Revolte, Rausch und Razzien

Kurt Seifert, 1. März 2018
Neue Wege 3/2018

Die Spuren einer «Revolution» sollen gesichert werden: Fünfzig Jahre nach dem Ereignis, das den Namen «Achtundsechziger-Bewegung» trägt. Ach ja, wie haben wir sie geliebt! Doch in der Zwischenzeit ist der Begriff schal geworden – muss doch heute zum Beispiel jede neue Generation eines technischen Gerätes, sei dies ein Smartphone oder Auto, als Produkt einer noch nie dagewesenen «Revolution» auf den Markt geworfen werden.

Was auch immer dieses Ereignis dargestellt haben mag – Revolution, Revolte, Aufbegehren: Selbst in der behäbigen Bundeshauptstadt ist es gesichtet worden. Davon legt ein Buch von vier Berner Journalistinnen und Journalisten Zeugnis ab. Acht Frauen und elf Männer, die dabei waren, werden darin porträtiert. Die Autorinnen und Autoren fragen nach, wie es damals war, und sie wollen auch wissen, wo die Befragten heute stehen. Eins lässt sich schon vorab sagen: KonvertitInnen, von denen es gewiss genügend gibt, hat dieses Buch kein Forum geboten.

Zwei Aspekte fallen dem Leser, der die Verhältnisse in der Aare-Stadt nicht so genau kennt, besonders auf: Da ist zum einen die wichtige Rolle, die den sogenannten Nonkonformisten zukam. Diese zumeist linksliberalen Intellektuellen, die unter dem vorherrschenden Klima eines rigiden Antikommunismus litten, haben in den frühen sechziger Jahren den Boden für die Berner Bewegung bereitet. Sie schrieben Bücher, gaben Zeitschriften wie die Neutralität heraus und hielten Vorträge – beispielsweise in der legendären Junkere 37, einem Altstadtkeller, der später als «Brutstätte der 68er-Bewegung» bezeichnet wurde. Männer wie der Schriftsteller Peter Bichsel, der Volkskundler Sergius Golowin oder der Pfarrer Kurt Marti traten dort auf. Frauen spielten offenbar keine Rolle. Der Berner Journalist Heinz Däpp (Jahrgang 1942) berichtet: Die Nonkonformisten, das sei «eine klar hierarchisch organisierte Gesellschaft» gewesen – und soweit also auch ein Abbild der Schweiz jener Jahre.

Das sollte sich durch das Ereignis «1968» ändern, auch wenn diese Jugendbewegung eine «rein männerzentrierte Sache» war, wie die Buchhändlerin und spätere Pfarrblatt-Redaktorin Angelika Boesch (Jahrgang 1946) festhält: Sie habe kaum etwas zur Frauenbefreiung beigetragen. Die begann erst später, konnte dann aber das nutzen, was damals zum Durchbruch gekommen war: den Geist des kritischen Hinterfragens aller vermeintlich vorgegebenen Verhältnisse. Dieser Geist – und das ist der zweite bedeutende Aspekt, den das Buch beleuchtet – wurde vor allem auch in den Kirchen wirksam. Die besondere Aufmerksamkeit dafür ist möglicherweise dem Umstand geschuldet, dass drei der vier HerausgeberInnen in kirchlichen Kontexten tätig waren. Es scheint aber kein Zufall zu sein, dass einige der Porträtierten im kirchlich-theologischen Feld gross geworden sind und diesem teilweise auch verbunden blieben. Auch für nicht explizit «Kirchliche» wie die Feministin Regula Keller (Jahrgang 1950) waren religiös geprägte Aktivitäten wie ein politischer Gottesdienst im Berner Münster an Weihnachten 1968 ein wichtiger Auslöser der eigenen Politisierung.

Der pensionierte Pfarrer John «Tschönu» Schmocker erinnert sich daran, wie er 1968 mit einem Artikel über das Gottesbild der Bürgerlichen in der reformierten Kirchenzeitung Saemann provozierte. Der Widerspruch sei heftig gewesen, doch seine linke Theologengruppe habe die Gelegenheit genutzt, mit Kirchgemeinden zu diskutieren. Das Ergebnis: «Wir fanden mehr und mehr kritische Leute, die auch die Welt verändern wollten». Und heute? Vreni Schneider (Jahrgang 1938), erste reformierte Pfarrerin im Berner Jura und später bei der Kooperation Evangelischer Kirchen und Missionen (KEM) tätig, klagt über eine Kirche, die Angst hat, noch mehr Geld und Mitglieder zu verlieren, und immer weniger zur Solidarität mit Vernachlässigten und Unterdrückten fähig zu sein scheint. Angelika Boesch bekräftigt: «Die Kirche ist apolitisch geworden. Das ist der Kern ihres Problems.» Was tun? Brauchen wir ein neues ’68 in der Gesellschaft, vielleicht auch in der Kirche? Anzeichen für dessen Kommen können die im Buch Porträtierten nicht erkennen. Doch das haben Ereignisse so an sich: Sie lassen sich weder planen noch prognostizieren. Um mehr darüber zu erfahren, was «1968» an einem ganz bestimmten Ort dieser Welt, nämlich in Bern, bedeutet hat, ist die Lektüre des Buches sehr hilfreich.

Samuel Geiser, Bernhard Giger, Rita Jost, Heidi Kronenberg: Revolte, Rausch und Razzien. Neunzehn 68er blicken zurück. Stämpfli Verlag Bern, 2018, 128 Seiten.

  • Kurt Seifert,

    *1949, lebt in Winterthur und ist Mitglied der Redaktion der Neuen Wege.