Über Grenzen hinausdenken

Doris Strahm, 8. Februar 2021
Neue Wege 1/2.2021

Feministische Theologie führte weltweit zu einem Aufbruch von Frauen, doch ihre Verdienste drohen wieder in Vergessenheit zu geraten. Aus Anlass der Verleihung eines Ehrendoktorats für ihre feministisch-­theologische Arbeit würdigt die Autorin die Anfänge, Entwicklungen und Spannungsfelder ­feministischer Theologien, skizziert Lernprozesse und zeigt die Aktualität vieler Themen auf.

Die Anfänge jener Theologie, die sich explizit als Teil der feministischen Bewegung versteht, datieren in der Schweiz auf Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre. Vorläuferinnen waren Pionierinnen der kirchlichen Frauenarbeit und Frauen­bewegung wie Ruth Epting, Marga Bührig, Else Kähler und Gertrud Heinzelmann. Ende der 1970er Jahre – die Neue Frauenbewegung war in ihrer Hochblüte – fand unter uns jüngeren Theologinnen ein feministischer Aufbruch statt. Wir gründeten Frauenlesegruppen an den theologischen Fakultäten, diskutierten feministische Bücher wie Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht und Mary Dalys The Church and the Second Sex. ­Dieses Buch, 1970 auf Deutsch erschienen, ­öffnete uns die Augen für die Zusammenhänge von christlicher Theologie und Frauenunterdrückung, gab uns erste Einblicke in die theologische Konstruktion der Frau als dem anderen, sprich dem minderwertigen Geschlecht. Weitere Analysen folgten: So wurde der Sexismus in der christlichen Gottesrede entlarvt und nach neuen Gottesbildern gesucht – Jenseits von Gottvater, Sohn & Co (Daly). Die Weiblichkeit Gottes und vergessen gegangene weibliche Gottesbilder in der Bibel wurden wiederentdeckt, ebenso das historische Erbe unserer biblischen Vorschwestern, die in den Anfängen des Christentums als Jüngerinnen, ­Apostelinnen, Gemeindeleiterinnen und Missionarinnen eine zentrale Rolle spielten. Exegetinnen wie Elisabeth Schüssler Fiorenza und andere entwickelten eine feministisch-kritische Hermeneutik von Bibeltexten, die deren unterdrückende und befreiende Elemente freilegte und eine Flut von feministischen Bibelarbeiten und exegetischen Studien auslöste. Eine feministische Dekons­truktion und Re-Vision der patriarchalen Christologie wurde angestrebt, die dem Verlangen von Frauen nach Heilwerden Ausdruck verleiht. Frauengottesdienste fanden statt, neue liturgische Formen und eine liturgische Sprache ohne androzentrische Verengungen wurden praktiziert.

Aufbruch zu neuen Räumen

Es war eine Zeit der fundamentalen Kritik an einer frauenunterdrückenden Theologie und Kirche, aber auch des Aufbruchs unzähliger christlicher Frauen, die endlich mit ihren eigenen religiösen Erfahrungen zu Wort kommen wollten. Das evangelische Tagungszentrum Boldern und die katholische Paulus-Akademie Zürich wurden zu wichtigen Räumen dieses Aufbruchs. «Sisterhood is ­powerful» war damals nicht einfach ein Slogan, sondern wurde an Frauentagungen gelebt und erlebt, beflügelte unseren Geist und vibrierte in unseren Körpern. Unser Horizont wurde weit, kritisches Denken konnte sich frei entfalten, keine patriarchalen Glaubenssätze und Dogmen ­setzten ihm Grenzen. Voller Leidenschaft möblierten wir damals die christlichen Glaubensräume neu. Unsere Re-Vision der christlichen Theologie und die leidenschaftliche Suche nach einer frauenbefreienden und lebensfreundlichen Theologie sollten die Gesellschaft verändern und ebenso deren religiös-symbolische Ordnung.

Die 1980er und frühen 1990er Jahre waren eine Zeit der Hochblüte für die feministisch-theologische Bewegung in der Schweiz: Es fanden lokale und nationale Frauenkirchentage und Frauenkirchenfeste statt. 1985 haben wir, acht junge Theologinnen, die feministisch-theologische Zeitschrift FAMA gegründet. Auch an Universitäten hielt die feministische Theologie Einzug: Ab Mitte der 1980er Jahre gab es auf ­Betreiben von Studierenden Lehraufträge an den Universitäten Bern, Luzern und Fribourg, später auch in Basel. Es wurden Fachstellen für feministische Theologie sowie ­kirchliche Frauen- und Gender­stellen ­gegründet, 1991 schlossen sich katholische und reformierte Theologinnen zu einer IG Feministische ­Theologinnen zusammen; ab 1995 ­fanden alle paar Jahre grosse ­ökumenische «Frauensynoden» statt. Und jüngst gingen Theologinnen und Kirchenfrauen im Rahmen des nationalen Frauen*­streiks 2019 für ihre Anliegen auf die Strasse. Einiges hat bis heute Bestand: so z. B. die FAMA, die IG Feministische Theologinnen und die Frauen­synode, die 2021 zum Thema «Wirtschaft ist Care» stattfinden wird. Anderes wurde wieder abgeschafft, wie feministisch-theologische Lehraufträge und die meisten kirchlichen Frauenstellen.

Feministische Theologie hat sich im Lauf der Jahre verändert: Sie ist vielfältiger und vielstimmiger geworden und umfasst eine grosse Positionen- und Perspektiven­vielfalt. Ab den 1990er Jahren fand die aus den Gender Studies stammende Analysekategorie «Gender» vermehrt Eingang in die feministische Theologie. Damit wurde noch stärker herausgestrichen, dass es nicht um eine Theologie der Frau geht, sondern um Geschlechterverhältnisse, um die Analyse und Kritik theologisch begründeter patriarchaler Geschlechterordnungen und Geschlechterrollen und deren Überwindung. Genderforschung fragt danach, inwieweit die christliche Religion, das heisst Bibeltexte, theologische Konzepte und kirchliche Strukturen, an der Herstellung und Verfestigung von «Geschlecht» und der Reproduktion des hierarchischen und machtförmigen Geschlechter­dualismus beteiligt sind. Ebenfalls in den 1990er Jahren entstanden lesbische, schwule und Queertheologien. Letztere betreibt Theologie ausgehend von der Lebenswirklichkeit queerer Menschen, liest biblische und theologische Texte aus dieser Optik neu und versteht sich als Theologie der Befreiung aus einer heteronormativen Theologie.

Eine Differenzierung und ­Pluralisierung feministischer Theologie wurde insbesondere von jenen Stimmen ­vorangetrieben, die blinde Flecken der westlichen ­feministischen Theologie aufdeckten. Sie zwangen diese zur selbstkritischen Re­flexion der eigenen Grenzsetzungen und des Ausschlusses anderer Frauen und ­setzten wichtige Lernprozesse in Gang. Vier dieser blinden Flecke möchte ich näher beleuchten: Antijudaismus, Euro­zentrismus, Rassismus und (Neo-)Kolonialismus.

Antijudaismus – auch in feministischen Theologien

Es war auch für mich ein Schock, als uns jüdische Theologinnen wie Susannah Heschel und Judith Plaskow Ende der 1980er Jahre die antijudaistische Schlagseite unserer frauenbefreienden Theologien aufzeigten.1 In unseren Versuchen, hinter dem dogmatischen ­Christus den biblischen Jesus als Befreier der Frauen wiederzuentdecken, strichen die meisten Theologinnen die Besonderheit des historischen Jesus vor einem negativ gezeichneten patriarchalen Judentum der ­damaligen Zeit heraus. So wurde die befreiende Praxis Jesu Frauen gegenüber als neu und einzigartig innerhalb des ­jüdischen Umfeldes herausgehoben. Diese Gegenüberstellung übersah nicht nur die Tatsache, dass Jesus Jude war und zeitlebens Jude blieb und als ­solcher seine befreiende Reich-­Gottes-Botschaft verkündete; sie führte auch ein dem Christen­tum fast von Anfang an ­inhärentes antijudaistisches Motiv in neuer Form weiter: das Christentum als Überwindung des Judentums! Jüdische Theologinnen machten uns bewusst: Antijudaismus ist nicht nur die Kehrseite der Christologie, sondern ein grund­sätzliches Problem der christlichen Theologie. Das Eigene des Christentums wurde und wird zum Teil bis heute im Gegensatz zum Judentum herausgestellt und in Abgrenzung und Abwertung der ­jüdischen Religion formuliert: das Christentum als ­Religion der Liebe, das Judentum ­dagegen als Religion des Gesetzes; die Kirche als das neue Israel anstelle des Judentums. Und die feministische Version: Jesus hat Frauen vom jüdischen Patriarchat befreit. ­Dieser theologisch verankerte Antijudaismus, der während Jahrhunderten den Nährboden für Judenverfolgungen und auch für den Antisemitismus des 20. ­Jahrhunderts bereitete, ist bis heute virulent. Einzusehen und sich einzugestehen, dass auch wir christliche feministische Theologinnen antijudaistische Denkmuster – unbewusst – weitergeführt hatten, war schmerzhaft, hat aber zu einem Umdenken geführt.

Eurozentrische Universalisierung von Frauenerfahrungen

Das Bewusstwerden, dass Frauenerfahrungen in der Theologie nicht vorkamen, dass die allgemein-menschlichen Erfahrungen, von denen die Theologie sprach, faktisch männliche Erfahrungen waren, stand am Anfang feministischer Theologie. Die bisher unsichtbar ­gebliebenen Erfahrungen von Frauen wurden zu ihrem Ausgangspunkt. Wenig reflektiert wurde bis Mitte der 1980er Jahre jedoch, ­welche Erfahrungen diesen Reflexionen zugrunde gelegt wurden, welches Subjekt «Frau» da eigentlich sprach und in ­wessen Namen.

Erst die Kritik von Schwarzen Frauen aus den USA und von Women of Color des Globalen Südens machte feministischen Theologinnen bewusst, dass sie unreflektiert von den Frauen gesprochen hatten, ohne zu merken, dass sie damit ihre eigene Situation als gebildete, weisse, heterosexuelle westliche ­Mittelstandsfrauen zu universell gültigen Frauen­erfahrungen verallgemeinerten, während die Lebenszusammenhänge von Schwarzen Frauen und Women of Color ausgeblendet blieben.

Diese Kritik war Auslöser für die Erkenntnis, dass Frauenerfahrung als grundlegende Kategorie feministischer Theologie keine universale und einheitliche Grösse ist, dass die konkreten Erfahrungen von Frauen nicht nur vom Geschlecht, sondern ebenso von der sozialen Klasse, Kultur, Religion, von rassistischer Diskriminierung oder sexueller Orientierung beeinflusst sind. Diese Intersektionalität, wie wir die Verschränkung verschiedener Diskriminierungs­kategorien heute nennen, hat das Verständnis von Frauenerfahrung in der Folge grundlegend verändert. Und sie hat für westliche Feministinnen die schwierige Erkenntnis der eigenen Beteiligung an der Diskriminierung und Ausbeutung anderer Frauen mit sich gebracht.

Auch in der feministischen Theologie wurden die soziokulturellen ­Differenzen zwischen Frauen, die von der Kolonial- und Missionsgeschichte, von ­Rassismus und neokolonialen Mechanismen mit­bedingt sind, sowie die Vielfalt von Frauen­erfahrungen neu zum Ausgangspunkt kontextueller feministischer Befreiungstheologien. Seit den 1990er Jahren ist klar: Feministische Theologie ist keine Theologie im Singular, sondern Theologie im Plural.

Rassismus des «weissen» Feminismus

Schwarze Theoretikerinnen und Schriftstellerinnen wie Angela Davis, bell hooks und Audre Lorde kritisierten Anfang der 1980er Jahre die Ignoranz weisser Feministinnen. Im Gegensatz zu weissen Amerikanerinnen sahen sich Schwarze Amerikanerinnen nämlich nicht nur mit Sexismus, sondern mit mehrfacher Unterdrückung konfrontiert: mit dem Sexismus der weissen und Schwarzen ­Männer, dem Rassismus der weissen Männer und Frauen, mit ökonomischer ­Unterdrückung und systemischer Gewalt. Die Analyse des Rassismus muss deshalb in den Augen Schwarzer Theoretikerinnen einen zentralen Stellenwert in der Gesellschaftsanalyse von Feministinnen einnehmen. Zugleich muss der strukturelle Unterschied in den Unterdrückungserfahrungen sichtbar gemacht werden, den Audre Lorde eindrücklich beschreibt: «Manche Probleme haben wir als Frauen gemeinsam, andere nicht. Ihr habt Angst, eure Kinder werden als Erwachsene dem Patriarchat angehören und gegen euch Stellung beziehen, wir haben Angst, dass unsere Kinder aus einem Auto gezerrt und auf der Strasse erschossen werden, und dass ihr euch wegdreht und nicht wissen wollt, warum sie sterben.»2

Mit der Selbstbenennung Womanist – anstelle von Feminist – soll dieser Unterschied auch sprachlich deutlich gemacht werden. Schwarze Frauen reklamieren ihr Recht, sich und ihre Erfahrungen, die sowohl von der Schwarzen Befreiungsbewegung wie auch der feministischen Bewegung übergangen worden sind, selber zu benennen. In Auseinandersetzung mit biblischen, theologischen und historischen Quellen suchen Womanist-Theologinnen nach den Stimmen, dem Handeln, den Kämpfen und dem Glauben afrikanisch-amerikanischer Frauen, um eine eigene theologische Perspektive zu entwickeln, die dem Überleben Schwarzer Frauen und der Schwarzen Gemeinschaft dient sowie dem befreienden Handeln Gottes Rechnung trägt.

Ein neokolonialer Feminismus

Postkoloniale Denker*innen analysieren die sozialen, kulturellen, ökonomischen, religiösen und psychologischen Auswirkungen des Kolonialismus auf die ehemaligen kolonisierten Bevölkerungen und auf die Kolonisator*innen. Postkolonialer Feminismus richtet den Fokus vor allem auf die soziokulturellen Differenzen zwischen Frauen und auf das Geschlechterverhältnis, die von der Kolonial­geschichte und gegenwärtigen neokolonialen Mechanismen mitbedingt sind.3 Die Kritik richtet sich einerseits gegen die westliche Homogenisierung von Frauen der «Dritten Welt» – meist auf der Basis einer postulierten Gleichheit der Unterdrückung –, andererseits gegen die Verschleierung von Mittäterschaft weis­ser Frauen im Kolonialismus. Die postkoloniale feministische Theologin Kwok ­Pui-lan fasst dies unter dem Stichwort «colonial feminism» zusammen. Das Resultat sei die westliche «Erfindung» der Dritte-Welt-Frau: Diese beruhe auf ihrem weiblichen Geschlecht, das als ­sexuell unterdrückt betrachtet wird, und auf dem Dritte-Welt-Sein, das mit Unwissen, Armut, Traditionsgebundenheit, Familienorientierung oder Opfer­status verbunden wird. Im Kontrast dazu steht die Selbstrepräsentation westlicher Frauen als gebildet und modern, als Frauen, die ihre Körper und Sexualitäten kontrollieren können und die Freiheit haben, selber ihre Entscheidungen zu treffen. Sie ­bilden in dieser Logik die Norm, an der alles gemessen wird. In engem Zusammenhang damit steht die Viktimisierung von Dritte-Welt-Frauen, dargestellt als machtlose Gruppe. Sie sind Opfer männlicher Gewalt oder der Kolonialisierung oder des arabischen Familiensystems oder der ökonomischen Entwicklung oder der ­islamischen Religion.

Theologinnen wie Musa W. Dube und Kwok Pui-lan legen seit vielen Jahren Ansätze postkolonialer feministischer Lesarten der Bibel und der Theologie vor. Sie suchen nach einer Art des ­Denkens, die «das Selbst» und «das Andere» nicht länger in ein Wir/sie-Schema einordnet. Dazu ist ein Prozess der Dekolonisierung des eigenen Denkens nötig. Die postkoloniale Kritik ist für feministische Theologien und den interkulturellen ­Dialog seither unerlässlich, um Selbst- und Fremdkonstruktionen von «Wir» und «die Anderen» und die damit einhergehenden Macht- und Unterdrückungs­mechanismen aufzudecken. Solidarität und ­Koalitionen unter Feministinnen sind unter diesen Vorzeichen möglich – ja angesichts der gegenwärtigen Formen von Neokolonialismus und Globalisierung politisch und ethisch gefordert. Wir alle sind, so Musa W. Dube, aufgerufen, «dekolonisierende Feministinnen» zu werden.4 Es gilt, die scheinbare Normalität und ­Normativität des eigenen, eurozentrischen, ­rassistischen und kolonisierenden Blicks zu verlernen, das eigene Denken zu de-kolonisieren und immer wieder neu einen Perspektivenwechsel einzuüben.

Dialog über Religionsgrenzen hinaus

Ab Mitte der 1990er Jahre entstanden interreligiöse Dialogprojekte von Frauen, auch in der Schweiz. Die langjährigen Erfahrungen in interreligiösen Frauenprojekten führten bei einigen von uns zum Wunsch, sie mit mehr Gewicht in die öffentlichen Religionsdebatten einzubringen, die einseitig von männlichen Amtsträgern der Religionsgemeinschaften dominiert werden. Ende 2008 gründete ich deshalb mit meiner muslimischen Kollegin Amira Hafner-Al Jabaji und ­meiner jüdischen Kollegin Gabrielle Girau Pieck den «Interreligiösen Think-Tank». Seither mischen wir uns mit Stellungnahmen in die aktuellen Religionsdebatten ein. Unter anderem formulierten wir eine Position zum Kopftuch- und Burkaverbot. Auch hier wiederholen sich Muster, die wir aus der Kritik von postkolonialen Denkerinnen kennen: ein «­Othering» der fremden bzw. muslimischen Frau, Selbsterhöhung und Selbst­idealisierung der westlichen ­befreiten Frau gegenüber der angeblich rückständigen und unterdrückten Muslimin. Wir haben zudem Studien verfasst zu Frauenrechten und Religion, zu Leitungs­funktionen von Frauen in den jüdischen, christlichen und muslimischen Religionsgemeinschaften, die Vision eines neuen «Wir» entworfen und jüngst eine interreligiöse Studie zur Bedeutung von Öko­logie und Schöpfung im Judentum, Christentum und Islam publiziert5 – als Beitrag zur aktuellen Klimadebatte. Interreligiöser Dialog zielt für uns nicht nur auf die Verständigung zwischen Religionen ab. Er ist ein gesellschaftliches Projekt, das ein friedliches und gutes Zusammenleben und die Sorge für unsere gemeinsame Erde befördern will. Leit­linien sind dabei eine Haltung des radikalen Respekts vor dem Gegenüber – auch und gerade in Bezug auf unterschiedliche Glaubens­überzeugungen –, das Beachten der strukturellen Asymmetrie und des Machtgefälles, die zwischen den Angehörigen der Mehrheits- und der Minderheitenreligionen bestehen, das Einüben eines Perspektivenwechsels sowie Abgeben der Definitionsmacht und Respektierung der Selbstdefinition der anderen.6

Interreligiösem Dialog aus Gendersicht sollte in Zukunft noch mehr Beachtung geschenkt werden. Denn in den aktuellen Debatten um ein interreligiöses Zusammenleben wird gerade die Geschlechterfrage häufig zur Bestimmung des Eigenen und zur Markierung der «Anderen» instrumentalisiert. Religion spielt zudem für die Mehrheit der Frauen weltweit eine wichtige Rolle in ihrem Leben; sie ist eine Ressource in ihrem Kampf für Geschlechterge­rechtigkeit und Teilhabe an der politischen, gesellschaftlichen und religiösen Gestaltungsmacht. Angesichts von religiösem Fundamentalismus, Anti-Genderismus und Bekämpfung von Frauenrechten weltweit, auch bei uns in Europa, braucht es je länger je mehr Vernetzungen, Koalitionen und den Dialog von Frauen über Kultur- und Religionsgrenzen hinaus.

Ökofeministische Theologien

Eine der wichtigsten theologischen Debatten der Gegenwart ist die ökologische Frage. Auch dazu haben feministische Theologinnen schon vor dreissig Jahren wichtige Beiträge verfasst. Sie ­wurden leider kaum rezipiert. ­Theologinnen wie Dorothee Sölle, Catharina Halkes, Sallie McFague, Catherine Keller, Ivone Gebara und andere wiesen auf ­Parallelen zwischen der Unterdrückung von Frauen und der Natur hin und entwickelten neue Bilder der Beziehung zwischen Gott und Erde, zwischen Mann und Frau, ­zwischen Mensch und Natur. Ökofeministischen Ansätzen ist – bei aller kontextuellen Unterschiedlichkeit – gemeinsam, dass sie das philosophische Fundament der christlichen Theologie in Frage stellen: den hierarchischen Dualismus von Gott und Welt, von Gott und Mensch, von Mann und Frau, von Seele und Körper, von Geist und Materie. Er wird durch eine Weltsicht ersetzt, die von der Verbundenheit und Interdependenz allen Lebens ausgeht und Gott nicht als das ganz Andere, nur Transzendente begreift, sondern als das innig in und mit allem Geschaffenen Verbundene. Das Schöpfungsverständnis ökofeministischer Theologinnen ist Ausdruck einer neuen Spiritualität, die die Erde als von Gott durchwirkten Ort achtet und zu neuen Verhaltensweisen im Alltag und zu politischem Handeln führt.7 Ökofeminismus und ökofeministische Theologien sollten auch bei uns unbedingt wieder aufgegriffen und weiter­entwickelt werden. Sie liefern wichtige Anstösse für die aktuellen Klimadebatten und ebenso für den Feminismus. Die ­Klimakrise ist nicht genderneutral, sondern wirkt sich auf die Geschlechter unterschiedlich aus; Geschlechtergerechtigkeit kann nicht hergestellt werden, ohne den Klima­wandel und dessen Folgen für die Gesellschaft zu berücksichtigen.

Feministische Theologie braucht es weiterhin

Feministische Theologie schlägt bei uns keine hohen Wellen mehr und wird von einigen bereits totgesagt. Doch viele ihrer Themen sind höchst aktuell. Ich bin deshalb überzeugt: Es braucht sie weiterhin. Denn noch steht aus, wofür wir gekämpft und was wir uns erhofft haben: eine Welt, in der keine und keiner benachteiligt wird aufgrund von Geschlecht, Religion, ­Kultur, Ethnie, Hautfarbe, Alter, sexueller Orientierung – und in der alle ein gutes Leben, ein «Leben in Fülle» haben, wie es in der Sprache der Bibel heisst.

  1. Susannah Heschel: Jüdisch-feministische ­Theologie und Antijudaismus in christlich-femi­nistischer Theologie. In: Leonore Siegele-Wenschkewitz (Hrsg.): Verdrängte Vergangenheit, die uns bedrängt. Feministische Theologie in der Verantwortung für die Geschichte. München 1988, S. 54–103; Judith Plaskow: Feminist Anti-­Judaism and the Christian God. In: Journal of
    Feminist Studies in Religion
    7 (1991) 2, S. 99–108.

  2. Audre Lorde: Du kannst nicht das Haus des Herren mit dem Handwerkszeug des Herren abreissen. In: Dagmar Schultz (Hrsg.): Macht und Sinnlichkeit. Ausgewählte Texte von Audre Lorde und Adrienne Rich. Berlin 1991, S. 206.

  3. Vgl. Heike Walz: «Die Dritte-Welt-Frau»? Geschlechterdifferenz im Scheinwerfer der Kritik postkolonialer Denkerinnen. In: Heike Walz / Christine Lienemann-Perrin / Doris Strahm (Hrsg.): Als hätten sie uns neu erfunden. Beobachtungen zu Fremdheit und Geschlecht. Luzern 2003, S. 41–54.

  4. Musa W. Dube: Postcoloniality, Feminist Spaces, and Religion. In: Laura Donaldson / Kwok Pui Lan (Hrsg.): Postcolonialism, Feminism, and Religious Discourse. New York 2002, S. 100–122.

  5. Interreligiöser Think-Tank: Unsere Erde – Gottes Erde? Eine interreligiöse Betrachtung zu Schöpfung und Ökologie. Basel 2019, als PDF abrufbar unter: www.interrelthinktank.ch.

  6. Vgl. dazu Interreligiöser Think-Tank: Leitfaden für den interreligiösen Dialog. Basel 2015.

  7. Dazu ausführlicher: Doris Strahm: Ökologie und Feminismus – eine zukunftsweisende Verbindung. In: Neue Wege, Heft 11/2019, S. 5–9.

Stark gekürzte Version eines Vortrags, der aus Anlass der Verleihung der Ehrendoktor­innenwürde durch die Theologische Fakultät der Universität Bern im Dezember 2020 verfasst wurde, aber COVID-19-bedingt nicht gehalten werden konnte.

  • Doris Strahm,

    *1953, ist feministische Theologin und Publizistin, Mitgründerin des Inter­religiösen Think-Tanks und im Vorstand der IG Feministische Theologinnen.

    doris-strahm.ch