«Mama, Papa, Kind»

Matthias Hui, Geneva Moser, 16. März 2022
Neue Wege 3.22

Bieten reproduktionsmedizinische Methoden ein Mehr an Gerechtigkeit? Die Gynäkologin Elisabeth Berger-Menz und die Bioethikerin Regula Ott, frühere Mitarbeiterin des Schweizerischen Katholischen Frauenbundes, diskutieren über Normvorstellungen, Grenzen und Möglichkeiten.

Regula Ott, wer darf sich eigentlich fortpflanzen?

Regula Ott: Eine schöne Einstiegsfrage. Das eine sind die Gesetze – wer darf? Das andere ist das Ethische – wer sollte dürfen? Als Bioethikerin mache ich mir insbesondere zu den ethischen Fragen Gedanken: Was haben wir für Vorstellungen von Familie, und was möchten wir nachbilden mit der Fortpflanzungsmedizin?

Sie, Frau Berger-Menz, begegnen in Ihrer gynäkologischen Praxis Menschen mit Fragen und Wünschen – oft ­unerfüllten – rund um Reproduktion. Wie gehen Sie mit den belastenden und frustrierenden Momenten um? Wie begleiten Sie diese Menschen?

Elisabeth Berger-Menz: Ich versuche, die Paare von A bis Z zu begleiten. Bei der ersten Begegnung müssen beide in die Praxis kommen, also Mann und Frau, beziehungsweise nach der Einführung der «Ehe für alle» im Juli 2022 auch Frau und Frau. Nach dem meist langen Informationsgespräch begleite ich oft «nur» die Frauen. Besonders im Moment wegen Corona – wir können nicht zu viele Leute in der Praxis haben – sind ­Männer nur am Rande dabei. Je nachdem, was ein Paar will oder nicht will, begleite ich die Frau medizinisch mit Medikamenten, Gesprächen und Untersuchungen. Wenn das Paar schnell schwanger wird, ist das nicht sehr anspruchsvoll. Wenn es hingegen lange dauert oder gar nicht klappt, wird es anstrengend. Ich schlage regelmässige Standortbestimmungen auch mit der/dem Partner*in vor. Wenn ich merke, dass die Frauen, manchmal auch die Männer, verzweifeln, versuche ich sie zu einer psycho­therapeutischen Begleitung zu motivieren. Manche Paare holen sich Hilfe, andere haben Angst, dass sie dann erst recht als verrückt gelten, weil ja schon alle sagen, es sei nicht normal, reproduktionsmedizinische Therapien zu machen oder keine Kinder zu haben.

Die Frage «Wer darf sich fortpflanzen?» bildet gesellschaftliche Vorstellungen ab, in welchem Rahmen Fortpflanzung geschehen soll. Kann Reproduktions­medizin dazu beitragen, Formen von ­Ungleichheiten und fixen Rollenvorstel­lungen aufzubrechen?

EBM: Die Diskussion um Fortpflanzung innerhalb von homosexuellen Paaren war lange in der Diskussion. Vor fünfzehn Jahren war das in der Schweiz undenkbar. Ich bin überrascht, dass es die «Ehe für alle», auch mit Zugang zur Spermienspende, jetzt gibt.

RO: Das ist ein sehr schönes Beispiel für Normenveränderung. Ich kenne viele Kinder, die älter als zehn Jahre und bei homosexuellen Eltern aufgewachsen sind. Für die Mehrheit war das sehr lange ein Tabu. Wie kommt es zu solchen Veränderungen? Wer lebt welche Realitäten? Bei der Reproduktionsmedizin lässt sich an vielen Beispiele zeigen, welche Normvorstellungen vorherrschen und wie eng sie sind: «Mama, Papa, Kind» ist ein Wunsch, den sehr viele Menschen von klein auf in sich tragen, ohne ihn stark hinterfragen zu können. Das ist spannend, gerade weil wir wissen, dass viele Menschen nicht die Möglichkeit haben, ein Kind zu bekommen, das biologisch mit ihnen verwandt ist. Was dann? Dass Sie, Frau Berger-Menz, in Ihrer Praxis psychotherapeutische Massnahmen mitdenken, finde ich toll. Was für Fragen haben Ihre Patient*innen, wenn es um die Vorstellung geht, keine Kinder zu bekommen? Ein Leben ohne Kinder – ist das denkbar?

EBM: Viele stehen vor einer vermeintlich unüberwindbaren Wand. Häufig kommt es zu einem Zusammenbruch – und das nicht nur bei Frauen oder Paaren, die schon sehr jung einen Kinderwunsch hatten. Der Mensch meint, er sei fruchtbar. Das wird nie hinterfragt.

Gibt es in Ihrer Praxis Situationen, wo Sie einem Paar sagen: «So, hier hören wir auf. Jetzt haben Sie lange genug probiert»? Haben Sie manchmal eine bremsende Funktion?

EBM: Oft, ja. Von den Paaren, die wegen einer Kinderwunschbehandlung kommen, werden etwa siebzig Prozent mit einem Kind weg­gehen. Das ist viel, aber die anderen dreissig Prozent sind auch viel. Diese warten häufig darauf, dass ich «Stopp» sage. Das Gesetz schützt uns, beispielsweise muss nach drei Zyklen künstlicher Befruchtung ein Gespräch geführt werden. Ich erlebe es aber oft, dass Paare nach meinem «Stopp» in eine andere Klinik gehen. Es gibt einen riesigen «Tourismus», und der ist erlaubt.

Was würde den betroffenen Paaren und Frauen helfen, diese unüberwindbare Wand der Kinderlosigkeit abzubauen? Was wäre gesellschaftlich notwendig, damit verschiedene Formen der Existenz akzeptabel sind?

EBM: Es geht um das Enttabuisieren von Kinderlosigkeit, insbesondere ungewollter. Wir setzen enorme Energie ein – und das ist gut und richtig –, dass die jungen Menschen verhüten. Aber es spricht kaum jemand darüber, dass es Menschen gibt, die nie Kinder haben, oder dass wir alle älter werden. Es gibt Frauen, die entsetzt sind, wenn ich ihnen sage, dass es mit 39 nicht mehr selbstverständlich ist, ein Kind zur Welt zu bringen. Es wäre gut, schon in der Schule auch darüber zu sprechen. Die Entwicklung läuft eher so, dass Frauen sich im Beruf verwirklichen. Kinderhaben hat lange keinen Platz, und plötzlich ist man zu alt. Die Kinderbetreuung müsste beispielsweise so organisiert sein, dass es normal ist, wenn Frauen während des Studiums Kinder kriegen.

RO: Damit verschiedene Existenzweisen denkbar werden, müssen wir über Geschlechtervorstellungen, über Rollenverständnisse sprechen. Und die Fragen stellen: Was ist ein gutes Leben? Warum dürfen nur bestimmte Gruppen Fortpflanzungsmedizin in Anspruch nehmen? Warum nicht Einzelpersonen? Warum nicht Familien mit vier Elternteilen? Was sind die Vorstellungen dahinter, die Gründe dafür oder dagegen? Darüber sollten wir sprechen können, ohne gleich eine grosse Empörung im Raum zu haben. Bis heute gibt es noch immer die Vorstellung, dass eine Frau ihr Lebensziel erst dann erreicht habe, wenn sie ein Kind geboren hat. Gleichstellungspolitisch wirkt die Zeit bis zu den 1990er Jahren noch nach, in der Frauen in vielen Gebieten dem Mann unterstellt war. Als alleinstehende Frau ein Kind über eine Samenspende zu bekommen, ist heute in der Schweiz rechtlich schwierig …

EBM: Es ist nicht erlaubt.

RO: Selbstständig kann das gemacht werden, aber eine Ärztin macht sich strafbar, wenn sie eine solche Insemination unterstützt. Warum ist bei einer Spermienspende aus dem Freundeskreis die ärztliche Beihilfe zur Insemination verboten? Solche Konstellationen würden eine persönliche Beziehung zwischen Spender und Kind ermöglichen. Warum wird das nicht gleich behandelt wie eine Spende einer Spermienbank?

EBM: Wahrscheinlich geht es um die Angst vor dem Konfliktpotenzial in solchen Konstellationen. Für die Spender ist das anspruchsvoll: Ich bin zwar nicht der Vater, sondern nur der Spender, aber plötzlich kommt doch der Wunsch nach einer Vaterrolle …

RO: Alternative Formen auszuprobieren ist immer eine Herausforderung. Uns fehlen sogar die Begriffe. Das zeigt sich an Ihrem Beispiel: Wir kennen nur den Begriff «Vater» und «Spender». Es bräuchte neue Begriffe für biologische und soziale Vaterschaft.

EBM: Dafür lässt das Schweizer Gesetz keine anonymen Spermienspenden zu. In anderen Ländern ist das häufig nicht so. Ich finde unsere Regelung, nach der das Kind mit achtzehn Jahren herausfinden kann, wer der Vater ist, sinnvoll.

RO: Die Nationale Ethikkommission hat empfohlen, dass das Kind auch schon vor der Volljährigkeit die Daten auf Wunsch erhalten könnte. Ich finde das eine gute Idee. Das Wissen über unsere Herkunft ist eine sehr wichtige Sache, gerade in der Pubertät.

Wenn wir noch bei der «Ehe für alle» bleiben: Die Spermienspende war in der Abstimmung überraschend unumstritten. Was aber immer wieder thematisiert wurde, war die Leihmutterschaft. Das überrascht, weil ihr Verbot in der Verfassung festgeschrieben ist und sie nicht zur Debatte stand.
Wieso wurden diese Themen verquickt?

RO: Diese Verquickung sagt viel über den Diskurs aus. Es wurden interessanterweise Lesben mit Schwulen verglichen und nicht Lesben und Schwule mit Heterosexuellen. Warum werden Minderheiten neben Minderheiten gestellt? Für das Verbot von Leihmutterschaft für alle gibt es gute Gründe: Es geht um den Schutz von Leihmüttern vor Ausbeutung. Hingegen gibt es bei der Spermienspende eine Ungleichbehandlung, die wir meiner Meinung nach nicht verteidigen können. Das ist eine Diskriminierung von lesbischen Paaren.

Gibt es ein Szenario, in welchem Leih­mutterschaft gesetzlich erlaubt und so ­geregelt sein könnte, dass sie ethisch vertretbar wäre und Leihmütter aus­reichend geschützt wären?

EBM: So, wie es jetzt läuft, finde ich es eine Katastrophe, und ich unterstütze niemanden bei diesem Wunsch. Transnationale Leihmutterschaften in Ländern wie Indien oder auch den USA halte ich, etwas drastisch ausgedrückt, für moderne Sklaverei. In der Pandemie gab es schreckliche Schlagzeilen von Fällen von Kindern, die in einem Hotel liegen und die niemand abholen konnte. Wenn Leihmutterschaft, dann in der Schweiz, geschützt und sehr gut bezahlt. Aber emotional ist Leihmutterschaft für mich undenkbar.

RO: Ich finde eine gute Lösung auch schwierig vorstellbar. Vielleicht wäre das Gegenteil Ihres Vorschlags denkbar: altruistisch, ganz ohne Bezahlung ausser den realen Kosten, im Freundeskreis. Aber das führt zu weiteren Problemen.

Eine weitere Technologie ist das Social Freezing. Sie wenden das in Ihrer Praxis an, Frau Berger-Menz. Was beinhaltet diese Methode?

EBM: Eizellen durchlaufen, wie der Rest des Körpers, einen Alterungsprozess. Je älter eine Frau ist, desto mehr haben diese Zellen genetische Schäden und desto weniger sind sie befruchtbar. Die Wahrscheinlichkeit, ein Kind zu bekommen, sinkt mit dem Alter, und Aborte werden häufiger. Vom Gesetz her dürfen wir Eizellen einfrieren und bis zu zehn Jahre aufbewahren, auch ohne medizinische Indikation wie beispielsweise Krebs. Die Nachfrage nach diesem Social Freezing hat seit der Änderung des Fortpflanzungsmedizingesetzes 2016 zugenommen. Insbesondere die Altersgruppe zwischen dreissig und fünfunddreissig nutzt dieses Angebot, häufig Akademikerinnen. Es kommt zu anspruchsvollen Gesprächen, weil sich viele Frauen Social Freezing zu einfach vorstellen. Die Behandlung ist anstrengend und kostet sehr viel, die Erfolgschancen sind begrenzt.

Ist Ihre Perspektive repräsentativ für Schweizer Reproduktions­mediziner*innen?

EBM: Nein, gar nicht. Ich bewerbe Social ­Freezing nicht. Es gibt Kliniken, die wie wahn­sinnig einfrieren. Und es gibt Arbeitgeber, die das ihren Angestellten bezahlen. – Grundsätzlich verstehe ich die Gründe für Social Freezing gut und denke manchmal, ich hätte das auch machen sollen. Dann hätte ich jetzt vielleicht nicht nur ein Kind, sondern mehrere. Ich hatte als Akademikerin mit viel Arbeit lange gar keinen Platz für Familienplanung.

RO: Auch ich finde das Social Freezing ein gutes Beispiel dafür, wie institutionelle Ungleich­heiten auf das Individuum heruntergebrochen werden. Das Individuum, in diesem Fall die Frau, hat ein kleines Zeitfenster, gleichzeitig gehört es dazu, ein Kind zu bekommen, und ist mit sozialem Druck verbunden, auch wenn es dem persönlichen Wunsch entsprechen mag. All das wird dann auf dieses Social Freezing geladen, was als Technologie, wie Sie sagen, vielleicht eine tolle Sache ist. Wenn wir die Technologie einbetten in ungerechte Systeme, wird es schwierig. Mit Ungerechtigkeit meine ich zum einen, dass diese Kopplung zwischen Elternschaft und Weiblichkeit besteht, zum andern die ungelösten Betreuungsfragen, wo es immer noch so ist, dass Frauen den Grossteil an Arbeit übernehmen. All das wird auf dem Rücken des Individuums ausgetragen und Social Freezing als Lösung angeboten. Deshalb Social Freezing verbieten zu wollen, löst das Problem allerdings auch nicht.

Diese Methode steht im Kontext unseres Wirtschaftssystems: Stichwort Leistungsdruck in Frauenbiografien und die ­enormen Behandlungskosten. Die kapitalistische Wirtschaftsweise trägt dazu bei, den endlosen Machbarkeitswahn aufrechtzuerhalten.

RO: Die zentrale Frage ist für mich: Wie wollen wir leben? Geht es uns um die Wirtschaft, darum, wie viel wir verdienen, wie wir mehr Wohlstand generieren, mehr produzieren und mehr konsumieren? Solange wir eine Gesellschaft haben, in der es ein Nachteil ist, ein Kind zu kriegen, weil ich dann bei der Arbeit ausfalle oder meine Karriere nicht verfolgen kann, liegt der Schwerpunkt ganz klar bei der Arbeit. Dann könnten wir beispielsweise mit einer Elternzeit, in der beide Elternteile gleich lange «ausfallen», Gegensteuer geben. Wir müssen über Lohngleichheit sprechen und über unterschiedliche Lebensformen – mit oder ohne Kind.

In der Pränataldiagnostik hat sich die Technik rasant weiterentwickelt. Es ist inzwischen sehr viel leichter möglich, Trisomien zu erkennen, auch ohne ­Fruchtwasserpunktion. Das stellt die grosse Frage: Wer darf eigentlich zur Welt kommen?

EBM: Ich weiss es nicht. Wahrscheinlich darf zur Welt kommen, wer erwünscht ist. Und das ist sehr individuell.

RO: Neben der Frage, wer zur Welt kommen darf, gibt es auch die Frage, wer muss. In der katholischen Kirche galt früher ein ganz klares Muss. Historisch lässt sich aber rekonstruieren: In der griechischen Denkweise sprach man von der Beseelung eines männlichen Fötus nach vierzig und eines weiblichen nach neunzig Tagen. Die Kirche sprach dann von achtzig. Es war legal, innerhalb der ersten drei Monate abzutreiben. Erst im 19. Jahrhundert, mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zur Zeugung, entschied Papst Pius X. 1869, dass Abtreibung ab der Zeugung verboten sei. Das zeigt gut, dass sich Wertvorstellungen – auch in der Kirche – entwickeln. Punkto Abtreibung galt in der Ethik lange «Frau versus Kind»: Die böse Frau will das arme Kind nicht, wir müssen also als Gesellschaft das Kind schützen. In empirischen Untersuchungen zeigte sich aber: Die befragten Frauen denken nicht so, sondern vielmehr: Ich habe Verantwortung für ein Kind. Was für ein Leben kann ich diesem Kind ermöglichen, was kann ich nicht? Vor diesem Hintergrund sind Selbstbestimmung und Verantwortung die zentralen Begriffe, weniger «dürfen» oder «müssen».

Menschen mit Behinderungen kritisieren aber, wie ihr Leben eingeschränkt, ­pro­blematisiert und als nicht lebenswert abgetan wird. Sind nicht bestimmte ­technische Möglichkeiten mit der Vorstellung verknüpft, es sei möglich und ­wünschenswert, Leben mit Behinderung zu verhindern?

BM Wir werden nie alle Krankheiten oder Behinderungen vorgeburtlich erkennen und viele Paare wollen nicht wissen, ob ihr Kind eine Behinderung hat, andere wollen das Kind auch austragen mit Behinderung!

RO: Eine Frau, die sich für eine Abtreibung eines behinderten Kindes entscheidet, spricht damit nicht allen Menschen mit Behinderung das Recht auf ein würdevolles und erfülltes Leben ab. Sie entscheidet individuell: Ich kann ein Kind mit Behinderung in dieser Gesellschaft nicht begleiten. Die zentrale Frage nach einer inklusiven Gesellschaft dürfen wir nicht zu sehr mit Abtreibung verlinken. Nicht die Technologien sind das Gefährliche, sondern unsere Normen und Bewertungen in der Gesellschaft. Wenn ich als Frau weiss, dass mein Kind mit einer Behinderung in unserer Gesellschaft ein schönes Leben haben kann, ich nicht als Familie in Armut leben muss, die Betreuung meines Kindes organisiert werden kann, dann sind diese Sorgen nicht Teil der Abwägung, ob ich das Kind haben kann oder nicht.

EBM: Mir macht Sorge, dass dieses Thema von Abtreibungsgegner*innen instrumentalisiert wird und sie das Recht auf Abtreibung wieder in Frage stellen.

Sprechen wir über das Thema der reproduktiven Selbstbestimmung. Wer über das Internet versucht herauszufinden, welche Ärzt*innen im Raum Bern Abtreibung anbieten, findet kaum etwas. Gibt es Hemmungen, das öffentlich auszuschreiben? Ist es, weil dieses Thema so un­glaublich aufgeladen ist und rechtskonservativ massiv bespielt wird?

EBM: Ich habe Abtreibungen durchgeführt und führe sie noch immer durch, aber ich kenne Kolleg*innen, die sie aus religiösen Gründen verweigern. Auf der Homepage schreibt niemand: Ich mache Abtreibungen. Aber jede Gynäkologin lernt dies in der Ausbildung. Es ist ein Tabuthema. Die Gefahr besteht, dass man Frauen dieses Recht wieder wegnimmt.

RO: Selbstbestimmung ist kein linearer Prozess. Es wird nicht einfach immer besser. Gewisse Rechte können ganz schnell wieder weg sein. Auch in der Schweiz.

Es sind nicht zuletzt religiös-fundamentalistische Kräfte, die die reproduktive Selbstbestimmung von Frauen einschränken wollen. Wie können progressive Bewegungen, auch religiöse, darauf reagieren?

RO: Das Abtreibungsverbot der Kirche steht ja so nicht in der Bibel. Wir müssen uns bewusst sein, dass die Kirche Regeln folgt, die nicht unbedingt aus den Quellentexten des Christentums ableitbar sind. Der Schweizerische Katholische Frauenbund hat das Leid der Frauen ins Zentrum gestellt. Es geht nicht um Frauen, die ein «liederliches» Leben führen. Der Begriff «liederlich» stand bis in die 1980er Jahre in unseren Gesetzbüchern. Warum wird Frauen nicht zugestanden, eine schwierige Entscheidung verantwortlich zu treffen?

EBM: Es gibt heute mit einer liberalen Gesetz­gebung nicht mehr Abtreibungen als früher. Die Frauen wurden nicht «liederlicher»! – Kürzlich war ein Paar bei mir in der Praxis. Die Frau wollte abtreiben, der Mann nicht. Das war heftig. Ich habe mir vorher nie überlegt, was das für die Männer bedeutet. Für mich war klar, dass die Frau das Recht hat zu entscheiden, ob sie diese Schwangerschaft will oder nicht.

Was für Männerrollen und Verantwortlichkeiten von Männern punkto Reproduktion und Familie erleben Sie in der Praxis?

BM: Ich sehe die ganze Palette. Ich finde, die Männer müssen sich neu definieren. Der «starke Mann» hat ausgedient, und der, der auch gerne für Kinder sorgen möchte, hat noch zu wenig Platz.

RO: Solange wir noch Dinge sagen wie «Der Mann ist ein Lieber, er hilft im Haushalt», sind wir noch nicht so weit … Männer müssen sich eine neue Rolle erarbeiten, mit den ganzen Kämpfen, die dazu notwendig sind. Wenn der Mann ein Kind haben möchte, muss die Arbeit auch entsprechend aufgeteilt werden. Es muss entsprechend Lohngleichheit und Teilzeit­stellen für alle geben.

Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen prägen die Diskussionen um Reproduktions­medizin sehr stark. Geht es eigentlich um gesellschaftliche Veränderungen und gar nicht um die Frage, welche Probleme Reproduktionsmedizin lösen kann?

RO: Ja, mit einem Blick in die Zukunft: Wie gehen wir mit schwangeren Männern um? Mit Frauen, die ein Recht auf ihre Spermienzellen haben? Wie gehen wir mit Elternschaft um, die vier Personen involviert? Wer ist dort rechtlich berechtigt, für das Kind zu sorgen? Wer kann das Kind beerben? All diese Fragen finde ich sehr wichtig. Und, die alte, ungelöste Thematik: Jede sechste alleinerziehende Person ist armutsbetroffen – wie können wir bei einer solchen Zahl als Gesellschaft so wenig tun?

 

Elisabeth Berger-Menz, *1962, ist Gynäkologin und Geburtshelferin mit Spezialisierung in Repro­duktionsmedizin. Sie ist seit 22 Jahren selbstständig
in ­ihrer Praxis tätig und Belegärztin am Linden­hofspital Bern.

Regula Ott, *1984, ist Bioethikerin und arbeitet
als Lehrbeauftragte an der Universität Zürich
und an der Zürcher Hochschule für angewandte ­Wissenschaften ZHAW.

  • Matthias Hui,

    *1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation humanrights.ch.

  • Geneva Moser,

    *1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.