Notizen und Details zu Kurt Marti

Meret Matter, 7. Januar 2021
Neue Wege 1/2.2020

Der Band ‹Notizen und Details› gab Anlass für späte Begegnungen zwischen zwei Menschen unterschiedlicher Generationen. Erinnerungen an Besuche bei Kurt Marti.

Ich nahm Kurt Marti, der ein Freund ­meiner Eltern war, erst richtig wahr, als ich nach ­meiner Schauspielausbildung mit zwanzig als Sprecherin beim Oratorium Sunt lacrimae rerum dabei sein durfte. Dieses Oratorium für den Planeten des Lebens ist eine Komposition von Daniel Glaus. Dort gab es neben den ­Passagen für die Sänger auch einen Part für eine Sprecherin, den mir Döfe Burkhardt, der die Chöre des Neufeld-Gymers jahrelang höchst inspirierend leitete, übergab.

Zu diesem Werk hatten Kurt Marti, ­Dorothee Sölle und Adolf Muschg Texte beigetragen. Die Radikalität ihrer Texte hat mich tief beeindruckt. Nie hatte ich ­vermutet, dass Theologie so politisch sein könnte. So fing mich ­dieser Kurt Marti, der für mich vorher unter den Freunden meiner Eltern eher ein langweiliger Pfarrer war – nicht etwa wie Klaus Schädelin, der mit uns Kindern herumalberte –, doch an zu interessieren. Ich lernte Texte und Gedichte von ihm kennen, bewunderte seinen Scharfsinn, aber auch seine Verschmitztheit, seinen Humor, seine politische Haltung zum Beispiel mit der Erklärung von Bern oder seinen feministischen Anspruch an die Theologie.

Ein theologischer Anknüpfungspunkt

Jahre vergingen, bis ich mit dreissig meine Tochter Maxie gebar. In dieser Zeit war es für mich schwierig, als freie Theater­schaffende mit einem Kleinkind berufliche Angebote zu erhalten, die nicht zu zeitintensiv waren. Da kam mir die Anfrage für Kurse mit ­reformierten Pfarrerinnen und Pfarrern sehr recht. Ich sollte sie bei ihrem Auftreten unterstützen, sowohl was die Sprechhaltung anging als auch was die Interpretation von (Bibel-)Texten betraf. Wahrscheinlich waren diese Theologinnen von meiner direkten Art, wie sie im Theater üblich ist, eher überfordert. Ich denke nicht, dass ich besonders geeignet war für diesen Unterricht. Aber ich machte dabei eine einschneidende Entdeckung: Die Predigten, die ich bisher gehört hatte, sowie die Art, wie meine Kursteilnehmerinnen Bibelpassagen vorlasen, schienen mir den biblischen Sinn zu ­entstellen. Das hatte speziell in der direkten Rede von Jesus gravierende Konsequenzen; seine Art, zu ­lehren und den Menschen zu predigen, bekam durch diesen Vortrag etwas Moralisches und Kleinliches. Ich empfand den Inhalt als verunglimpft und entdeckte dank dem Kurs, dass ich dem biblischen Jesus bisher nicht gerecht geworden war. Es schien mir möglich, ihn in der Art des Vortrags vollkommen anders zu vermitteln: freundlich, grosszügig, witzig, fragend oder unsicher. Äusserst sympathisch.

Diese Erkenntnis war für mich so entscheidend, dass ich sie unbedingt mit einem Menschen der Theologischen Fakultät besprechen wollte. Ich traf, selbstbewusst und naiv, einen Dozenten der Uni, der sich kaum dafür interessierte, was ich ihm Wichtiges mitzuteilen hatte. Weil er aber meinte, mein Anliegen sei mit Schauspielkollegen, die an der Uni Sprech­technik unterrichteten, abgedeckt, war der Fall erledigt. So schrieb ich Kurt Marti einen Brief. Daraus ergab sich der erste Anknüpfungspunkt. Er begriff genau, was ich meinte, und sah darin auch einen Kernpunkt. Mich ­faszinierte es, mit Kurt zu reden, nahm er mich doch trotz meiner Unwissenheit sehr ernst und setzte mir Sachverhalte genau auseinander. Das war unser erstes Treffen, und ich hoffte, es würden sich weitere Anlässe zu Gesprächen ergeben.

Für Marti auf Lesereise

Es vergingen wieder fünfzehn Jahre. Als sein Buch Notizen und Details. Beiträge für die Zeitschrift ‹Reformatio› von 1964 bis 2007 erschien, wurde ich als Vorleserin seines Werks vorgeschlagen. Er stimmte zu, vielleicht wegen des Gesprächs, das wir damals geführt hatten, vielleicht wegen seiner Freundschaft zu ­meinen Eltern. Jedenfalls las ich an der Buchvernissage im Berner Kornhaus. Nach der Veranstaltung lobte er mich und sagte mir, dass ihm die Art, wie Schauspieler seine Texte üblicherweise lesen würden, nicht gefiel. Es gelinge ihnen nicht, hinter den Inhalt zurückzustehen, es gehe ihnen vor allem darum, sich durch die Art des Vorlesens als Schauspieler selber zu profilieren. Und diese Aufmerksamkeit fehle dann dem Text. Ein Satz, den ich als Regisseurin sofort unterschreiben konnte. Ich war sehr erleichtert, dass er mit meinem Vortrag zufrieden war. So wollte er dann auch, dass ich ihn auf der Lesetour zu diesem Buch vertrat. Er sah sich zu dieser selbst nicht mehr im Stande.

Um ihm von meinen Erfahrungen mit den Texten und den Anlässen zu berichten, nahm ich meinen Mut zusammen und schrieb ihm, ob ich ihn in der Elfenau besuchen dürfe. Er lud mich zum Mittagessen in das Berner ­Altersheim ein, wo er unterdessen wohnte. Da wir einander nicht gut kannten, war ich etwas ­nervös. Aber es gab sofort viele ­Themen, über die wir ­sprachen. Nach mehreren Stunden ­verliess ich ihn, äusserst glücklich über das schöne Gespräch und mit der Bitte, wieder­kommen zu dürfen. Von da an besuchte ich ihn alle paar Monate, wenn mein Zeitplan es erlaubte, und genoss diese Mittagessen. Ich hatte ­endlich meinen Wunschgrossvater gefunden, den ich nie gehabt hatte, da meine beiden ­Gross­väter früh gestorben waren. Und ich glaube, er freute sich auch, wenn ich kam. Jedenfalls sagte er immer, wenn ich nach ein paar ­Stunden ging: Was, willst du schon ­wieder gehen? Die ­anderen im Raum waren wohl eher froh, da ich wegen seines Gehörs relativ laut sprach.

Er gab mir wichtige Impulse zu Themen, wusste auch, wo ich was nachlesen konnte. Egal, woran ich gerade arbeitete oder welche Fragen ich ihm stellte – er gab mir ­Hinweise, die weiterführten, Querverweise in Rich­tungen, die ich noch gar nicht entdeckt hatte. Dazu kannte er die Werke fast sämtlicher zeitgenössischer Autoren und Dichterinnen, unbekannterer Schweizer Kolleginnen und Kollegen. Ich war verblüfft, wie à jour er immer noch war.

Er erläuterte mir Fragen zur Theologie, die mich interessierten. Zu seinem Studium, zu Karl Barth und zu anderen Menschen, die ihn geprägt hatten. Zum Eklat, den Richard Dindos Film Dialog Christ–Marxist auslöste, der sein Gespräch mit Konrad Farner dokumentierte. Und die politische Reaktion darauf, dass der Berner Regierungsrat seine Berufung auf den vakanten Lehrstuhl für Homiletik verhinderte; dass er eigentlich gerne Professor geworden wäre. Was für ein Verlust für die Studierenden der Theologischen Fakultät, dass ihm dieser Lehrauftrag vorenthalten blieb.

Impulse und Horizonterweiterungen

Wie ernst er die Seelsorge als Teil seiner Arbeit als Pfarrer nahm und wie viel Aufwand das bedeutete, war mir nicht bewusst. Noch in ­seinem Alter stapelten sich Briefe von ­Menschen auf seinem Tisch, die Rat und Trost suchten, gerade von ihm, der selber oft ­verzweifelt war. Er sagte mir, er möge eigentlich nicht mehr antworten, er fühle sich dazu verpflichtet. Aber nun, im hohen Alter, würde er die Briefe zum Teil einfach liegen lassen. Mit schlechtem Gewissen.

Auch einige seiner Freundschaften kamen mehrmals zur Sprache. Seine Freundschaft zur Theologin und Dichterin Dorothee Sölle war für ihn von grossem Wert. Ich war ­dankbar, einen Mann aus seiner Generation zu ­erleben, der die Frauen ebenbürtig schätzte und so ­voller Hochachtung von ihrem Werk sprach. Oder seine Freundschaft zu Niklaus ­Meienberg. Er hatte ihn ein paarmal zu sich nach Hause an den ­Kuhnweg eingeladen und wollte ihm irgendwie das Gefühl geben, auch Teil seiner Familie zu sein, da er ihn immer als etwas verloren empfand. Meienbergs Tod hat Kurt sehr erschüttert.

Wir unterhielten uns auch über das ­Theater, obwohl er gar nicht gern ins Theater ging. Nur den Besuch von Dürrenmatts erstem Stück Es steht geschrieben im Zürcher Schauspielhaus hat er immer wieder belustigt wiedergegeben: wie die Leute pfiffen und scharenweise das Theater verliessen. Ich glaube, für Theater­besuche war ihm seine Zeit zu kostbar. Er hatte ja neben dem eigenen Schreiben und dem Lesen anderer Autorinnen und Autoren auch noch eine volle Stelle als Pfarrer zu bewältigen, war politisch engagiert und hatte eine grosse ­Familie. Über Rezensionen unterhielten wir uns und über die Möglichkeiten, mit ihnen umzugehen. Er meinte ganz pragmatisch, alle hätten mit schlechten Kritiken umgehen müssen, auch die begabtesten Menschen, das gehöre einfach dazu.

Zu jedem Thema, das ich anschnitt, kannte er Hintergründe: Zum Beispiel hatte ich in Jena ein Stück über den «Dritten Weg» gesehen. Menschen suchten nach dem Mauerfall nach Alternativen zwischen Sozialismus und freier Markwirtschaft. Da erzählte mir Kurt ausführlich über die Rolle der Kirche im Widerstand der DDR und auch über diese Hoffnung ­vieler auf einen dritten Weg, den eines demokratischen Sozialismus. Er hatte in der DDR viele Leser und Leserinnen. Kurt wurde dort auch zu einigen Lesereisen eingeladen, und seine Werke wurden teilweise zensiert.

Neben all den inspirierenden Momenten hatte Kurt auch sehr düstere Stimmungen, mit denen die Gespräche bei meinen Besuchen oft an­fingen. Dass es für ihn keinen Grund mehr gebe zu leben. Dass er dem Leben im Moment nichts abgewinnen könne. Wie mühsam es sei, dass seine Augen so schlecht seien, er kaum mehr lesen könne. Dann aber war jeweils bald ein tagesaktuelles Thema, etwas, was ihn ­politisch beschäftigte, Anlass zu einem angeregten Gespräch.

Oder kleine Details aus seinem Alltag: Er schwärmte von seiner liebsten Pflegerin, die Pina-Bausch-Fan war und nach Wuppertal zu Kursen reiste. Sie schätzte er sehr. Und es amüsierte ihn, wenn er nackt auf dem Balkon erwischt wurde und eine Pflegerin ihn hereinholte mit den Worten: «Also Herr Pfarrer!» Er finde nun mal Sonne auf der blutten Haut eine der schönsten Empfindungen, die ihm noch blieben.

Abschied bei Vollmond

Als er endlich hatte sterben können, erhielt ich Bescheid von meiner Mutter. Es war schon gegen Abend und die Besuchszeit in der ­Elfenau war um, die Familie bereits weg. Ich durfte noch einen Moment ins Zimmer, und der Vollmond schien durchs offene Fenster auf sein Bett. Er hatte irgendwie ein erlöstes Gesicht, fast ein Lächeln auf den Lippen. Ich hatte etwas Angst, weil ich allein war, und sprach deshalb halblaut mit ihm, es war ein stimmungs­voller Abschied. Ich sagte ihm, er werde mir fehlen und wie froh ich sei, dass ich die Ehre gehabt habe, ihn kennenlernen zu dürfen. Ich stellte mir vor, wie unsentimental er mir geantwortet hätte, und kam mir lächerlich vor. Ich war froh, ging sein Wunsch, endlich sterben zu können, in Erfüllung. Trotzdem war ich sehr traurig.

Er hatte öfter charmant bemerkt, wie kann eine so schöne junge Frau wie du Zeit bei einem alten Mann wie mir verbringen, der gar nichts mehr zu berichten weiss. Da hab ich ihm geantwortet, solange du noch interessantere Sachen erzählst als die jüngeren Männer, die ich treffe, komme ich. So lange wirst du mich nicht los.

(Diese Notizen und Details hatte ich als Erinnerungen ­
an Kurt nach seinem Tod aufgeschrieben. Nun habe ich sie als Sammlung belassen. M. M.)

  • Meret Matter,

    ist Regisseurin und lebt in Bern.