Nach dem Krieg

Matthias Hui, 9. April 2022
Neue Wege 4.22

Mascha musste Hals über Kopf aus Kharkiv fliehen. Es war zu Beginn der Angriffe der russischen Armee auf ihre Stadt im Osten der Ukraine. Sie schaffte die Reise bis nach Polen, zusammen mit ihrem Sohn, ihrer Tochter, deren Freund sowie Hund und Katze. Noch im Winter begegneten wir uns an ­einer Konferenz in Stockholm. Dort sprachen russische und ­ukrainische Menschenrechtsakti­vist*innen vom «Krieg», den das Putin-­Regime gegen ­alles führe, was sich seiner Politik in den Weg stelle. Dabei schlugen sie einen Bogen von Tschetschenien über Georgien, den Donbass und die Krim bis Syrien, einen ­Bogen von russischen Cyberattacken weltweit über die Rückendeckung für das Regime in Belarus, die immer grössere Repression gegenüber Menschenrechtsorganisa­tionen und systematische Kontrolle der öffentlichen Meinung in Russland bis zu Vergiftungen Oppositioneller und Ermordungen von Journalist*innen. Aber trotzdem konnte sich kaum jemand die brutale Zukunft des nun entfesselten Kriegs in der Ukraine ausmalen.

In meinen Ohren klang «Krieg» als Essenz russischer ­Politik drastisch. Ich zweifelte noch am Sinn dieses Vokabulars, zumindest für unsere eigene Debatte, in der wir ja auch eine grosse westliche Mitverantwortung am Scheitern eines «gemeinsamen europäischen Hauses» betonten. War es vorstellbar, dass Putin für eine brachiale Neuziehung von Grossmachtgrenzen und zur imperial-chauvinistischen Bekämpfung von Demokratie und «un­moralischen» LGBT-Prides einen Angriffskrieg führen könnte?

Menschen wie Mascha und ihre Kolleg*innen hatten seit ­Jahren eingefordert, dass wir die massiven Verletzungen von Völkerrecht und Menschenrechten durch das russische Regime als Ausdruck einer ungebremsten Eskalation wahrnehmen. ­Mascha erfuhr seit Jahren täglich, was Krieg und Besatzung bedeuten – etwa für Frauen, die die Mehrheit intern Vertriebener bilden. Die Schweizer Öffentlichkeit nahm solche Realitäten nur en passant zur Kenntnis. Auch in der Linken wurde ihre ­Tragweite kaum analysiert, es gibt nur wenige Entwürfe einer europäischen Friedenspolitik von unten. Ab und zu spotteten Medien über super­reiche Russ*innen mit ihrem ­Zweit­leben in Gstaad oder ­St. ­Moritz. Aber die Politik ging in Bern, Zug oder Genf weiter, als ob es uns nicht betreffen würde, dass 80 Prozent des russischen Erdöl- und Gashandels über die Schweiz laufen – Exporteinnahmen, die tag­täglich die Kasse füllen für den Krieg, den das Putin-Regime gegen alles führt, was sich ihm in den Weg stellt.

Manche erbosten sich zwar über schweizerische Sportfunktionäre, Bankenvertreter und SVP-Bundespräsidenten, die an Moskaus ersten Adressen ein- und ausgingen. Aber zu grossen Demonstrationen kam es erst nach dem Schock der Aggression gegen die Ukraine. Erst jetzt wird – einmal mehr – die Frage debattiert, worin der Zusammenhang zwischen der schweizerischen Neutralitätspolitik – mit guten Diensten in den Konflikten, in die Russland involviert ist – und florierenden Wirtschafts- und Handelsbeziehungen besteht. Bietet eine solche Aussenpolitik gar – gewollt und ungewollt – ein ­ideales Mäntelchen für gegenseitige wirtschaftliche Profitinteressen – und aus heutiger Sicht: ­russische Kriegsabsichten?

Die beeindruckenden Men­schenrechtsaktivist*innen aus der Ukraine wie Mascha veröf­fent­li­chen nun in den sozialen ­Medien laufend Bilder von allen möglichen Menschen in Uniform. Die Botschaft: Wir alle sind die Armee.
Jetzt ist nicht der Moment, um mit ihnen über meine grossen Zweifel am Sinn männlich-militärischer Landesverteidigung in Zeiten von Hochrüstung und Atomwaffen, am nationalistischen ­Drive demokratischer Bewegungen in Kriegszeiten oder an der rassis­tischen Unterscheidung ­zwischen ukrainischen und syrischen Kriegsflüchtlingen in Europa zu streiten. Aber wir werden für unsere extrem unterschiedlichen Erfahrungen, für unsere persönlichen Ängste und Zweifel und für ein paar bleibende Gewissheiten sehr bald eine gemeinsame Sprache suchen müssen.

Menschen aus Menschenrechts-, Friedens-, sozialen und feministischen Bewegungen aus Ost und West müssen so bald als möglich an die Arbeit. Wir müssen uns zu verstehen versuchen und uns verständigen. Wer entwirft Pläne für ein Europa jenseits der imperial-fossilen Lebens­weise? Für ein Europa, das alles in globale soziale Sicherheit, gewaltfreie Verteidigung und ökologisches Gleichgewicht investiert und nichts in Aufrüstung? Für ein Europa, das Grenzen für alle offenhält? Für ein Europa, das – statt Nationen und Religionen hochzuhalten, welche Ausgrenzung und Krieg zur Folge haben – an seine besten Glaubens- und Revolutionstraditionen anknüpft, mit denen der Aufbau einer anderen Welt in dieser möglich ist? Auf den Trümmern ukrainischer Städte, auf dem Scherbenhaufen ­europäischer und schweizerischer Politik.

  • Matthias Hui,

    *1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation humanrights.ch.