Wenn diese Kolumne gedruckt vor Ihnen liegt, ist der Spuk vermutlich längst vorbei. Die Schlagzeilen sind verschwunden, die Berichte und Gegenberichte wieder vergessen. Man könnte fast sagen: Es ist Gras über die Sache gewachsen. Eigentlich aber ist das Gegenteil der Fall: Das Gras in Lützerath ist vernichtet. Haushohe Baggerschaufeln haben ein monströses Loch in die Erde gefressen, haben eine Schlucht gerissen, wo kurz zuvor noch Tausende protestierten. Schon im Januar, während ich diese Kolumne schreibe, lässt sich prognostizieren, wer diesen Kampf an der Abrisskante gewinnen wird: der Konzern RWE und seine Profitinteressen, die bürgerlichen Medien und jene Stimmen, die aus Klimaaktivist*innen gerne gewaltbereite Terrorist*innen und Verschwörungstheoretiker*innen machen wollen. Die Baggerschaufeln waren stärker. Die Verlierer*innen sind einmal mehr die Tiere und Pflanzen dieses Fleckchens Erde und die solidarischen und kreativen Strukturen, die in den letzten Wochen und Monaten dort gewachsen sind.
Worum wird denn im Januar gerungen, wenn schon klar ist, was der März bringen wird? Wozu kämpfen? Aber: Ist es wirklich so einfach mit den Verlierer*innen und den Gewinner*innen?
Lützerath ist eigentlich ziemlich unspektakulär: in einer Gegend gelegen, wo der Braunkohleabbau historisch Tradition hat und bereits den Grundschulkindern als «notwendiger Kompromiss» vermittelt wurde, landschaftlich nichts Besonderes, auch kulturgeschichtlich nicht nennenswert. Und gerade Lützerath, am Rand des Kohletagebaus Garzweiler, wird nun zum Symbol.
An Lützerath zeigt sich in eindrücklichen Bildern, wie die Machtverhältnisse (noch) gelagert sind: Die institutionelle Politik versteckt sich hinter dem Narrativ, durch die in Lützerath abgebaute Kohle könne der Kohleausstieg um acht Jahre vorgezogen werden. Die Polizei fährt mit Hundertschaften aus der ganzen Bundesrepublik auf. Und der Konzern RWE? Der macht natürlich weiterhin gute Gewinne mit der Kohle und gehört aktuell zu den wenigen Gewinnern an der Börse – auch wenn der Konzern sich eigentlich gerne von der Kohle trennen würde. Die Bilder dieser Macht gehen um die Welt. Und sie bleiben in Erinnerung. Und bei mir lösen sie für einmal nicht Ohnmacht aus, sondern sie mobilisieren, ermutigen, provozieren mich. Wecken mein Unrechtsempfinden.
Ich beobachte Lützerath nur aus der Ferne. Klicke mich durch zahlreiche Videos, Bilder, Storys in den sozialen Medien. Mache selber ein kleines Protestfoto mit gelbem Kreuz als Zeichen für eine «besetzte» Zone, Hashtag «Lützibleibt». Und ich staune: Ein Video vom haushohen Bagger, der die Landschaft frisst, bringt mich zum Weinen. Am liebsten würde ich sofort losfahren, in Richtung Lützerath. Denn Lützerath bringt mich in Bewegung. Warum?
Besonders auf Social Media zeigt sich, dass die Klimagerechtigkeitsbewegung eine starke und internationale Bewegung ist: Solidaritätsvideos aus der ganzen Welt tragen den Hashtag «Lützibleibt», 35’000 Menschen reisen nach Lützerath, um zu demonstrieren. Die Demonstrierenden sind vielfältig in Alter, Herkunft, politischer Position, religiöser Überzeugung: Kirchliche Akteur*innen melden sich zu Wort und die Gruppe «Die Kirche im Dorf lassen» feiert an der Eibenkapelle christliche Gottesdienste, die muslimische Aktivistin Kübra Gümüşay ist vor Ort, Gruppen wie «Omas for Future» werden sichtbarer und lauter. Intersektionale Strukturen sind gewachsen: Safer Spaces für queere Menschen sind so selbstverständlich wie das Nachdenken über die Zusammenhänge von Geschlechterungerechtigkeit und Klimanotstand. In Lützerath haben Menschen gelebt und eine Vision zumindest temporär zur gelebten Erfahrung gemacht. Sie haben gewonnen.
Natürlich gibt es Verlierer*innen in dieser Geschichte. Verloren haben die Kirchen, wenn sie weiterhin nur zögerlich herumtappen um eine Klimapolitik, die bei der Frage ums Heizen von Kirchenräumen und den Fairtrade-Kaffee im Chilekafi schon an ihre Grenzen kommt.
Verloren haben wir alle, wenn ein völkerrechtlich vereinbartes Klimaziel so wenig Gültigkeit hat, dass ein Konzern seine Interessen so leicht durchsetzen kann.
Verloren haben wir alle, wenn die gewaltfreie Illegalität einer Besetzungsaktion moralisch stärker wiegt als die fossile Gewalt und die Gefährdung des guten Lebens aller und die Zukunft der Generationen. Wie viele Überschwemmungen in Pakistan – oder etwas näher: im Ahrtal in Deutschland – braucht es noch? Wie viele Wälder müssen brennen, wie viele Moore austrocknen, Gletscher abschmelzen, Berge ins Tal stürzen, damit auch die Politik, die Nachbarin, der Grossvater, der neue Bundesrat, die Grünen in Nordrhein-Westfalen begreifen?