Tú eres Dios

Donat Blum, 20. Mai 2022
Neue Wege 5.22

Wir halten uns eng umschlungen, damit wir beide möglichst viel vom warmen Wasserstrahl abkriegen. Du stehst mit mir in Lima unter der Dusche und flüsterst mir die ersten paar Sätze deines Lieblingsgedichts des peruanischen Dichters César Moro ins Ohr. Ein Gedicht aus den Briefen, die er Antonio nach Mexiko geschickt hat:

Antonio es Dios. Antonio ist Gott.
Antonio es el Sol. Antonio ist die Sonne.

Dabei ersetzt du den Namen von Moros Angebetetem durch meinen. So wie du es vor einigen Monaten schon einmal getan hast. Als unsere Beziehung zwangsläufig wieder metaphysischer Art war und wir uns auf Zoom und Whatsapp mit Buchstaben vergöttern mussten. Als Worte und Videobilder physische Berührungen ersetzten. Als uns 10 000 Kilometer trennten, das meiste davon Wasser.

Du schliesst die Augen, und ich gehe vor dir in der Dusche auf die Knie, um deine Lenden­knochen, deinen Hintern und die Haare zwischen deinen Beinen einzuseifen. Wie damals ersetze ich nun meinen Namen mit deinem:

Gabriel:le es Dios. Gabriel:le es el Sol.

Was mich seit jeher an Religion fasziniert, ­Ga­briel:le, ist das zutiefst Menschliche. Die anthropologische Konstante, die sich in einem Liebes­gedicht erfahren lässt. In der Erkenntnis, dass es schon vor Jahrzehnten Dichter*innen gab, die erlebt haben, was wir gerade erleben. Oder in den in der Bibel beschriebenen Hoffnungen und Ängsten, die uns Menschen offenbar schon vor Tausenden von Jahren umgetrieben haben. Im poetischen Erlebnis, dass es ein «Uns» gibt, ein «Wir», etwas, das uns mit unseren Vorfahren weit über unsere Zeitrechnung und über alle Kulturkreise hinweg verbindet.

In der über die ganze Menschheitsgeschichte geteilten Erfahrung von Hass, Neid, Angst, Sehnsucht nach Zuversicht und von Begehren, das uns zu Mitgefühl, Liebe und zur leiblichen Vereinigung antreibt: Darin erlebe ich das Göttliche.

Lange ist es her, dass ich zum letzten Mal so viel Zeit zum Schreiben hatte wie nun hier in Peru. Dabei heisst Schreiben vor allem, auf mich zurückgeworfen zu sein. Ich bewege mich hier nicht viel weiter als zwischen den Figuren in meinem Roman, meinem Onkel, der hier lebt, und dir, Gabriel:le, hin und her. Läuft es in der einen oder anderen Geschichte nicht rund, wird schnell mal viel Platz frei für Abwärtsspiralen aus Covid-, Kriegs- und Versagens­ängsten. Die manchmal panische Züge annehmen. Die mich in Restaurants vor vollen Tellern kapitulieren lassen, weil ich keinen Bissen mehr runterbringe. Die mir aus heiterem Himmel Schweiss­ausbrüche und schlaflose Nächte bescheren. Die meinen Magen umdrehen.

Du nimmst mich dann in den Arm und flüsterst mir ins Ohr «Alles kommt gut», legst mir die Hand auf den stürmischen Bauch, um dasselbe von Körper zu Körper zu kommunizieren. Oder wir küssen uns lange, suchen gemeinsam die Entspannung, tauchen in unsere Gaumen und Rachen ab, in unsere Körper, zwischen unsere Beine, beissen uns gegenseitig in den Nacken, verdrehen die Augen, atmen, stöhnen, und ich rufe deinen Namen:

Gabriel:le es Dios.

Oder du erzählst mir, wie du mit Panikattacken umgehst. Wie dir Gedichte, Yoga und Atemübungen helfen. Und wir versichern uns gegenseitig, dass es in Ordnung ist, zusammen vor Angst, vor dem vermeintlich unüberwindbaren Wasser, das uns bald wieder trennen wird, oder aus Verletzungen in der Vergangenheit vor, nach und zwischen dem Sex zu weinen.

Und auch mein Onkel erzählt mir von seinem Umgang mit Angst. Überkommt sie ihn im Fahrstuhl, konzentriert er sich auf sein Spiegel­bild, richtet mit voller Konzentration Hemd und Haare. Und nach einer meiner Attacken schickt er mir ein Foto des Kalenderblatts, auf dem an jenem Tag ein Bibelvers aus dem Matthäusevangelium abgedruckt ist:

«Petrus konnte auf dem Wasser gehen und ging auf Jesus zu. Als er aber den Wind spürte, fürchtete er sich, als er zu sinken begann, schrie er: Herr, rette mich!»

Geteiltes Leid ist halbes Leid. Teilen verbindet. Menschen im Hier und Jetzt. Dich und mich. Aber eben auch über Generationen hinweg: mich mit meinem vierzig Jahre älteren Onkel, uns mit César Moro und Antonio, und alle, die die Bibel aufschlagen, mit Petrus und den Personen, die diesen Satz aufgeschrieben, die ihn gelesen, übersetzt und über die Jahrhunderte weitergereicht und bewahrt haben, um sich gegenseitig Hoffnung zu machen: Du bist nicht allein, wir kennen diese Erfahrung, wir haben es auch übers Wasser geschafft.

Das Göttliche liegt für mich im zutiefst Menschlichen. In der Angst und in der Liebe.

Viel zu oft wird Religiosität auf Regeln und Moral reduziert. In den Augen vieler ist es das, was sie an «der Religion» ablehnen – in den Augen anderer ist es gerade das, was sie daran anzieht. Für uns queere Menschen gäbe es mehr als genug Gründe, zu Ersteren zu gehören und wütend zu sein auf die institutionalisierten Religionen, die unsere Existenz, unser Begehren und unsere Körper grösstenteils bis heute verteufeln, negieren und uns, selbst wenn sie uns nicht explizit ausschliessen, doch nur am äussersten Rande mal liebevoll mitdenken.

Während meinem ersten Studium der Interreligiösen Studien an der Theologischen Fakultät der Uni Bern ist mir zum ersten Mal bewusst das sogenannte Doppelgebot der Liebe begegnet. Es korrespondiert erstaunlich gut mit meiner queer-polyamoren Erfahrung, dass Liebe ansteckend ist. Wer sich geliebt fühlt – von sich selber, von anderen, von Gott –, der liebt. Und umgekehrt: Wer liebt, der wird Liebe erfahren.

Finde ich in religiösen Texten Stellen, die mein Begehren widerspiegeln, berührt mich das jeweils auf eine ganz besondere Art und Weise. Seien es Gedichte von Rumi, die biblische Geschichte von David und Jonathan oder das Hohelied, das laut der Theologin Karin Hügel «queer» gelesen werden kann, beschreibt es doch sinnliche Liebe ausserhalb der Ehe und damit ausserhalb «vorherrschender Normen».

Diese queeren Texte berühren mich auf ganz besondere Art, weil sie mich erleben lassen, dass unser Begehren, unsere Lust und Liebe nicht nur uns zwei, dich, Gabriel:le, und mich, miteinander verbinden, sondern uns und alle unsere Nahbeziehungen, Vorfahren und Nachkommen – egal ob queer oder cis-heterosexuell – miteinander und mit dem Göttlichen.

Nosotros somos Dios. Wir sind Gott.

Nie komme ich der Auflösung der Welt um mich herum, der Transzendenz, so nahe, wie wenn ich mich mit einem anderen Menschen mit Leib und Seele vereinige wie mit dir. Wenn der Duschstrahl über uns rinnt wie Regen, wenn wir ineinander dringen, mit Worten, Fingern, Zungen und Genitalien, wenn sich unser Pulsschlag synchronisiert, wenn wir in einem seit Tausenden von Jahren bestehenden Rhythmus tiefste Menschlichkeit leben und dabei göttliche Ewigkeit atmen.

  • Donat Blum,

    *1986, debütierte 2018 mit dem autofiktionalen, queeren Roman Opoe. Davor hat er als Tellerwäscher und Geschäftsführer gearbeitet und Inter­religiöse Studien an der Theologischen Fakultät der Universität Bern und Literarisches Schreiben am ­Literaturinstitut Biel studiert.