Queere Asylsuchende in der Schweiz

Regula Ott, Pascale Navarra, 7. Mai 2019
Neue Wege 5.19

Lesbische, schwule, bisexuelle und trans Menschen erhalten in der Schweiz und Europa selten positive Asylentscheide. In vielen Ländern werden Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität rechtlich wie gesellschaftlich verfolgt. Auch in der Schweiz ist die Gleichstellung noch nicht erreicht.

In 73 Ländern der Welt ist Homosexualität strafbar und wird mit Busse oder Gefängnis geahndet: In einigen wenigen Ländern steht die Todesstrafe auf homosexuelle Handlungen. Oft ist es allerdings nicht das Gesetzbuch, das Menschen aus der LGBTIQ1-Community zur Flucht veranlasst, sondern die Homo-, Bi-, Inter- und Transfeindlichkeit in der Gesellschaft und der nicht vorhandene Schutz durch den Staat, die Polizei, die Strafverfolgungsbehörden. Sich ein Leben lang verstecken oder ein Doppelleben führen zu müssen und die permanente Angst, entdeckt zu werden, sind so zermürbend, dass einige sich entschliessen, ihre Heimat für immer zu verlassen.

Die Allermeisten flüchten in grössere Städte innerhalb ihres Herkunftslands oder versuchen, in Nachbarstaaten ein menschenwürdiges und sicheres Leben aufzubauen. Nur ein verschwindend kleiner Teil gelangt nach Europa, in der Hoffnung, dort über ein Asylverfahren staatlichen Schutz zu erhalten. Wie viele es tatsächlich sind, kann nur geschätzt werden, zu unsystematisch werden die Asylgründe erhoben. In der Schweiz verschwinden die LGBTIQ-­Asylgesuche statistisch in der grossen Zahl der geschlechtsspezifischen Verfolgungsgründe. Hier sind die Hürden zu einem positiven Asyl­entscheid aufgrund sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität sehr hoch, höher als etwa in den Niederlanden oder Grossbritannien.

Die Geschichte von F.

Da ist zum Beispiel F. Sie ist Ende 2012 aus Uganda geflüchtet und hat ein Asylgesuch in der Schweiz gestellt. Sie wurde, wie so viele LGBT in Uganda, öffentlich geoutet: Ihr Foto wurde samt Name und Adresse in einer regierungs- und kirchennahen Zeitung publiziert mit dem Hinweis, dass sie lesbisch und aufgrund ihrer widernatürlichen Veranlagung eine Schande für das Land sei. F. verlor den Job, die Wohnung, wurde von ihrer Familie verstossen und brachte diese zudem in Gefahr, da in Uganda auch Familienangehörige unter Strafandrohung dazu verpflichtet sind, zu melden, wenn jemand innerhalb der Familie «so» ist. Von da an lebte F. wie eine Nomadin, zog weiter, wenn ihr Ruf sie wieder einholte. Als ihr Hund mit aufgeschlitzter Kehle vor ihrer Haustüre lag, entschloss sie sich, das Land, ihre Partnerin und alle ihre Freund*innen aus der Community zu verlassen. Eine LGBTIQ-Organisation, in der in Uganda Aktivist*innen unter Lebensgefahr tätig sind, finanziert von NGOs aus dem Ausland, bezahlte ihr Flugticket und ihr Visum.

F. ist eine der wenigen «Privilegierten», die nicht über den Landweg, über monatelange und gefährliche Fluchtrouten nach Europa kam. Aufgrund des Visums wurde sie für die Schweiz auch kein Schengen-Dublin-Fall. Sie konnte also nicht zurück nach Italien, Spanien, Griechenland oder ein anders Land mit Meeresanschluss geschickt werden, durch welche die üblichen Fluchtrouten führen. Drei Jahre lang wartete F. auf ihre erste Anhörung beim Staatssekretariat für Migration SEM. Das Interview dauerte siebeneinhalb Stunden. Mit Hilfe einer Dolmetscherin erzählte F. ihre Lebens- und Leidensgeschichte, legte ihre Beweise auf den Tisch: Kopien des Zeitungsberichts, die Kündigung des Arbeitgebers, der Wohnung, das Foto vom Hund. Sie erzählte auch, dass ein schwuler Mann, der in derselben Zeitung mit Bild geoutet wurde, in seiner Wohnung mit einem Hammer erschlagen wurde, auch dazu legte sie Zeitungsberichte auf den Tisch.

Ein knappes Jahr später wurde F. zu einer zweiten Anhörung eingeladen. Seither ist wieder ein Jahr vergangen, sie weiss immer noch nicht, ob ihr Asylgesuch positiv beantwortet wird oder nicht. Das lange Warten hat F. zermürbt, sie leidet an Depressionen, äussert immer wieder Suizidgedanken. Ihre schriftliche Nachfrage beim SEM, wann denn endlich ein Entscheid gefällt werde, wurde mit einem Standardschreiben beantwortet. Sie müsse sich gedulden, die Zahl der Fallpendenzen sei hoch.

Die Arbeit von Queeramnesty

F. könnte auch A. oder B. oder C. heissen, aus Georgien oder Jamaika, Syrien oder Sierra Leone stammen, aus der Türkei oder aus Pakistan. Sie könnte auch ein schwuler Mann oder eine Transfrau sein, sie könnte Kinder haben oder erst achtzehn Jahre alt sein. Sie könnte auch eine Person mit intersexuellen Geschlechtsmerkmalen sein. Die Geschichte von F. ist eine wahre Geschichte, so wie wir sie täglich in der Begleitung von LGBTIQ-Asyl­suchenden erleben. 

Queeramnesty, eine Gruppe von Amnesty International Schweiz, begleitet um die dreissig Asylsuchende pro Jahr. Nur die allerwenigsten erhalten positive Entscheide. Die Wartezeiten sind enorm, und das Leben hier ist nicht einfach. Innerhalb der Asylstrukturen, in den Kollektivunterkünften, verstecken die Asylsuchenden erneut ihre Identität. Nicht ohne Grund: Immer wieder kommt es zu Übergriffen und Gewaltandrohungen, zu Mobbing und Beschimpfungen in den Kollektivunterkünften, vor allem bei denen, die es schlecht verstecken können: insbesondere bei Transmenschen und «femininen Männern». 

Gerade deshalb ist unsere Arbeit so wichtig, die Gespräche mit den freiwilligen Mentor*innen ebenso wie das monatliche Welcome LGBTIQ Café. Diese Gruppe von Asylsuchenden soll sich mit Würde behandelt und mit Respekt begegnet fühlen. Selbstrespekt ist die Internalisierung von erfahrenem Respekt. Und nur wer sich selbst respektiert, kann seine Rechte und seine Würde verteidigen – auch in der Begegnung mit den Behörden. Auf individueller Ebene heisst dies, sich zugehörig und aufgehoben zu fühlen.

Kritische Blicke auf die Schweiz …

Viele der diskriminierenden Gesetze, die Homosexualität unter Strafe stellen, wurden durch die Kolonisierung mit Gewalt aus den Gesetzbüchern von England oder Frankreich in Länder gebracht, die davor nicht homo- oder transfeindlich waren. Und auch wenn solche Gesetze in vielen europäischen Ländern in der Zwischenzeit abgeschafft wurden, bestehen auch in Europa noch Ungerechtigkeiten für LGBTIQ-Menschen. In der Schweiz zum Beispiel sind die Ehe und der Zugang zu Reproduktionstechnologien noch immer nur für verschiedengeschlechtliche Paare erlaubt. Und verschiedene Studien zeigen, dass die Suizidrate bei LGBTIQ-Personen sehr viel höher ist als bei heterosexuellen cis2 Jugendlichen. Deshalb forderten die Teilnehmer*innen an der Eidgenössischen Jugendsession von 2018 konkrete Massnahmen. Und eine kleine Studie von TGNS, dem Transgender Network Schweiz, zur Jobsituation von trans Personen ergab, dass diese unter einer Arbeitslosenquote von etwa zwanzig Prozent, viel höher als der Durchschnitt, leiden. Zudem hatten fast fünfzig Prozent der Befragten durch das Coming-Out als trans Person einen beruflichen Abstieg erlebt. Und noch immer werden medizinisch nicht notwendige Operation an inter Babys und Kleinkindern durchgeführt, um ihre Genitalien so zu verändern, damit sie einer normierten Vorstellung von Genitalien entsprechen. Diese Eingriffe verletzen die körperliche und psychische Integrität der betroffenen Menschen und führen oft zu Folgeschäden. 2016 hat sich der Bundesrat aufgrund von Empfehlungen der Nationalen Ethikkommission gegen solche Operationen ausgesprochen. 

LGBTI-Personen werden also auch in der Schweiz diskriminiert. Auch Vertreter*innen politischer Parteien äussern sich immer wieder homo-, inter- und transfeindlich. Dieselben politischen Parteien scheuen sich jedoch nicht, ihre vermeintliche Offenheit gegenüber LGBTIQ-Menschen zu zelebrieren, wenn sie dadurch andere Kulturen als homo- und transfeindlich darstellen können. Dieser Homonationalismus kann sehr anschaulich an einem Werbeplakat der AfD von 2016 gezeigt werden. Unter dem Bild zweier Männer steht: «Mein Partner und ich legen keinen Wert auf die Bekanntschaft mit muslimischen Einwanderern, für die unsere Liebe eine Todsünde ist.» Aus Sorge vor solchen diskriminierenden Aussagen gegenüber Ausländer*innen ist es in unseren Augen sehr wichtig, bei der Schilderung der Fluchtgeschichten von LGBTIQ-Menschen immer auch die eigene Verstrickung in die Situation von LGBTIQ-Menschen im Ausland sowie die Situation der LGBTIQ-Menschen im eigenen Land im Blick zu haben. Nur so kann eine homonationalistische Perspektive verhindert werden.

… und die Kirchen

Einen kritischen Blick braucht es auch bei der Analyse der Haltung der Kirchen. Die Schweizer Bischofskonferenz setzt sich für den Schutz von geflüchteten Menschen ein. Zusammen mit anderen christlichen, jüdischen und muslimischen Dachorganisationen veröffentlichte sie eine interreligiöse Erklärung zum Schutz von geflüchteten Menschen. Doch bei der Verschränkung des Themas Flucht und LGBTIQ müssen auch die homo- und transfeindlichen Äusserungen von katholischen Amtsträgern berücksichtigt werden. Im Katechismus, dem Grundbruch des katholischen Glaubens, steht: «Sie [homosexuelle Menschen] haben diese Veranlagung nicht selbst gewählt; für die meisten von ihnen stellt sie eine Prüfung dar. Ihnen ist mit Achtung, Mitleid und Takt zu begegnen. Man hüte sich, sie in irgend einer Weise ungerecht zurückzusetzen.» Und weiter: «Homosexuelle Menschen sind zur Keuschheit gerufen.» An diese Trennung zwischen Veranlagung, welche nicht verurteilt werden darf, und der nach der katholischen Lehre zu verurteilenden Tat, also homosexuellen Handlungen, hält sich auch Papst Franziskus. Im Katechismus von 1997 steht nichts zu trans, jedoch hat sich Papst Franziskus zum Beispiel in einer Rede vom Oktober 2017 ablehnend zu Geschlechtsangleichungen geäussert. 

Anlass zur Hoffnung geben jedoch viele Vertreter*innen der katholischen Kirchen, die gleiche Rechte für LGBTIQ-Menschen fordern. Dazu gehört auch der Schweizerische Katholische Frauenbund SKF, der sich unter anderem für eine Ehe für alle einsetzt und diese Forderung bereits 2002 publizierte. Zudem gehört er zu den Herausgeber*innen der Broschüre Let’s talk about Gender!, die zum Ziel hat, Vorurteile und falsche Informationen zum sozialen Geschlecht sowie zu sexuellen Orientierungen und zu Geschlechtsidentitäten auch aus theologischer Sicht zu widerlegen. 

Dieser Einsatz lohnt sich für alle: für alle heterosexuellen und cis Menschen, die in einer gerechteren Welt leben werden, sowie für alle LGBTIQ-Menschen in der Schweiz mit oder ohne Schweizer Pass, die nicht mehr von Diskriminierungen betroffen sein werden.●

○Der Artikel basiert auf einem Beitrag von Pascale 
Navarra in der Zeitschrift AsylNews, Ausgabe 4, 
Dezember 2018.

○Queeramnesty ist eine Gruppe von Amnesty International Schweiz. Sie bietet ehrenamtliche soziale 
Betreuung und Begleitung sowie Vernetzung für geflüchtete LGBTIQ-Menschen an. Zudem werden LGBTIQ-Menschen aus der ganzen Welt online beraten. Auf Anfrage werden auch Weiterbildungen und Fachveranstaltungen zu «Asyl und LGBT» durchgeführt.

  1. Die Abkürzung LGBTIQ ist ein Sammelbegriff aus den Anfangsbuchstaben der folgenden Begriffe: lesbisch, gay=schwul, bisexuell, trans, inter und queer. Die ersten drei Begriffe beschreiben die sexuelle Orientierung, also zu welchem Geschlecht sich eine Person emotional und sexuell hingezogen fühlt. Die Begriffe trans und inter beziehen sich auf die Geschlechtsidentität und haben nichts mit der sexuellen Orientierung einer Person zu tun. Der Begriff trans bedeutet, dass das innere Wissen einer Person, welches Geschlecht sie hat (Geschlechtsidentität) nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen biologischen Geschlecht übereinstimmt. Diese Geschlechtsidentität kann, aber muss nicht nur weiblich oder männlich sein. Inter bedeutet, dass eine Person auf der körperlichen Ebene weibliche und männliche Merkmale aufweist, d.h. dass die biologischen Geschlechtsmerkmale nicht in das dualistische System Mann/Frau eingeordnet werden können. Und der Begriff queer bezieht sich hier auf die sexuelle Orientierung und die Geschlechtsidentität.

  2. cis verhält sich zu trans wie heterosexuell zu homosexuell und steht für alle Menschen, deren Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen biologischen Geschlecht übereinstimmt.

  • Regula Ott,

    *1984, ist Biologin und Ethikerin und arbeitet beim Schweizerischen Katholischen Frauenbund SKF. Sie war bis 2017 für sieben Jahre zusammen mit Pascale Navarra Teil des Koordinationsteams der Fluchtgruppe von Queeramnesty.

  • Pascale Navarra,

    *1967, ist Sozialpädagogin und Übersetzerin und seit zehn Jahren im Koordinationsteam der Fluchtgruppe von Queeramnesty ehren­amtlich tätig. Hauptberuflich ist sie Betriebsleiterin des Frauenhauses Zürich Violetta.