«Es ist und bleibt die revolutionärste Tat, immer das laut zu sagen, was ist.» Über Jahre besass ich ein Plakat, auf dem dieser Satz stand. Eigentlich war es ein grosses Bild von Rosa Luxemburg, eine alte Fotografie mit bräunlichem Stich. Aus einer anderen Zeit, schon ein bisschen verblichen. Ein Satz aus dem 19. Jahrhundert, ausgesprochen vom deutschen Arbeiterführer Ferdinand Lassalle, zitiert von Rosa Luxemburg. Bei jedem Büroumzug kam das Poster mit, erhielt es seinen Platz über meinem Tisch. Oft blieb mein Blick daran hängen oder streifte darüber.
«Laut» ist das Schlüsselwort in diesem Satz. Als junge Journalistin ahnte ich seine Bedeutung noch nicht. Im Lauf der Jahre aber erfuhr ich sie auf dramatische Weise. Zum ersten Mal 1989 in Rumänien. Im Sommer jenes Jahres vernahm ich auf einer Reise durch das Land nur ein leises, zitterndes Flüstern. Voller Angst. Wenige wagten es, der Fremden das Leben in der Diktatur zu schildern. Sie zogen mich in die hintersten Winkel ihrer Häuser und sprachen von Hunger, Angst, Unterdrückung und Verzweiflung. «Sag niemandem, dass du mit mir gesprochen hast. Verrat mich nicht.»
Ich reiste aus in der Überzeugung, dass dieser irre Terror von Nicolae Ceaușescu noch lange andauern würde. Nichts deutete auf einen Wandel hin. Aber nur ein paar Monate später, im Dezember, war aus dem Flüstern ein lauter Schrei geworden. Der Diktator war ein paar Tage später tot. Sein Regime, brutal und repressiv, am Ende. Die Angst in den Augen der Menschen wich der Freude und Euphorie. Welch ein Schritt, welch ein Mut! Dies mitzuerleben, war ein grosses Geschenk. Und bleibt es. Es ist, als ob es seither nie mehr ganz dunkel würde. Selbst der unterdrückte Mensch hat diese Kraft und den Mut, «laut zu sagen, was ist». Ich glaube nicht, dass die mutigen Menschen sich vor nichts fürchten. In Wirklichkeit ist ihnen die Angst sehr vertraut.
Elf Jahre nach dem rumänischen Aufstand durfte ich dabei sein, als sich die Strassen in Belgrad füllten zum Marsch gegen Slobodan Milošević, seinen Geheimdienst und seine Polizei. Ich erinnere mich an den Oktobermorgen im Jahr 2000, herbstlich kühl. Es war, als würde die Stadt den Atem anhalten. Alle wussten, dieser Tag würde die Entscheidung bringen. So oder so. Es war totenstill am frühen Morgen. Und am Abend bebte die Stadt unter den tanzenden, singenden Menschen. Es war sehr, sehr laut. Aber man konnte nicht genug davon kriegen. Milošević sass geschlagen im Palast, es war aus. Fast fünfzehn Jahre hatte er viele Menschen zum Flüstern gezwungen. Jetzt schallten ihre Stimmen durch die dicken Mauern seiner Villa direkt zu ihm, er musste sie hören. Und mir kam es vor, als schenke mir das Leben eine weitere Perle, die bis heute in dunklen Zeiten leuchtet.
Ich hatte das Rosa Luxemburg-Plakat längst nicht mehr, als das Flüstern wiederum elf Jahre später, 2011, am Nil endete. Ägypten, das hatte nochmals eine ganz andere Dimension: ein Aufstand gegen das bleierne Regime? Das Unvorstellbare geschah. Und der Chor der Stimmen war auffallend hell, viele Frauen fanden sich in den ersten Reihen. Diese Tage haben sich ganz tief eingraviert in der Erinnerung. Auch, weil viele uns teilhaben liessen an dem, was mit und in ihnen geschah. Unvergessen, Fathi, ein junger Schneider. Ein Mensch, der zum ersten Mal in seinem Leben «laut sagen konnte, was ist». Und zum Bürger, zum Individuum erwachte. Er teilte seine tiefe Erfahrung mit uns. Er hatte sein Leben am Rand der Gesellschaft angenommen als Schicksal. «Ich habe Mubarak und all die reichen und mächtigen Menschen im Fernsehen gesehen und mir nie Gedanken gemacht, warum die in ihren Palästen leben und ich in der Schneiderei fast verhungere. Allahs Wille. Ich habe nie darüber nachgedacht, warum so viele Leute in den Gefängnissen sind, und ich wusste nicht, dass sie gefoltert wurden.» Ausgebeutet und ungebildet. Das einzige Vergnügen seines Lebens war der Kinobesuch am Freitagabend. Noch ganz verträumt verliess er auch am Abend des 28. Januar 2011 das Kino und wollte wie üblich zurückfahren in seine Wohngegend, ein Armenviertel am Rand von Kairo. Aber die Innenstadt war in Aufruhr: «Es war der Tag des Zorns», der erste Höhepunkt des Aufstandes. Fathi kam aus dem Kino und sah sich umgeben von DemonstrantInnen und knüppelnden Polizisten. Er wusste nicht, wie ihm geschah, er wusste nicht, was geschah. Studentinnen und Aktivisten kümmerten sich um ihn. «Sie behandelten mich, als ob ich einer von ihnen wäre.» Mit Achtung. Nahmen ihn ernst. «Ich habe noch nie so etwas erlebt», sagte er Tage später, laut, in aller Öffentlichkeit. Und er sprach über sein Leben, über die Perspektivlosigkeit und die Armut, die seine Tage und Jahre geprägt hatten. Er begann zu reflektieren, was war und was ist. Und in seinen Augen leuchtete etwas, für das man das Wort lange suchen musste. Nicht Freude war es, nicht Glück, es war, als ob dieser Mensch in seinem Innersten staunte. Als ob ihn diese Erfahrung zutiefst ergriffen hätte. «Ich bin jemand. Ich habe Rechte. Ich bin ein Mensch.» So sagte er es. Fathi kam jeden Tag auf den Tahrir-Platz, blieb bis zum Ende des Aufstands. Unauslöschlich, dieser Moment für mich. Und – so denke ich – unauslöschlich, diese Erfahrung für den jungen Mann. Für immer verändert in seinem Bewusstsein.
Eine geschenkte Perle, zu der ich besonders Sorge trage.
Wenn man heute die ägyptischen Aktivistlnnen von 2011 fragt, sagen viele: «Es hat sich nicht gelohnt. Es ist schlimmer als vorher. Der Preis war zu hoch. Die Konterrevolution hat alles überrollt.» Auch in Rumänien und in Serbien haben die alten Kräfte wieder das Sagen. Die Korruption grassiert, die BürgerInnen- und Menschenrechte werden eingeschränkt, das freie Wort ist bedroht. Die, die laut sagten, was ist, müssen wieder flüstern. Ich weiss, dass die Lage in Ägypten heute der reine Horror ist, in jeder Beziehung. Aber ich weiss nicht, wo Fathi ist und was er macht. Vielleicht verflucht er den ganzen Aufstand und sein Leben. Vielleicht mag er nichts mehr hören von Ungerechtigkeit und von Menschenrechten. Ich denke sehr oft an ihn und an diesen Moment, in dem er erwachte und sich selbst wahrnahm und Solidarität, Respekt und Menschlichkeit erfuhr. Diese Erfahrung, die zugedeckt und verdrängt werden kann, aber nie mehr gelöscht.
Die BürgerInnen in Diktaturen riskieren alles. Aber Rosa Luxemburg und Ferdinand Lassalle richteten sich nicht nur an sie. Überall laut sagen, was ist, nicht relativieren und vergleichen. Sondern dort marschieren, wo man steht. Vor allem, wenn der Backlash so immens ist, der Rückschritt so krachend offensichtlich. Und was gibt es Grösseres als unseren Planeten? Viele – vor allem junge Menschen – haben dies begriffen. Keine Resignation. Kein Flüstern. Ganz im Sinn von Rosa Luxemburg.●