Religionskritik und Marktreligion

Franz Hinkelammert, 1. Mai 2018
Neue Wege 5/2018

Mit der Moderne entwickelt sich eine neue Religionskritik. Ihr Interesse gilt nicht dem Religi­ö­sen im engen Sinn. Ihr geht 
es um die Gesellschaft als ganze: Woran hängen die Menschen ihr Herz? An welche irdischen und an welche himmlischen Götter? Ein roter Faden zieht sich von den Propheten im Alten Testament zu Papst Franziskus. In der 
Mitte: Karl Marx.

Karl Marx betreibt Religionskritik. Er konzentriert sie auf die Kritik der irdischen Götter. Sie sind für ihn direkt mit der Wirtschaft verknüpft. Marx zitiert Christoph Kolumbus mit den Worten: «Gold ist ein wunderbares Ding! Wer dasselbe besitzt, ist Herr von allem, was er wünscht. Durch Gold kann man sogar Seelen in das Paradies gelangen lassen.»1

Diese vom Gold bestimmte Faszination prägt die Eroberung Amerikas. Schon die In­­dígenas hatten während der Conquista erkannt: Das Gold ist der Gott der Christen! Und in der Tat, sie haben sich wohl kaum getäuscht. Der peruanische Befreiungstheologe Gustavo Gutierrez erzählt davon: «Es geschah, dass ein Häuptling alle seine Leute zusammenrief. Jeder sollte an Gold mitbringen, was er hatte, und alles sollte dann zusammengelegt werden. Und er sagte zu seinen Indianern: Kommt, Freunde, das ist der Gott der Christen. Wir wollen also etwas vor ihm tanzen, dann fahrt auf das Meer da und werft es hinein. Wenn sie dann erfahren, dass wir ihren Gott nicht mehr haben, werden sie uns in Ruhe lassen.»2

Im 17. Jahrhundert betrachtet Thomas Hobbes das Geld als das Blut des Leviathans. Mit diesem Namen bezeichnet der Philosoph den entstehenden kapitalistischen Markt. ­Leviathan ist für ihn der sterbliche Gott unter dem un­­sterblichen Gott, der den Himmel bewohnt. Am Anfang des 20. Jahrhunderts greift der französische Schriftsteller Léon Bloy diesen Gedanken in einem Buch auf, dem er den Titel gibt: Das Blut der Armen. Darin stellt er fest: Das Geld ist das Blut der Armen.

Wenige Jahre nach Bloy übernahm der Philosoph Walter Benjamin in seinem Fragment Kapitalismus als Religion3 diese Position und entfachte damit die Debatte erneut. Die gleiche These lässt sich, wenn auch etwas distanzierter, beim Soziologen Max Weber finden, wenn er behauptet: «Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern.»4 Das Geld ist zweifellos eine der wichtigsten dieser unpersönlichen Mächte. Heute spricht Papst Franziskus vom Götzendienst des Geldes und der Vergöttlichung des Marktes.

Der Markt ist 
ein irdischer Gott

Zurück zu Karl Marx: Er analysiert einen Kapitalismus, dessen zentrale Referenz der Markt ist. Diesen Markt betrachtet er von Anfang an als irdischen Gott. In der Vorrede zu seiner Dissertation von 1841 sagt Marx, dass die «Philosophie» – hier bereits als kritische Theorie zu verstehen – ihren «Spruch [setzt] gegen alle himmlischen und irdischen Götter, die das menschliche Selbstbewusstsein nicht als die oberste Gottheit anerkennen».5 Wenig später konzentriert Marx seine Religionskritik auf die Kritik dieser «irdischen Götter».

Marx hält also das «menschliche Selbstbewusstsein» für die «oberste Gottheit» – es steht allen «himmlischen und irdischen Göttern» gegenüber. In seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1844 verwendet er an­stelle des «menschlichen Selbstbewusstseins» die Formel «der Mensch als höchstes Wesen für den Menschen». Er schreibt: «Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.»6 Ein erniedrigtes Wesen ist der Mensch für Marx, sobald irgendetwas anderes zum höchsten Wesen erklärt wird.

Damit unterbreitet Karl Marx ein Unterscheidungskriterium sowohl für die Religion als auch für die Götter dieser Religionen, das nicht mit einem Angriff auf die Religion selbst verwechselt werden darf. Diese Differenzierung gilt auch dann, wenn Marx davon ausgeht, dass die Religion überflüssig wird, sobald der Mensch sich als das höchste Wesen für den Menschen anerkennt. Sollte sich jedoch herausstellen, dass die Religion nicht überflüssig wird, dann bewahrt dieses Kriterium zur «Unterscheidung der Götter» seine Gültigkeit.

Implizit – so möchte ich behaupten – stellt Marx damit eine These auf, die mit der verbreiteten Vorstellung von ihm kaum in Einklang zu bringen ist: Gott ist Mensch geworden. Das ist jedoch keine These im religiösen, sondern im anthropologischen Sinn. Marx legt auch dar, was der Mensch tut, wenn der Mensch zum höchsten Wesen – wenn man so will, zum Gott – für den Menschen wird. Auch diese These entspricht kaum den landläufigen Vorstellungen von ihm: Dann wirft der Mensch alle Verhältnisse um, in denen er «ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist». In diesen wenigen Worten skizziert Marx eine Praxis, für die eine andere Welt möglich ist. Mit einer solchen Praxis findet der Mensch zur Selbstverwirklichung. Und er steht damit dem kapitalistischen Markt, dessen Geld und dessen Kapital gegenüber.

Damit habe ich das Paradigma der marx’ schen Religionskritik und zugleich das Paradigma des marx’schen Humanismus – einem Humanismus der Praxis – herausgearbeitet. Mir scheint, es sei das Paradigma des kritischen Denkens überhaupt.

Falsche Götter wollen Menschenopfer

Der spätere Karl Marx führt diese Religions­kritik weiter. Aber es geht ihm stets darum, die Religion im Namen des Menschen zu kritisieren, nicht im Namen irgendeines wahren Gottes. Götter sind immer falsche Götter, sobald sie Menschenopfer verlangen. Diese falschen Götter nennt Marx Fetische. Umgekehrt sind also Götter, die keine Menschenopfer verlangen, auch keine falschen Götter. Das kann man folgern, selbst wenn Marx darüber schweigt. Zweifellos entwickelt Marx seine gesamte Religionskritik in der Tradition der jüdischen und christlichen Götzenkritik. Deshalb lautet meine These: Die Religionskritik von Marx ist letztlich Idolatrie-, also Götzenkritik.

Die Religionskritik wird für Karl Marx zur Fetischismuskritik. Zwar ist Fetischismus­kritik gleichzusetzen mit Idolatriekritik. Aber dennoch handelt es sich für Marx nicht um ein simples Spiel mit Worten, sondern um eine Verlagerung seines Schwerpunkts. Der spätere Marx erwähnt die himmlischen Götter nicht einmal mehr, sondern nur noch die irdischen. Er definiert sie – konzentriert auf Markt, Geld und Kapital – als Fetische.

Religionskritik läuft stets Gefahr, sich auf eine bestimmte Religion zu richten. Marx aber formuliert einen universalen Anspruch. Er kann sich folglich nicht auf die Kritik des Christentums beschränken, von der er ausgegangen ist. Er muss seine Religionskritik als Grundlage seiner Kritik der politischen Ökonomie weiter­führen. Sie richtet sich nunmehr gegen erfahrbare irdische Götter und lässt sich daher auch wissenschaftlich weitertreiben. Diese werden sichtbar in den irdischen Göttern – dadurch, dass diese den Menschen sichtbar in ein «erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen» verwandeln. Wie diese irdischen Götter die Verwandlung des Menschen bewerkstelligen und welchen Gesetzen sie dabei folgen – das hat die Kritik der politischen Ökonomie nachzuweisen.

In der Folge weitet Karl Marx seinen kategorischen Imperativ aus: «Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen ­Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.»7 Nicht nur der Mensch wird zum geknechteten Wesen, sondern auch die Natur, die für Marx der erweiterte Körper des Menschen ist. Es gibt kein menschliches Leben ohne das Leben der Natur.

Religionskritik als Fetischismuskritik ist eine Kritik der irdischen Götter, die falsche Götter sind. Sie muss jedoch ein Kriterium für das liefern, was sie als «falsch» bezeichnet. Das gleiche Kriterium hatte Marx in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosopie bereits formuliert: «Der Mensch ist das höchste Wesen für den Menschen». Marx entwickelt es mit anderen Worten weiter und formuliert seine Vorstellung von der Befreiung des Menschen im Kommunistischen Manifest. Dort sagt er: «An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.»8

Das marxsche Kriterium wird hier auf die universale Emanzipation des Menschen aus­gedehnt, die niemanden ausschliesst. Ein solcher Freiheitsbegriff überschreitet den bürgerlichen bei weitem. Dort sind die bürgerliche Gesellschaft und ihre Mitglieder frei, selbst wenn einige verhungern müssen. Für Marx jedoch geht die Freiheit von der Befreiung des Körpers aus. Sie kann zugleich als Gerechtigkeitskriterium gelten: «Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.»9

Revolution im Himmel 
wie auf Erden

Die lateinamerikanische Befreiungstheologie setzt sich in ein neues Verhältnis zum Marxismus, insbesondere seit Anfang dieses Jahrhunderts in der Folge des Zusammenbruchs des sowjetischen Sozialismus und seiner Konsequenzen für das marxistische Denken. Das geschieht in einer ähnlichen Richtung wie sie viele Jahrzehnte zuvor bereits der Gründer der Neuen Wege Leonhard Ragaz einschlug, wenn auch mit anderen Argumenten.

Was sich in den letzten Jahrzehnten ereignet hat, ist nicht völlig neu. Hegel hatte bereits behauptet, dass keine Revolution ohne Reformation möglich sei. Nach dem Zweiten Weltkrieg und besonders im chinesischen Kommunismus verbreitete man die These, die auch mir zutreffend scheint: Keine Revolution auf der Erde ohne eine Revolution im Himmel. Eine solche These impliziert natürlich auch die Umkehrung: Keine Konterrevolution auf der Erde ohne Konterrevolution im Himmel.

Der heutige Papst Franziskus bezieht sich auf diese Konterrevolution: «Einer der Gründe [der heutigen Unrechtslage] liegt in der Beziehung, die wir zum Geld hergestellt haben, denn friedlich akzeptieren wir seine Vorherrschaft über uns und über unsere Gesellschaften. Die Finanzkrise, die wir durchmachen, lässt uns vergessen, dass an ihrem Ursprung eine tiefe anthropologische Krise steht: die Leugnung des Vorrangs des Menschen! Wir haben neue Götzen geschaffen.»10 Weiter folgert Franziskus: «Gott wird von diesen Finanz- und Wirtschaftsleuten sowie von diesen Politikern als nicht lenkbar, ja sogar als gefährlich wahr­genommen, weil er den Menschen dazu aufruft, sich selber voll zu verwirklichen und jeder Form der Sklaverei entgegenzutreten.»11

Die Aussage des Papstes befindet sich im Einklang mit der Aussage von Karl Marx über den Menschen als höchstes Wesen für den Menschen. Der Papst erwidert mit seiner These auf die Reagansche Theologie der Konterrevolution, die von Trump ganz offensichtlich weitergeführt wird und die den apokalyptischen Fundamentalismus als Grundlage hat. Durch diese Konterrevolution wird der Klassenkampf von oben in extremis erklärt. Der Papst stellt einen Gott heraus, der den Menschen aufruft, seine Selbstverwirklichung in der unablässigen Auseinandersetzung um die Befreiung von jeder Form von Sklaverei zu sichern. Damit stellt er einen Gott vor, der selbst den Humanismus der Praxis von Marx mitträgt.

Diese Position für den Menschen als höchstes Wesen für den Menschen wird so von ­Franziskus in eine Revolution im Himmel ver­wandelt. Sie ermöglicht jetzt Bewegung in der Linken. Die Konsequenz des marxschen Humanismus der Praxis gilt: Markt, Geld und Kapital sind für den Menschen da, nicht der Mensch für den Markt, für das Geld und für das Kapital.

Die Auseinandersetzung mit der Konter­revolution kann sich nicht auf ideologische Analysen beschränken. Wir müssen die marxsche Religionskritik unter heutigen Bedingungen weitertreiben, wenn wir den Herausforderungen der Gegenwart wirksam begegnen wollen.

  1. Kolumbus, im Brief aus Jamaica, 1503. – Karl Marx: Das Kapital, Bd. I. MEW, Band 23, Berlin 1968, S. 145.

  2. zitiert in: Gustavo Gutierrez: Gott oder das Gold. Freiburg 1990, S. 197.

  3. Walter Benjamin: Kapitalismus als Religion [Fragment]. In: Gesammelte Schriften, Hrsg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, 7 Bde., Frankfurt am Main 1991, Band VI, S. 100–102.

  4. Max Weber: Wissenschaft als Beruf. Stuttgart 1995, S. 34.

  5. Karl Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie. Vorrede. MEW, Band 40, S. 262.

  6. Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW, Band 1, S. 385.

  7. Karl Marx: Das Kapital, Bd. I. MEW, Band 23, S. 528/530.

  8. Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. MEW, Band 4, S. 459–493.

  9. Karl Marx: Kritik des Gothaer Programms. MEW, Band 19, S. 21.

  10. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, ­24. ­November 2013.

  11. Papst Franziskus: Rede an die Botschafter von Kirgisien, von Antigua und Barbuda, des Grossherzogtums Luxemburg und von Botswana, 16. Mai 2013.

Buchtipp → Michael Ramminger/Franz Segbers (Hg.): «Alle Verhältnisse umzuwerfen … und die Mächtigen vom Thron zu stürzen.» Das gemeinsame Erbe von Christen und Marx. Hamburg/Münster 2018, 240 Seiten.

  • Franz Hinkelammert,

    *1931 in Emsdetten/Deutschland, ist Sozialphilosoph, Ökonom und Befreiungstheologe. Er ist Professor an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universidad Nacional in Heredia, Costa Rica. Er ist Autor vieler Werke zu Befreiungstheologie, Kapitalismuskritik und Globalisierung. Er verstarb am 16. Juli 2023 in Costa Rica.