Schreiben … schreien. Mariella Mehr

Christa Baumberger, 23. Januar 2023
Neue Wege 1/2.23

Mariella Mehrs Werk und Leben lassen sich mit einem Wort charakterisieren: Widerstand. Jedes Wort, das sie schrieb, war ein Widerwort. Im September 2022 ist sie gestorben. Kein Nachruf, sondern ein Aufruf.

Dem Leben ein Schnippchen schlagen, darin war sie gut: die Schriftstellerin Mariella Mehr (1947-2022). Am Schluss hat sie es gemacht wie der jenische Onkel Alois in der Erzählung Heimat im Wort: Kurz vor seinem Tod entwischt er durch die Hintertüre des Spitals, denn er will dort sterben, wo er sich zu Hause fühlt, im Wald. In Freiheit und Frieden. «Das Wort hat ihn aufgenommen», so endet die Geschichte vom Korbflechter Alois. Es ist einer der heitersten Texte von Mariella Mehr, er handelt von Selbstbestimmung und einem erfüllten Leben. «Dort, wo man Geschichten erzählt, dort ist Heimat», weiss Alois. Die Sprache trägt ihn, sie schenkt ihm hundert Leben. Auch Mariella Mehr hat ihre Heimat im Wort gefunden, und am Schluss ist sie allen zuvorgekommen und entwischt. Am 27. Dezember 2022 wäre sie 75 Jahre alt geworden, der Limmat Verlag bereitete zu diesem Anlass ein neues Bändchen vor. Doch dann ist sie vier Monate vorher verstorben: friedlich und versöhnt mit sich und ihren nächsten Angehörigen.

Mit Mariella Mehr ist eine der widerständigsten Stimmen der Schweizer Literatur verstummt: kämpferisch, eigensinnig, poetisch, kraftvoll. So sind auch ihre Texte, und diese bleiben. Deshalb ist das hier kein Nachruf, sondern ein Aufruf: Lest Mariella Mehr, lest ihre Texte immer wieder. Denn ihre Lebensthemen sind heute aktueller und dringlicher denn je: Es geht um Gewalt in allen Erscheinungsformen, um die Verschränkung von Macht und Gewalt, aber auch um Selbstermächtigung, Zivilcourage und den Mut, das Wort zu ergreifen, einzustehen für sich selbst und für diejenigen, die keine Stimme haben.

Jeanne d’Arc der Jenischen

«Nein, diese Suppe fress ich nicht!», schleuderte sie mehr als einmal den Machthabern ins Gesicht. Am eindrücklichsten am 5. Mai 1986, als sie mit einer Delegation der Radgenossenschaft der Landstrasse die Pressekonferenz der Pro Juventute stürmte, in der es um die «künftige Handhabung und Aufbewahrung der Hilfswerk-Akten» ging. Wortstark verlangte sie vom damaligen Stiftungsratspräsidenten, alt Bundesrat Rudolf Friedrich, endlich Verantwortung zu übernehmen und sich öffentlich bei den Opfern der Aktion «Kinder der Landstrasse» zu entschuldigen. Das Foto von diesem Moment ist berühmt: Mariella Mehr steht im Zentrum, mit ausgestrecktem Arm und erhobenem Zeigefinger, hinter ihr eine Phalanx von grimmig dreinblickenden jenischen Männern. In diesem Moment war sie tatsächlich eine «Jeanne d’Arc der Jenischen». Eine sprachgewandte Wortführerin, die nicht nur die politische Übermacht vor ihr, sprich alt Bundesrat Friedrich am Rednerpult, sondern auch das jenische Patriarchat hinter ihr zum Verstummen brachte. Als «schlitzäugige Jeanne d’Arc der Jenischen» hat sie der Künstler Max Läubli 1986 gezeichnet.

Zur Erinnerung: Das von der Schweizerischen Eidgenossenschaft mitfinanzierte und von der Stiftung Pro Juventute geleitete «Hilfswerk» nahm von 1926 bis 1973 rund 600 jenische Kinder ihren Eltern weg, stellte sie unter Vormundschaft und platzierte sie in Pflegefamilien, Heimen und Anstalten. Die Aktion war von eugenischem Gedankengut gespiesen, sie hatte zum Ziel, diese «Kinder der Landstrasse», darunter auch solche aus längst sesshaften Familien, zu «brauchbaren Gliedern der Gesellschaft» zu erziehen, wie es die Pro Juventute formulierte, und die nichtsesshafte Lebensweise zu beseitigen. Das Projekt wurde 1973 auf öffentlichen Druck hin zwar eingestellt, doch dauerte es weitere dreizehn Jahre bis eine öffentliche Entschuldigung und eine (symbolische) Entschädigung durch den Bundesrat erfolgte. Mariella Mehr gehörte ebenfalls zu den Betroffenen: 1947 als Angehörige der Jenischen in Zürich geboren, wurde sie bereits in frühester Kindheit von ihrer Mutter getrennt und unter Vormundschaft gestellt. Sie wuchs in verschiedenen Heimen, bei Pflegeeltern und in psychiatrischen Anstalten auf. Als sie im Alter von 18 Jahren schwanger wurde, wurde sie für 19 Monate im Frauengefängnis Hindelbank sogenannt «administrativ versorgt». Insgesamt waren drei Generationen ihrer Familie Opfer des «Hilfswerks»: Bereits ihre Mutter und auch der 1967 geborene Sohn wurden zwangsweise fremdplatziert, ihr Bruder nahm sich mit zwölf Jahren in einem Heim das Leben. Doch Mariella Mehr gelang, was den anderen versagt blieb: Sie fand eine Sprache für das erlittene Leid. In ihren Reden, Romanen und Gedichten schuf sie eine expressive, bilderreiche Sprache für existenzielle Erfahrungen wie Fremdheit und Zugehörigkeit, Verletzung und Schmerz.

Widerstand … Widerworte

Ihr Werk und ihr Leben lassen sich mit einem Wort charakterisieren: Widerstand. Jedes Wort, das sie schrieb, war ein Widerwort. Zeitlebens arbeitete sie an einer «Chronik aller am Leben Zugrundegegangenen» und meinte damit längst nicht nur sich selbst. Zwar ist ihr erster Roman Steinzeit (1981) klar autobiografisch, er behandelt die eigene Kindheit und Jugend. Doch dann bewegte sie sich sukzessive weg von der eigenen Biografie. Bereits Mitte der 1970er Jahre begann sie sich als Journalistin mit anderen Themen und Schicksalen zu befassen, und in den 1980/90er Jahren mischte sie sich lautstark in gesellschaftliche Debatten ein. Daneben publizierte sie eigene Bücher: den Gedichtband In diesen Traum schlendert ein roter Findling (1983) und den Bericht Das Licht der Frau (1984) über Spaniens Stierkämpferinnen. 1987 erschien die Dokumentation Kinder der Landstrasse. Ein Hilfswerk, ein Theater und die Folgen (1987), drei Jahre später die Essaysammlung RückBlitze (1990). Die Solidarisierung mit anderen half zweifellos bei der Bewältigung des eigenen Schicksals, doch ging es ihr um ein tiefgreifendes gesellschaftspolitisches Engagement. Heute würde man sie als radikale Aktivistin bezeichnen, kompromisslos in der Haltung, akribisch in der Recherche und ganz und gar dem engagierten Schreiben verpflichtet. Ihr Nachlass im Schweizerischen Literaturarchiv enthält umfangreiche Dossiers mit Zeitungsartikeln zu Themen und Fällen, die sie interessierten. Etwa der Fall der jungen Silvia Z., die sich 1980 auf dem Bellevue-Platz in Zürich mit Benzin übergoss und anzündete. Ihr widmete sie eine Reportage und das Theaterstück Silvia Z. Ein Requiem.

Geschichte(n) von unten

Wie Niklaus Meienberg oder Laure Wyss betrieb auch sie Milieustudien und schrieb «Geschichte(n) von unten». Sie rückte Aussenseiter*innen, Minderheiten und oppositionelle Gruppen ins Zentrum und richtete ein besonderes Augenmerk auf die Psychiatrie und den Strafvollzug. Mit ihren Themen traf sie den Puls der Zeit, sie berichtete aus Anstalten, die der Öffentlichkeit verschlossen waren, analysierte die Macht von Institutionen, und sie deckte auf, wie Individuen zu Aktenfällen werden: sogenannt Verrückte in der Psychiatrie, administrativ Versorgte im Frauengefängnis Hindelbank oder Obdachlose in Heimen. 1998 erhielt sie die Ehrendoktorwürde der Universität Basel, in ihrer Dankesrede Von Mäusen und Menschen fasste sie ihr Engagement so zusammen: «Immerhin Schriftstellerin bin ich geworden, eine, die sich, so gut es eben geht, den Verachteten, Ungeliebten, den Belächelten verschrieben hat, jenen Seiltänzern wie ich, die es, je nach Erfahrung und Schicksal, oft bis in den Wahnsinn verschlägt, und Wahnsinn steht am Ende fast jeder dieser Wege, so wie an deren Anfang nur allzu oft eine Diagnose steht, die sich buchstäblich selbst vorantreibt und sich, mit etwas praktischer Nachhilfe, in die Seele eines Menschen einmeisselt, bis dieser daran zerbricht.»

Das ist fundamentale Kritik an Institutionen wie der Psychiatrie, die in dieser Zeit quasi uneingeschränkt Verfügungsmacht über Menschen hatten. Die Flucht in den Wahnsinn erscheint als verzweifelter Akt der Selbstbehauptung und als letzter Ausweg, um sozialen Zwängen und Repression zu entgehen. Nachdem Mehr in der Kindheit und Jugend die Zurichtungspraktiken von Institutionen am eigenen Leibe erfahren hatte, war sie seit den 1970er Jahren als Journalistin und Autorin Teil einer internationalen Bewegung, die sich kritisch mit der Psychiatrie, mit Strafjustiz und Gefängnissen befasste. Die Debatte wurde eminent vom französischen Philosophen Michel Foucault beeinflusst, der 1970/71 die «Groupe d’information sur les prisons» mitbegründete. Diese verschaffte sich Zutritt zu französischen Gefängnissen, stand im direkten Austausch mit Gefangenen und sammelte Informationen über die Situation in Strafanstalten. In der Schweiz formierte sich von 1973 bis 1979 die «Aktion Strafvollzug» (Astra) mit dem Publikationsorgan «Schwarzpeter». Die Ziele waren ähnlich: die Anliegen der Gefangenen publik machen und eine öffentliche Debatte über die Verhältnisse in Gefängnissen anregen. Foucaults Studie Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses (1975) erschien 1976 in der deutschen Übersetzung. Mehr beschäftigte sich mit Foucault und fühlte sich seiner Geschichtsschreibung von unten verpflichtet, die den Unterworfenen, Stummen, Ausgesonderten aus der Gesellschaft das Wort erteilte.

Stimmen der Stummen

Auch Mehr griff exemplarische Fälle in der Schweiz auf. Fälle wie Gilbert Tassaux (1935–1983), der in der Psychiatrischen Universitätsklinik Waldau starb, erschlagen von einem jugendlichen Mitpatienten, den er selbst dazu dieser Tat aufgefordert hatte. Mehr sah in Tassaux die Verkörperung des Zwangssystems der Psychiatrie schlechthin. In minutiöser Recherche sammelte sie Zeitungsberichte, las seine Gedichte und Texte und schrieb für die Berner Zeitung einen Nachruf. Doch Tassaux liess sie nicht mehr los, und schliesslich formte sie aus ihm die Hauptfigur ihres Psychiatrieromans Zeus oder der Zwillingston (1994). Der Roman schildert detailreich die Vorgänge in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt und verknüpft sie mit Motiven der griechischen Mythologie. Das Verhältnis von Psychiatern und Patientinnen ist von Gewalt durchdrungen, doch findet man auch erstaunlich viel Solidarität, Zärtlichkeit und Humor. Ausserdem sind die Insass*innen nicht einfach ohnmächtig, sondern sie erlangen durchaus Handlungsmacht. Im Roman hat es auffällig viele Bezüge zur antiken Mythologie. Diese brechen die hermetische Welt der Psychiatrie auf und öffnen ein weites Universum. Auch Mehrs Gedichte sind von einer Vielzahl mythischer Figuren bevölkert. Prometheus etwa, dem jeden Tag die Leber weggefressen wird, nur damit sie in der Nacht wieder nachwächst. Oder der Vogel Phönix, der aus der Asche zu neuem Leben aufersteht. Die antike Mythologie hält ein Panoptikum der Gewalt bereit, das Mehr zweifellos auch deswegen faszinierte, weil sie damit ihre eigene Gewalterfahrung transzendieren konnte.

Schreiben … Schreien

Mehr suchte nach literarischen Echoräumen, nach Weggefährten und Seelenverwandten quer durch die Jahrhunderte. Einer von ihnen ist Antonin Artaud (1896–1948), «ein im Schmerz Reisender» wie sie selbst. Kaum einer hat im 20. Jahrhundert derart radikal nach einer körperlichen Wahrheit gesucht wie der französische Dichter und Schauspieler. In seinen Schriften zu einem «Theater der Grausamkeit» formuliert er die Vision eines Theaters, das in der Gestik, den Stimmen und der körperlichen Präsenz der Schauspieler zu einer unmittelbaren und einmaligen Erfahrung wird. Auf einer Reise 1936 nach Mexiko zu den Tarahumara-Indianern machte er Rauscherfahrungen mit Peyotl. Nach der Rückkehr war er rund zehn Jahre in psychiatrischen Kliniken interniert, wo er – wie Mehr selbst – mit Elektroschocks traktiert wurde und 1948 starb. «Nur über unseren eigenen, gefühlten Schmerz ist dieser grosse Dichter überhaupt zugänglich», schreibt Mehr in einem eindringlichen Text über Artaud. Sie ist zutiefst beeindruckt von seinem Vermögen, körperlichen Schmerz im Text erfahrbar zu machen. Seine Sprache ist für sie «geschriene Musik». Mehr findet bei Artaud das, was sie selber schaffen will: Literatur, die derart unmittelbar durchdrungen ist von erlebtem und erlittenem Schmerz, dass er sich beim Lesen direkt in den Körper eintätowiert. Für Artaud wie für Mehr gilt: Schreiben und Schreien sind sich nah. Mariella Mehr arbeitet an einer Poetik des Schreis, einer radikalen Verschränkung von Sprache und Gewalt. Ein Beispiel ist der kurze Zellentext (1995/96), der während der Arbeit an den ersten Entwürfen zum Roman Angeklagt entstand. Im Text spricht ein Mensch in Isolationshaft – ob Frau oder Mann bleibt offen –, angeklagt der Brandstiftung und des Mordes. Er spricht in äusserster gedanklicher Klarheit, mitleidlos, und wenn er zum Schrei ansetzt, so tut er es präzise kalkulierend.

Sprache als Waffe

Hart, kalt und von messerscharfer Logik ist auch der Roman Angeklagt (2002). Es ist der dritte Teil von Mehrs Hauptwerk, der Romantrilogie, die häufig auch als Trilogie der Gewalt bezeichnet wird. Der Roman spielt ganz im Inneren einer Gefängniszelle, in der die junge Brandstifterin und Mörderin Kari sitzt und in einem endlosen Monolog teilnahmslos von ihren Gräueltaten berichtet. Als Leserin kann man sich diesem Wortstrom nicht entziehen, der Text entwickelt einen unheimlichen Sog und die Sprache schneidet wie ein Skalpell ins Gehirn. Der Roman bricht mit dem Tabu der weiblichen Täterschaft, denn Kari sieht sich nicht primär als Opfer und sie steht zu ihrer Tat. Das kommt bereits im Motto zum Ausdruck, das dem Roman vorangestellt ist und das Mehr frei nach Foucault formuliert: «Weibliches Töten ist ein Schritt aus der weiblichen Sprachlosigkeit. Es heisst nichts anderes als: Ich spreche. Jetzt spreche ich.» Gewalt als Extremform der Kommunikation zieht sich als Leitmotiv durch Mariella Mehrs gesamtes Werk. In der Trilogie der Gewalt findet eine sukzessive Überwindung weiblicher Sprachlosigkeit und ein allmählicher Perspektivenwechsel statt, vom Opfer hin zur Täterin. In Daskind (1995), dem ersten Teil der Trilogie, bleibt das namenlose Pflegekind, von allen nur Daskind genannt, standhaft stumm. Sprachverweigerung als wirksames Instrument des Widerstands. Im zweiten Roman Brandzauber (1998) ist die Sprache Medium der Erinnerung, sie bringt Verdrängtes an die Oberfläche. Im dritten Band Angeklagt (2002) schliesslich wird die Sprache zur tödlichen Waffe. Was sich in den Romanen als langsame Bewegung vollzieht, erscheint in den Gedichten scharf und geschliffen wie ein Diamant: «Es wuchs das Wort / Mir im Mund / Zur Steinschleuder / In der Hand.»

Literatur

Christa Baumberger: Die Zelle als Text-Inkubator. Angeklagt von Mariella Mehr. In: Christa Baumberger (Hrsg.). Schreiben im Gefängnis. Quarto 39. Genf 2014, S. 88–94.

Michel Foucault. Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses. Übersetzt von Walter Seitter. Frankfurt a. M. 1976.

Mariella Mehr. Von Mäusen und Menschen. Zürich 2022.

Mariella Mehr. Widerworte. Geschichten, Gedichte, Reden, Reportagen. Hg. von Christa Baumberger und Nina Debrunner. Zürich 2017.

Mariella Mehr. Das Kind, Brandzauber. Angeklagt. Romantrilogie. Zürich 2017.

Mariella Mehr. Zeus oder der Zwillingston. Hg. von Ruth Mayer. Zürich 1994.

  • Christa Baumberger,

    *1974, ist Literaturwissenschaftlerin. Von 2009 bis 2018 war sie verantwortlich für den Nachlass von Mariella Mehr im Schweizerischen Literaturarchiv der Nationalbibliothek. Sie hat den Band Mariella Mehr. Widerworte (2017) herausgegeben.