Die Parallelität von Religion und Theater ist selbstverständlich. Sie leitet sich ab von den Anfängen her, da die Ritualpraxis der frühen Menschen als sich wiederholende, ekstatische Erzählung über sich selber immer theatral und transzendent war. Theater ist von seinen Ursprüngen her die religiöse Praxis schlechthin, und zwar in der Weise, dass jede religiöse Praxis, wo sie öffentlich und kollektiv ist, theatral ist. Das heisst, Religiosität hat einen Inhalt, der nicht ohne die Form der Theatralität zeigbar ist. Umgekehrt kann es natürlich sehr wohl Theater ohne religiösen Inhalt geben, da die Form nicht im selben Mass an den Inhalt gebunden ist. Aber als Potenzial bleibt das Religiöse dem Theatralen, auch dem säkularen, inhärent.
Diese Potenzialität zeigt sich im modernen Theater vor allem in zwei Formen: Erstens als Verlegenheit in der Sinnstiftung, die auch als Sehnsucht nach Sinn lesbar ist, und zweitens als absichtslose Mitgift, die auch als stoffliche Notwendigkeit lesbar ist. Zur ersten Kategorie gehören alle Inszenierungen, die religiöse Themen als fremdartige, bizarre aber bedeutungsschwere Stoffe auf die Bühne bringen. Die ZuschauerInnen werden als Voyeure oder Ethnologinnen auf die Themen angesetzt. Heilige Schriften, Gottesdienstfragmente, Litaneien, Rituale bis hin zu Exorzismen werden als exotische Praktiken vorgeführt, die einmal den Schauer des Archaischen, ein andermal den Spass am Anachronistisch-Ulkigen oder aber auch die Erkenntnis der Nähe, der Ähnlichkeit zur eigenen Existenz oder Praxis provozieren sollen. Die meisten dieser Versuche bleiben für alle, die sich weder voyeuristisch noch ethnologisch auf die religiösen Stoffe einlassen mögen, oberflächlich. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die Vorführung des Religiösen auf der Bühne als etwas Exotisches immer jene Distanzierung vom Glauben an die transformatorische und kathartische Kraft des Schauspiels zur Voraussetzung hat. Diese Distanzierung ist der Kern der postdramatischen Idee. Damit wird gerade verhindert, was an zufälligen Interferenzen zwischen zwei Glaubensakten möglich wäre, also die zweite Form der Potenzialität des Religiösen im Theater: Religion als nicht intendiertes Ereignis, das sich vor allem dort ergeben kann, wo das Theater als militante Leidenschaft und als Glaube, als radikaler Akt im Sinne eines Wagnisses und eines «Theaters der realen Gefahr» (Milo Rau) verstanden wird.
Theater ist dann genauso wie die religiöse Praxis ein Akt der Wiederholung des Schreckens mit der Hoffnung auf Beschwichtigung und genauso ein Realismus der Transzendenz, der sich um die Darstellung der tragischen Dimension des Leidens bemüht, aber niemals die immanente Schliessung der Wirklichkeit zulässt. Ich möchte diese zweite Form eines religiösen Potenzials des Theaters im Folgenden an Beispielen und Überlegungen aus dem Werk des Schweizer Regisseurs Milo Rau und seines International Institute of Political Murder beschreiben.
Um keine Missverständnisse zu produzieren: Milo Rau hat im Gegensatz zu anderen wichtigen RegisseurInnen des zeitgenössischen Theaters, wie etwa Christoph Schlingensief, Stefan Bachmann, Andrea Breth oder Christoph Marthaler, keinen besonderen Bezug zu religiösen Themen. Zuspitzend könnte man sagen, er ist sogar ausgesprochen areligiös, betrachtet religiöse Themen und theologisches Denken bloss mit dem ihm eigenen neutralen Interesse an allem, was die Wirklichkeit bereithält. Wenn es also, wie ich glaube, so etwas gibt, wie ein religiöses und theologisches Potenzial in seinem Werk, dann ist es ohne Absicht und hat in erster Linie mit der Zweideutigkeit aller seiner Projekte zu tun, die der herrschenden Vernunft immer wieder ihre Schliessungsgefahr und der säkularen Gesellschaft immer wieder ihren Mangel an Orten der Transzendenz vor Augen führt. Das zeigt sich einerseits auf der Bühne, aber auch schon im Zugang zu und dem Umgang mit den Stoffen.
In einem Gespräch, das ich mit Milo Rau für den neuen Theorie-Band des International Institute for Political Murder mit dem Titel Wiederholung und Ekstase geführt habe, geht es um den für seine Arbeitsweise typischen Prozess von der unendlichen Anreicherung von Material in der Recherche bis zur Reduktion in der Umsetzung und den Umwegen, die die Proben oftmals nehmen. Am Schluss kommt meist etwas ganz anderes raus als angekündigt war. Auf meine entsprechende Frage antwortet Rau: «Ich erinnere mich, dass Peter Zadek einmal sagte: ‹Alles, was in den Proben passiert, wird auf der Bühne sichtbar sein.› Das stimmt normalerweise nur in einem übertragenen Sinn, aber manchmal stimmt es ganz wortwörtlich. Zum Beispiel habe ich in The Dark Ages mit Valery Tscheplanowa gearbeitet, der letzten Muse von Dimiter Gotscheff. Es ist wirklich berührend, wie die Zugewandtheit dieses Mannes in seiner letzten Regiearbeit – Zement im Residenztheater – in Tscheplanowas Bühnenpräsenz sichtbar wird: Sie steht in einem völlig anderen, sanfteren Licht als ihre Mitspieler. Gleichzeitig ist da der Tod Gotscheffs, sichtbar als eine helle Trauer, eine Art Dienst am ganz realen Tod dieses Menschen... Die Liebe ist also ein Umweg auf der Bühne, quasi ein Mittel der Lichtregie, fast wie in der religiösen Malerei.»
Im selben Gespräch stelle ich die Frage nach der Verantwortung des Regisseurs für seine Stoffe: «Ich glaube, dass es jenseits der individuellen Rezeptionsvielfalt den Willen des Künstlers gibt, für die Wirkung seiner Werke eine Art Verantwortung zu übernehmen. Nennen wir ihn den Willen zur Affirmation. Inwiefern arbeitest du mit diesem Willen?» Raus Antwort: «Ich würde von einer unmöglichen Verantwortung sprechen. Denn im affirmativen Akt übernimmt der Künstler ja die Verantwortung für etwas, für das er normalerweise als Person keine Verantwortung übernehmen kann oder will: zum Beispiel für den rassistischen Diskurs in Hate Radio, für die Verteidigungsrede des Rechtsterroristen Breivik in Breiviks Erklärung oder für die extrem intimen Enthüllungen in The Civil Wars. Auch meine oberflächlich betrachtet sehr eindeutig linksaktivistischen Prozess-Projekte sind zweideutig: In Moskau wären Pussy Riot und die anderen Künstler fast noch einmal verurteilt worden, bei den Zürcher Prozessen gewann die rechtspopulistische Zeitschrift Die Weltwoche 6:1, und da wurde ich ja tatsächlich gefragt: ‹Wie ist es denn so, für diesen Freispruch veranwortlich zu sein?› Kurzum, es entsteht eine widersprüchliche Situation, eine völlig unkontrollierbare Öffentlichkeit, die ich an anderer Stelle einmal heroisch genannt habe.»
Und haben wir hier nicht auch wesentliche formale Merkmale jedes religiösen Rituals oder jeder Liturgie: die Präsenz des nicht Präsenten, die vom Priester oder der Ritualleiterin inszenierte unkontrollierbare Zweideutigkeit zwischen «gut und böse» und die «heroischen» Akte der Gläubigen, beispielsweise im kollektiven Schuldbekenntnis, im öffentlichen Beten von Formeln der Anerkennung der eigenen Ohnmacht, in der kollektiven Bekräftigung einer Hoffnung auf eine ausstehende Rettung oder Versöhnung? Milo Raus Theater hält diese Möglichkeit von Versöhnung bei allem Schrecken, den es auf die Bühne bringt, immer offen.
In der Europa Trilogie, in der Rau versucht, die europäische Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg anhand biografischer Erzählungen seiner SchauspielerInnen zu zeigen, wo er also Einzelschicksal und Kollektivschicksal kunstvoll miteinander verbindet und damit die postmoderne Behauptung, dass jedeR nur für sich selber sprechen kann, einfach ignoriert, bekommt die Thematik der Erlösung zum Schluss einen zentralen Platz. Im letzten Stück Empire existiert zum Beispiel, anders als in den beiden ersten Teilen der Trilogie, eine Ebene der gelingenden Transzendenz. Der starke Bezug der Europa Trilogie zur klassischen Tragödie ergibt sich aber nicht nur aus der Lehre der Katharsis (Reinigung) durch Mitgefühl, sondern auch aus dem sanften Schock, den die Einsicht auslöst, es könnte das, was wir auf der Bühne sehen, nicht vollständig in einer Reihe individueller Handlungen oder den Folgen politischer Akte aufgehen, sondern mitbestimmt sein durch gemeinsames, also auch uns ZuschauerInnen betreffendes Menschenschicksal.
Die theologisch relevante Pointe liegt dann darin, dass die rau’schen Bühnensubjekte ihre eigenen Geschichten
mit einem Selbstbewusstsein präsentieren, das sich als Teil der universalen Geschichte versteht. Das tragische
Moment lässt zwar über die persönliche Unentrinnbarkeit dem kollektiven Schicksal gegenüber erschauern, stellt
die Figuren aber gleichzeitig in einen grösseren Zusammenhang. Es sorgt dafür, dass die in unserem depressiven Zeitalter zur schweren Last gewordene «Freiheit» des Ichs, Sinn und Bedeutung für das Leben
immer allein herstellen zu müssen, ihren solipsistischen Charakter verliert. Im weitesten Sinne tragisch zu nennen ist auch der Umstand, dass die individuellen Geschichten der SchauspielerInnen je für sich die Behauptung einer konflikthaften, unmöglichen Einheit der Menschen auf sich nehmen – vor allem als ein (heroisches) Tragen und Ertragen der Schuld der Vorfahren.
Damit bieten die SchauspielerInnen der Europa Trilogie ein Gegenbild zum nihilistisch-narzisstischen Terroristen unserer Tage. Denn es ist diese als schuldig und leidvoll erkannte Vergangenheit – die eigene und die der Gesellschaft – die der Suizidmörder vernichten muss. In seinem narzisstischen Wahn kann er nichts ertragen und nichts aushalten, vor nichts erschauern und nicht trauern. (Im Gegensatz dazu ist die Europa Trilogie eigentlich vor allem ein grosser Raum des Trauerns.) Und also manifestiert sich in diesem Gegensatz letztlich nichts weniger als die tragische Grundfrage der Menschheit, die die säkulare Moderne mit ihrem Bemühen, das Leid zu verhindern und zu verdrängen, doch nie ganz lösen konnte und die in den Weltreligionen seit tausenden von Jahren auf intensive und oft kluge Weise bearbeitet wird: Unter welchen Umständen kann erfahrenes Leid unsere Seele weise machen oder sie mit Hass erfüllen? Die Europa Trilogie trifft auf ein Publikum, das wieder bereit ist für diese Frage.
Selbstverständlich genügt es nicht, nur die Spannungen menschlicher Zweideutigkeiten zum Ausgangspunkt des künstlerischen Prozesses zu machen. Die eigentliche Schwierigkeit besteht darin, diese im Verlauf der Stoffauseinandersetzung nicht in Harmonisierungen oder Destruktionsphantasien aufzulösen. Milo Raus spezifische Begabungen – ein manisches und egalitäres Interesse an fast allem, ein fotografisches Gedächtnis, künstlerische Disziplin und Dialektik – geben ihm ein untrügliches Gespür, was für das Ganze in seiner Zerrissenheit stehen kann und was ins Klein-Klein von Teilproblemen zerfällt.
Milo Raus Theater vertraut ikonischen Bildern, Symbolen, Institutionen, weil er in ihnen die Verdichtung der geistigen, sozialen und emotionalen Substanz einer Gesellschaft erkennt, die sowohl analytisch als Ausdruck von Gewalt und Verdrängung als auch affirmativ als Versuche der Vermittlung und Versöhnung gelesen werden müssen. Mit diesem Ansatz ist er nahe dran an dem, was Religionen in ihren besten Momenten leisten können. Denn es ist schliesslich die immer offene Möglichkeit der Vermittlung von Gegensätzen, die die Tiefe des Rau’schen Theaters ausmacht: der Blick in die Hölle und in den Himmel, wie auf den spätmittelalterlichen Darstellungen des Jüngsten Gerichts, ist immer offen.
Die künstlerischen Mittel dieses Theaters sind vielfältig und folgen oft den Anforderungen der verhandelten Stoffe. Ob es sich dabei um ein Reenactment (eine Neuinszenierung historischer Ereignisse), ein Tribunal oder eine allegorische Erzählung handelt, es sind immer solche Rahmungen, die – nicht anders als die rituellen Rahmungen religiöser Praxis – die theoretische Durchdringung des Materials, die Gestaltung der Bühnen, die Führung der SchauspielerInnen oder die Erwartung des Publikums dirigieren. Diese Rahmungen verlangen zwar die Unterwerfung unter ihre Regeln, können das Individuum, das die durch den Rahmen geweitete Bühne betritt, aber auch herausführen aus der unmittelbaren Identifikation seiner/ihrer selbst. Für einen ekstatischen Moment kann das Individuum auf der Bühne, und mit ihm die ZuschauerInnen, aus dem, was es geworden ist, heraustreten und mit einem anderen Verhältnis zu seinen Handlungen wieder eintreten und weitermachen.
Die Bühne Milo Raus verwandelt keine Körper in Ideen, aber sie zeigt die Körperlichkeit von Ideen, sie verwandelt kein Schicksal in Freiheit, aber Schicksal in Erzählung. Und – um den Titel des bereits zitierten neuen Buches aufzunehmen: Die Wiederholung auf der Bühne ist keine Kategorie des Zwangs, die nach ekstatischer Befreiung ruft, sondern eine der Variationen, die dem Gegebenen neue Perspektiven abringen. Die Ekstase hinwiederum ruft nicht nach Rausch, Ausreissung und Entstaltung, wie es immer wieder in selbstzerstörerischen Formen von Religion, Politik und Kunst geschieht, sondern ermöglicht Bewegung beziehungsweise Bewegtheit als symbolische Handlung des Aus- und wieder Eintretens. Von nichts anderem handeln überall auf der Welt und zu jeder Zeit die religiösen Praktiken der Selbsterkenntnis.
Buchtipp → Milo Rau/Rolf Bossart: Wiederholung und Ekstase. Ästhetisch-politische Grundbegriffe des International Institute of Political Murder. Diaphanes, Zürich/Berlin 2017.
*1970, ist Theologe, Dozent für Religionswissenschaft und Mitarbeiter für Theorie beim International Institute of Political Murder. Er war von 2008–2012 Redaktor bei Neue Wege.