden kann, sich an den Verhandlungstisch zu setzen, muss Israel einem Waffenstillstand zustimmen», deklarierte Eric Gujer am 4. November 2023 und stellte den in der NZZ traditionell hochgehaltenen Massstab des humanitären Völkerrechts zurück.
Im Stil und in den Inhalten des Chefredaktors, der Meinungsseiten und der Feuilletonredaktion vermisse ich Zwischentöne, die Bereitschaft, unangenehme wissenschaftliche Erkenntnisse aufzugreifen, und die Öffnung des Blattes für ernsthafte Kontroversen. In immer wieder ähnlichen Formeln und Formulierungen werden täglich Giftpfeile verschossen gegen Wokeismus, die sogenannte Genderideologie, Identitätspolitiken und angeblich grassierenden linken Antisemitismus. Und die Absender merken nicht, wie stark sie jenen Popanzen und Phantombildern zu ähneln beginnen, deren Cancel Culture sie bekämpfen möchten.
Ich will nicht falsch verstanden werden. Nicht dass ich in der NZZ nicht mit mir fremden Haltungen konfrontiert werden möchte. Nicht dass ich in der NZZ keinen Spiegel vorgehalten bekommen möchte, etwa, wenn es um die Warnung vor auch linkem Antisemitismus geht. Gerade deshalb blieb ich der NZZ über Jahrzehnte treu. Ich wollte wissen, wie politische Kontrahent*innen denken. Die Wirtschafts- und Inlandseiten eröffneten mir Möglichkeiten, Klasseninteressen der Mächtigen von innen heraus zu verstehen. Und ich versuchte per Abo weiter zu partizipieren am kulturellen Kapital des Bildungsbürgertums, das mir meine Eltern mitgaben. Den liberalen Grossmut der NZZ erfuhr ich 2016, als der langjährige Redaktor der Neuen Wege Willy Spieler starb. Ich durfte im Blatt, deren neoliberale Wirtschaftspolitik ihn doch so enervierte, einen Nachruf publizieren und an sein Einstehen für eine Politik der Menschlichkeit erinnern.
Mit der Aufkündigung unseres langjährigen Verhältnisses schütze ich mich. Allzu viele der üblich gewordenen (Schnell-)Schüsse in den öffentlichen und digitalen Raum tragen zur Vergiftung einer offenen Gesellschaft und auch meines Alltags bei. Abzulesen ist das in der NZZ zum Beispiel daran, wie der Islamismus bekämpft wird, dabei aber regelmässig der Islam als solcher ins Visier gerät. Auf gewisse Seiten hin grenzt sich die NZZ messerscharf und verletzend ab. Gegen rechts lässt das Blatt gerne sehr viel offen. Das gilt insbesondere bei der deutschen Innenpolitik, wo die NZZ auch als Marketingstrategie die rechte Flanke der Qualitätsmedien besetzt. Stellvertretend dafür stehen Beiträge der Berliner Redaktion, die – sekundiert von Beiträgen des nach rechts abgedrifteten früheren Chefs des Verfassungsschutzes Hans-Georg Maassen – für demokratisches Verständnis und Toleranz der AfD gegenüber plädiert. Dagegen protestiere ich.
Meine Mutter hat jetzt Zeit und liest mit ihren 90 Jahren die Zeitung weiterhin. Sie macht mich auf Ärgernisse aufmerksam, aber auch auf Trouvaillen, auf die sie stösst. Wie ich vermisst sie zwar mal ein Gedicht im Feuilleton oder die grossartigen Schwarzweissfotos der Wochenendbeilagen. Meine Mutter teilt mit mir ihre Sorge über polemisches Schreiben und das Zielen auf die Person; dabei meint sie dann nicht nur die NZZ, sondern auch Dinge, die ich verfasse. Ich lese bei ihr weiter ab und zu mit, was die NZZ sagt. Aus beruflichen Gründen und damit ich wüsste, wann ich unsere Beziehung wieder aufnehmen könnte.