Samira. Hüterin der Kolonial­nostalgie

Jovita dos Santos Pinto, 9. Dezember 2019
Neue Wege 10.19

Zu Darstellungen von «nichtweissen» Mädchen aus meiner Kindheit fallen mir vor allem die kolonialrassistischen ein: die afrikanische Prinzessin Susu, die Häuptlingstochter Sunneschi oder die Beduinentochter Fatma aus den Kasperlihörstücken. Aus meiner Jugend denke ich vor allem an Federica de Cesco. Ferien um Ferien, Nächte um Nächte, las ich Der rote Seidenschal, Ananda und die Rache der Götter, Die goldenen Dächer von Lhasa und viele mehr. Ich fieberte mit den selbstbewussten jungen Frauen mit, die die Welt bereisten, gegen Ungerechtigkeiten ankämpften, auf Pferden oder Kamelen in die Natur und Freiheit ritten und die grosse Liebe mit schönen Männern fanden. Ein wesentlicher Verdienst von Federica de Cesco bleibt, dass sie Abenteuer­romane von, mit und für Knaben und junge Männer seit 1957 mit weiblichen Protagonistinnen und Leserinnen ergänzte. Dass es sich um ein Erfolgsrezept handelte, zeigt sich mitunter darin, dass sie bis heute eine der meistgelesenen deutschsprachigen Jugendautorinnen geblieben ist. Doch diese Abenteuer spielen immer auch vor einer postkolonialen Kulisse.

Mehrere dieser Hauptfiguren waren nicht nur stark, jung und weiblich, sondern auch nichtweiss. So zum Beispiel Alice, die aus Tibet adoptierte Schweizerin, Aischa, Französin mit algerischen Eltern, oder Samira, deren Vater ein Tuareg aus der algerischen Wüste und die Mutter eine weisse Belgierin ist.

In den Sommerferien habe ich die Samira-Trilogie nochmals gelesen. In dieser reist Samira mit achtzehn nach Algerien, um die Familie ihres verstorbenen Vaters kennenzulernen. Sie trifft auf verarmte Grosseltern, die zur Sesshaftigkeit gedrängt wurden. Sie lernt ihren revoltierenden Cousin Adon kennen und lieben und macht Bekanntschaft mit seiner traumatisierten Schwester Atara. Nachdem diese an einen muslimischen Mann verheiratet worden war, fünf Fehlge­burten überlebte und anschliessend von der muslimischen Familie wieder ausge­stossen worden war, lebt sie in sich verschlossen bei den Grosseltern.

Wegen ihrer Cousine beschliesst Samira in Algerien zu bleiben, um ihr bei der Heilung beizustehen, ihr Französisch beizubringen und damit einen Neuanfang in Brüssel zu ermöglichen – und erreicht etwas, was niemand anderes konnte:

«Ich wurde Zeugin, wie Atara mit jedem Tag etwas mehr aufblühte (…) Ihre Klugheit, ihre Vernunft kamen immer deutlicher ans Licht. (…) Beim Gedanken, dass ich es gewesen war, die sie aus ihrem Dornröschenschlaf zu neuem Leben erweckt hatte, überkam mich manchmal ein fast unbändiges Triumphgefühl. Was wäre ohne meinen Beistand aus ihr geworden?»

Als jemand, die die Kultur der naturverbundenen Tuareg «in sich» trägt und in Belgien aufgewachsen ist, wo Gleichberechtigung selbstverständlich ist, sieht sich Samira als Privilegierte und moralisch verpflichtet, Atara aus ihrem Zustand herauszuholen. Atara lernt die ehemalige Kolonialsprache Französisch, nicht die offizielle Amtssprache. Sie lernt Jeans als Kleidungsstücke lieben, die ihr Bewegungsfreiheit geben und ihren «schlanken» Körper sichtbar machen, sie legt den Schleier ab und geht unbegleitet auf die Strasse. Diese Veränderungen werden als Wandel «vom Mädchen zur Frau» beschrieben. Samira ist dabei die Erzieherin, die Richtung und Ziele vorgibt und diese Entwicklung auch als eigenen Erfolg versteht.

Die emanzipierte junge Frau, von Samira verkörpert, ist mit Kleidung, langem schlanken Körper, «Entschleie­rung», Bildung und heteronormativer romantischer Liebe bürgerlich und eurozentrisch kodiert. Sie wird als solche erkennbar und begehrenswert in der Abgrenzung zum muslimischen postkolonialen Algerien, das mit der von Frauen, Bewegungseinschränkung, damit einhergehenden dicklichen Körpern, Bildungsferne und arrangierten Ehe assoziiert wird.

Ähnlich wie in aktuellen europäischen antimuslimischen Diskursen verschliesst diese Darstellung den Blick auf die langjährigen feministischen Kämpfe in Algerien. Die Erzählung zeichnet dagegen das Bild der passiven, handlungsunfähigen muslimischen Frau, die von Europäer*innen vor ihren «unzivilisierten» braunen Männern gerettet werden muss. Die Bücher verschliessen auch den Blick auf die hiesigen patriarchalen Strukturen: Solche Ungleichheit kann es nur anderswo geben.

Diese Zuspitzung auf ein einziges – und darüber hinaus kolonialnostalgisches – Ideal für junge Frauen habe ich als Jugendliche nicht wahrgenommen. Beim Lesen in diesem Sommer machte mich diese Erkenntnis wütend, und traurig.

Als Jugendliche hatte ich keine postkolonialen Analysewerkzeuge. Ich wollte so sein wie Samira, selbstbewusst und begehrenswert. Sie hatte zwar eine «Mähne», die ihr nicht gefiel, weil sie zu dicht und schwer zu frisieren war, aber sonst bewegte sie sich in Algerien ebenso frei wie in Belgien. Ich hingegen fühlte mich in Angola, das ich nicht kannte, deplatziert, ebenso wie in der Schweiz, wo ich aufgewachsen war. Ich frage mich heute, ob meine de Cesco-Lesewut nicht auch eine Suche war, eine Auseinandersetzung mit dem Fehl-am-Platz-Sein. Ich frage mich, ob de Cescos kolonialrassistischen, schablonenhaften Darstellungen auch der Grund waren, weshalb ich schliesslich aufgehört habe, ihre Bücher zu lesen.

Ich wünschte meinem jugendlichen Ich, ihr wäre ein Roman in die Hände gefallen, der aufgreift, wie es ist, als Frau of Colour in Europa zu leben. Ein Roman, der die Kluft erläutert, wenn ich am privilegierten Ende des Spektrums der globalen Ökonomie von dieser profitiere, während der Alltagsrassismus mich immer wieder ans andere Ende verpflanzen will. Ich wünschte mir, ich hätte einen Roman in die Hand bekommen, in dem das Deplatzieren nicht der Weg, sondern das wünschenswerte Ziel ist. Zum Glück habe ich als Erwachsene diese Romane gefunden, zum Beispiel bei Chimamanda Adichie Ngozi, Taye Selasie oder Sharon Dodua Otoo.

In der Kolumne Anstoss! richten Menschen of Color rund um das Netzwerk Bla*Sh ihre Blicke auf hiesige gesellschaftliche Macht­strukturen. Sie wechseln sich in der gedruckten Ausgabe der Neuen Wege Monat für Monat ab mit der Kolumnistin Iren Meier.

  • Jovita dos Santos Pinto,

    *1984, ist Teil von Bla*Sh und Assistentin und Doktorandin am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung der Universität Bern.