In Nothilfe­lagern wird nicht gewohnt

Simone Marti, 23. März 2020
Neue Wege 4.20

Asylsuchende Menschen, deren Gesuch abgelehnt worden ist, werden in Nothilfelagern untergebracht. Eine selbstbestimmte Gestaltung des Lebens wird in «totalen Institutionen» verunmöglicht. Statt um das Wohnen geht es um das Überleben.

Das Wort wohnen bedeutet «seinen ständigen Aufenthalt haben». Es kommt vom alt- und mittelhochdeutschen «wonen»: «sich aufhalten», «bleiben», gar «zufrieden sein mit».

Es gibt Orte, an denen Menschen leben oder untergebracht werden, die aber den Kontrapunkt zu «wohnen» bilden. In der offiziellen schweizerischen Behördensprache heissen diese Orte «Notunterkünfte», «Sachabgabezentren» oder «Minimalzentren». Diese politische und administrative Sprache banalisiert jedoch die Gewalt, die in solchen Räumen an den darin lebenden Menschen ausgeübt wird. Sie banalisiert, was in diesen Räumen verunmöglicht wird: wohnen, bleiben, zufrieden sein. Ich nenne sie deshalb Nothilfelager, um der Banalisierung zumindest sprachlich entgegenzutreten.

In Nothilfelager kommen asylsuchende Menschen, deren Gesuch von den Behörden abgelehnt wurde. Ihre Fluchtgründe werden nach dem herrschenden Asylrecht nicht anerkannt. Deshalb müssen sie die Schweiz verlassen. Sie erhalten einen Wegweisungsentscheid mit einer Ausreisefrist. Nach Ablauf der Frist haben sie keine Aufenthaltsberechtigung in der Schweiz mehr. Die Behörden ordnen dann die Ausschaffung an, die sie mit verschiedenen Zwangsmassnahmen durchsetzen können. Die Menschen werden aus Sicht der Behörden zu «Illegalen», können jederzeit in Ausschaffungshaft genommen werden und erhalten deshalb keine staatlichen Leistungen mehr. Auf eigenes Ersuchen hin erhalten sie Nothilfe. Das Recht auf Hilfe in Notlagen ist ein Grundrecht in der schweizerischen Bundesverfassung. Die Anwendung im Asylbereich bedeutet für die betroffenen abgewiesenen Geflüchteten konkret: Natural- und Sachleistungen von ungefähr acht Franken pro Tag und Person. Zudem haben sie Anrecht auf medizinische Notfallversorgung. Und sie werden einem Nothilfelager zugewiesen.

Ich setze mich seit Jahren gegen die herrschende repressive Asylpolitik ein und habe eine Dissertation zur Nothilfe in der Schweiz verfasst. Dabei habe ich mit Behörden gesprochen, Dokumente über die Nothilfe gelesen und mich in Nothilfelagern aufgehalten, wo ich mit den Menschen über ihre Situation sprach. Ein Bundesbeamter, mit dem ich ein Gespräch über die Anfänge der Nothilfe führte, erklärte mir, dass die Zuweisung in ein Nothilfelager für die betroffenen Menschen ein Zeichen sein soll, dass sie jetzt wirklich gehen und die Schweiz verlassen müssen. «Schau, jetzt ist fertig!», so drückte er sich aus. Nothilfelager stehen an unterschiedlichen Orten in der Schweiz, und es sind unterschiedliche Gebäude. Oft werden abgelegene Orte ausgesucht, Pässe, Berge, oder sie liegen an den Rändern von Dörfern oder Städten. Es sind häufig Militärbaracken, ehemalige Heime oder unterirdische Zivilschutzanlagen. Die Schaffung der Nothilfelager hat zum Ziel, diese möglichst unattraktiv zu gestalten, damit die betroffenen Personen nicht noch länger in der Schweiz verweilen. In einem Vertrag einer kantonalen Migrationsbehörde mit einer Organisation, die ein solches Lager führt, steht: «Das festgelegte Setting soll dazu beitragen, dass Ausreisepflichtige sich rasch darum bemühen, selbstständig die Schweiz zu verlassen.»

Um 23 Uhr muss die Unterschrift da sein

Eines der Nothilfelager, in dem ich mich für meine Forschungsarbeit längere Zeit aufhielt, lag auf 1000 Meter über Meer. Khalil1 hatte bereits seit vier Jahren in der Nothilfe und seit etwa einem halben Jahr in diesem Lager gelebt, nachdem er wieder einmal aus der Haft aufgrund «illegalen Aufenthalts» entlassen wurde. Er steht an der Tür parat, als ich das erste Mal zum Lager gehe. Er begrüsst mich mit einem breiten, ironischen Grinsen: «Welcome to hell!» Er führt mich durch das Gebäude. Durch die Tür kommt man in einen grossen Aufenthaltsraum. Er ist dunkel. Ein Fernseher steht dort. Plattenboden. Zur linken Seite befindet sich eine Küche für die über sechzig Menschen, die hier leben müssen. Es hat mehrere Kochherde, und ein Rüstkorpus steht in der Mitte. Die Küche ist von 8 bis 14 Uhr und von 16 bis 22 Uhr geöffnet. Die Leute erhalten beim Eintritt in das Lager Kochutensilien: eine Pfanne, Teller, Besteck, ein Glas und eine Tasse. Das müssen sie in ihren Zimmern aufbewahren. In der Küche gibt es keinen Tisch für das gemeinsame Essen. Es hat in diesem Lager einen Laden mit Nahrungsmitteln und Hygieneprodukten. Er ist zweimal in der Woche zwei Stunden geöffnet. Die Leute können, wenn sie ihre Anwesenheit jeden Tag auf einer Präsenzliste bezeugen, für die acht Franken Nahrungsmittel beziehen. Kommen sie zu spät, erhalten sie nichts.

Es gibt einen kleinen Fitnessraum im Lager. In den oberen Stockwerken sind die Zimmer. Doppelstockbetten bieten Platz für drei bis vier Personen. In den meisten Lagern sind es gar Achter- oder Zwölfer-Zimmer. In Khalils Zimmer stehen ein Kühlschrank und je ein Spind, in denen er und seine Zimmerbewohner ihre Habseligkeiten einschliessen können. Es hat es sogar Platz für ein kleines Tischchen und einen Stuhl. Als wir dort Nescafé trinken, sitze ich auf dem Stuhl, Khalil und einer seiner Zimmergenossen auf den unteren Betten. Die Tasse für meinen Kaffee hat sich Khalil von einem Freund aus einem anderen Zimmer ausgeliehen.

In diesem Lager gehört die Hausordnung zu den ersten Dingen, die mir sofort auffallen. Sie ist im Aufenthaltsraum an die Wand gepinnt: neun A4-Seiten voller Regeln. Auf diesen neun Seiten stehen Anweisungen wie «Die Präsenzkontrolle findet täglich von 22.30–23 Uhr statt.» Die Leute müssen dann am Büroschalter unterschreiben. Ein Mitarbeiter erklärt mir, dass sie diese Zeit festgelegt hätten, damit die Leute auch hier übernachten. Denn danach gebe es keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr, um wieder wegzukommen. So würden sie draussen nichts anstellen. Es steht weiter in der Hausordnung, dass, wer nicht im «Laden» erscheine, auf die Lebensmittel verzichte und rückwirkend keine mehr erhalte. Für jeden Tag, an dem die Leute nicht unterschreiben, würden ihnen die acht Franken in Form von Nahrungsmitteln abgezogen. Die Küche dürfe nur zu den «präzisen» Öffnungszeiten benutzt werden. Um 22 Uhr herrsche draussen Nachtruhe, um 24 Uhr im Lager.

Im Vertrag mit dem Kanton und der Organisation, die das Lager leitet, steht in Bezug auf die Hausordnung, dass es Aufgabe der Organisation sei, «einen reibungslosen Betrieb» zu gewährleisten: «Das Zusammenleben in einem Nothilfelager (SM) erfordert klare Spielregeln. Die Organisation erarbeitet deshalb eine Haus­ordnung, die überwacht und durchgesetzt wird.» Jede Person, die in ein Nothilfelager kommt, werde bei «Eintritt über die Hausordnung und deren Einhaltung informiert».

Keine Arbeit, dauernde Kontrolle

Mit diesem kurzen Einblick sind die Strukturen in einem Nothilfelager erkennbar: Das Setting ist so gestaltet, dass es für die Menschen, die sich dort aufhalten müssen, möglichst unattraktiv ist. Die Einrichtung ist so angelegt, dass eine selbstbestimmte Gestaltung des Alltags und des Zusammenlebens verunmöglicht wird. Einerseits gibt es keinen Raum für Privatsphäre, da die betroffenen Menschen mit anderen Personen ein Zimmer teilen müssen. Für viele Dinge im Alltag gibt es Regeln, die zu erfüllen sind. Regelbruch wird durch den Entzug der Nothilfeleistung sanktioniert. Denn, so steht es im bereits erwähnten Leistungsvertrag zwischen den Behörden und der Organisation, «wer seine Präsenz nicht belegt, zeigt damit, dass er im Prinzip nicht nothilfebedürftig ist». Die Menschen in den Lagern dürfen nicht arbeiten, und das Nothilfelager, so steht es im Vertrag, «bietet keine Tagesstruktur». Einzig Workfare ist erlaubt. Das sind Reinigungsarbeiten wie beispielsweise die Küche reinigen, Wäsche waschen, den Aufenthaltsraum sauber halten oder die Toiletten reinigen. Wenn die Menschen die Reinigungsarbeiten zur Zufriedenheit des Personals, das diese täglich kontrolliert, verrichten, erhalten sie zwei Franken fünfzig mehr Nothilfeleistungen. Sonst gibt es nichts.

Im zweiten Lager, das ich besuchte, haben sich dreissig Menschen eine Küche, ein Bad und zwei Toiletten geteilt. Das Lagerleben wird bestimmt von der Hausordnung. Diese wird vom Personal durchgesetzt. Regelüberschreitungen werden sanktioniert. Zudem herrscht eine Atmosphäre der dauernden Kontrolle, da das Personal sowohl die Regeln überprüft, die Präsenz überwacht als auch das Workfare beurteilt. Auch müssen die betroffenen Menschen, wenn sie Medikamente brauchen oder anderes, das nicht im lagerinternen Laden erhältlich ist, das Personal fragen – meist an einem dafür eingerichteten Schalter. Diese Atmosphäre bewirkt, dass es keine Selbstbestimmung gibt.

Totale Institutionen greifen die Identität der Menschen an

Der Soziologe Erving Goffman hat in seiner 1961 erschienenen Aufsatzsammlung Asyle das soziale Leben in von ihm bezeichneten totalen Institutionen untersucht: «Eine totale In­stitution lässt sich als Wohn- und Arbeitsstätte einer Vielzahl ähnlich gestellter Individuen definieren, die für längere Zeit von der übrigen Gesellschaft abgeschnitten sind und miteinander ein abgeschlossenes, formal reglementiertes Leben führen.» (Goffman 2014) Ich verstehe Nothilfelager als totale Institutionen. Die Leute müssen in Nothilfelagern leben. Sie sind nicht eingesperrt, aber sie haben durch die finanzielle Einschränkung wie auch durch die ständige Gefahr, von der Polizei aufgegriffen und in Haft genommen oder ausgeschafft zu werden, einen eingeschränkten Kontakt zur Aussenwelt. Ihr Alltag ist reglementiert durch eine Organisation, die ein Setting zu schaffen hat, das möglichst nicht zum Verweilen einlädt. Goffman entwickelte sein Konzept der totalen Institution vor allem aufgrund seiner Forschungen in einer psychiatrischen Klinik. Spannend ist, dass er untersuchte, wie die Strukturen der Institution auf das Selbst und die Identität der Menschen wirken. Er erklärt, wie es in der Logik einer jeden totalen Institution liegt, dass ein Regelsystem herrscht und die Individuen darin einerseits einer dauernden Kontrolle unterliegen, andererseits permanent einer Reihe von «Erniedrigungen, Degradierungen, Demütigungen und Entwürdigungen» ausgeliefert sind. Die Menschen seien dauernden «Angriffen auf ihr Selbst» ausgesetzt. Totale Institutionen, egal mit wie viel humanitärem Anspruch sie geführt werden, schädigen die Identität der Menschen. Somit gilt es, so Goffman, für die Menschen, die in einer solchen Institution leben, Mittel zu finden um zu «überleben» – verschiedene Formen der Anpassung, offener oder heimlicher Widerstand.

Wie sich das anfühlt, eine solches «Überleben»? Mitra, der seit mehr als sieben Jahren in der Nothilfe lebt, erklärt: «Es ist psychologisch, weisst du. Wenn du hierhin kommst, dann dringt es automatisch in den Kopf. Hier sind fünf Leute in einem Zimmer. Die Atmosphäre ist wie blockiert. Denn hier gibt es nur Leute mit Problemen. Hier sprechen wir nur über Probleme. Alle hier sind blockiert.» Prajun, der auch seit Jahren in der Nothilfe lebt, bringt seine Erfahrung wie folgt auf den Punkt: «In diesem Zentrum stehen alle unter Druck. Wenn sie einen Tag hier sind, ist es noch ok, zwei Tage sind auch noch ok, aber langsam, langsam werden alle krank im Kopf. Ich sage zu den Leuten, ich bin zwei Jahre hier, ich bin ein kranker Mann, lasst mich in Ruhe!»

Steine im Weg

Sowohl Prajun wie auch Mitra haben jedoch Strategien, um sich nicht von dieser institutionellen Logik der totalen Institution überwältigen zu lassen. Beide geben sich beispielsweise einen strikten Tagesablauf, den sie einhalten. Oder sie sorgen füreinander, indem sie miteinander kochen, sich aushelfen mit dem Wenigen, das sie haben. Sie bleiben stark und wehren sich: «Sie machen viel Druck auf uns. Wir müssen aufpassen, denn sie wollen uns kaputt machen. Sie wollen, dass wir sagen: ‹Ich gehe weg von diesem Land›. Das ist ein psychologischer Krieg. Man muss stark sein. Ja, ich kann leider keine Steine werfen gegen diese Behörden. Aber wenn sie mir Steine in den Weg legen, dann lache ich. Eines Tages müssen sie ja in die Knie gehen.»

Von «Wohnen» kann in diesen Lagern nicht die Rede sein. Wohnen hat etwas mit bleiben, zufrieden sein, mitgestalten, bestimmen und mit Privatheit zu tun. Lager verhindern aus ihrer Logik heraus dies alles: Es sind totale Institutionen, die durch ihre Organisation und ihr Ziel die Identität der Menschen schädigen. Lager sind Orte des Überlebens. Egal, wie sie geführt sind, folgen sie als totale Institution einer Logik, die die Identität von Menschen angreift. Politiker*innen und Behörden schaffen durch die Lager zudem einen dauernden Zustand der Prekarität für die betroffenen Personen. Sowohl im Lager wie auch ausserhalb können sie sich nicht ohne Angst bewegen – sie könnten jederzeit ausgeschafft werden. Ziel dieses System ist es, dass die betroffenen Personen selber entscheiden auszureisen – sei es freiwillig unter Kontrolle der Behörden oder indem sie untertauchen und in einem anderen europäischen Land unter gleich prekären Umständen ihr Leben gestalten müssen. Diese Regierungsweise, die mit Zwang auf die Menschen einwirkt, um sie dazu zu bringen, das zu tun, was von ihnen verlangt wird, ist zutiefst diskriminierend und menschenverachtend.

Deshalb gilt es, der aktuellen Asylpolitik und insbesondere der Banalisierung von Lagern entgegenzutreten. In Lagern wird nicht gewohnt, sie bieten kein «Dach über dem Kopf» im humanitären Sinne. Das Wort «Hilfe» ist der Logik einer totalen Institution nicht inhärent. Lager schädigen Menschen. Wir müssen eine «No-Lager-Politik» etablieren: Das heisst: für die Abschaffung von Lagern kämpfen und für ein politisches System, dass allen geflüchteten Menschen ein selbstbestimmtes Leben – und damit auch selbstgestaltetes Wohnen – ermöglicht.

  1. Alle Namen sind geändert.

Literatur:
Erving Goffman: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt am Main 2004.