Was heisst «Nie wieder!»? Neue Wege-Gespräch mit Shelley Berlowitz, Michel Bollag und Noëmi Knoch

Matthias Hui, 8. Mai 2023
Neue Wege 5.23

Gibt es in der Schweiz wieder mehr Antisemitismus? Oder ist dieses Land im Vergleich eine Insel der Glückseligen? Zwei Jüdinnen und ein Jude legen unterschiedliche Erfahrungen und gemeinsame Perspektiven im Kampf gegen Antisemitismus offen. Im Ge­­spräch geht es nicht nur um die Schweiz, sondern immer wieder auch um Israel.

Wie virulent ist heute Antisemitismus in der Schweiz? Wie erleben und wie analysieren Sie die Lage? Wie ist die Lage?

Noëmi Knoch Um mit Zahlen zu starten: Die jüngsten Antisemitismusberichte des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds SIG und der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus GRA zeigen eine Zunahme an antisemitischen Vorfällen in der Schweiz. Ich persönlich habe im Gegensatz zu anderen Menschen in meinem Umfeld zum Glück kaum antisemitische Erfahrungen gemacht. Antisemitische Verschwörungserzählungen oder gewisse Vorstellungen über diese Juden existieren jedoch. Ein latenter Antisemitismus ist in unserer Gesellschaft vorhanden, und die Hemmschwelle, antisemitische Vorstellungen auch zu äussern, ist in den sozialen Medien, aber auch im konkreten Alltag gesunken.

Michel Bollag Ich nehme in den letzten Jahren wahr, dass Antisemitismus aus sehr verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen kommen kann. Rechtsgerichtete, rechtsextreme Personen und Gruppierungen sind offen antisemitisch. Aber es gibt auch latenten Antisemitismus, auch Antisemitismus von links und Antisemitismus in gewissen islamischen Kreisen. Das gibt vielen Jüdinnen und Juden das Gefühl einer Zunahme von Antisemitismus und führt bei vielen zu einem Unwohlsein.

Shelley Berlowitz Die Anonymität in den sogenannten «sozialen» Medien ermöglicht es, Dinge zu sagen, die früher unter dem Deckel blieben. Das gilt auch für Frauenfeindlichkeit, für Homo- und Transfeindlichkeit oder für rassistische Beschimpfungen. Das macht auch mir Angst. Gleichzeitig finde ich es wichtig, dass wir genau hinschauen, wenn wir von Antisemitismus reden. Es gibt offenen ­Antisemitismus, meist von rechts. Und es gibt sicher Diskriminierung von Menschen, die als Juden und Jüdinnen erkennbar sind, zum Beispiel bei der Wohnungssuche. Mir gegenüber hat, mit ganz wenigen Ausnahmen, noch kaum jemand ein feindliches, antisemitisches Statement gemacht. Von antijüdischen Aussagen höre ich also nur indirekt. Vorurteile und Klischees existieren und sind, wie beim Rassismus, in der europäischen Kultur sehr stark verwurzelt. Es gibt allerdings keine offizielle Diskriminierung von Jüdinnen und Juden der Schweiz, und manchmal geht es bei Äusserungen, die als antisemitisch bezeichnet oder empfunden werden, um die israelische Politik und nicht um Juden.

Der Antisemitismusbericht verzeichnet eine Zunahme von Vorfällen im digitalen Bereich. Es geht um Verschwörungs- und Sündenbockideologien auch im Zusammenhang mit Corona und dem Ukrainekrieg. Auf der Ebene von physischen oder verbalen Angriffen gibt es die von Ihnen bereits erwähnte leichte Zunahme, wenn auch auf sehr niedrigem Niveau. Trotzdem wird von vielen Menschen das Gefühl geäussert und von Organisationen konstatiert, Antisemitismus nehme zu. Ist das nicht ein wenig diffus?

MB Die Schweiz ist auf eine gewisse Art eine Insel der Glückseligen, wenn man die Situation mit Frankreich oder Deutschland vergleicht. Bei aller Kritik: Auch die Integrationspolitik ist hier besser gelungen. Wir haben ein niedriges Niveau an Antisemitismus. Aber die ­Schweizer Jüdinnen und Juden beziehen eben auch das, was sie aus dem Ausland hören, auf sich und befürchten, dass es auch in diese Richtung gehen könnte. Wir als «Second Generation» haben die Traumata unserer Eltern aus der Zeit der Shoa quasi mit der Muttermilch eingesaugt, die Angst vor Antisemitismus wird uns codiert weitergegeben. Viele von uns, das nehme ich in meinen Kreisen wahr, leben permanent in der Haltung, sich stets umschauen zu müssen, ob es irgendwo Antisemitismus gibt und ob wir eventuell einmal von hier wegmüssen. Gleichzeitig wächst das Gefühl, dass es keinen Ort mehr gibt, wo man hingehen kann. Gerade in diesen Tagen und Wochen verändert sich etwas bezüglich der Identität und Selbstdefinition der Juden in der Diaspora in dramatischer Weise.

Sie sprechen die politische Situation in Israel an?

NK Bevor wir auf Israel zu sprechen ­kommen, möchte ich an die vorherige Diskussion an­knüpfen: Du, Shelley, hast kaum Diskriminierung erlebt. In meinem Umfeld haben Menschen während der Schulzeit zum Teil heftige Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht, auch Freund*innen, die nicht halachisch, also gemäss Religionsgesetz, jüdisch sind, sich nicht als jüdisch identifizieren, aber als jüdisch gelesen wurden: Ausgrenzungen, Schulschlägereien, das Benutzen von klassischen antisemitischen Stereotypen wie «Juden sind reich». Das führt dazu, dass sich Freund*innen überlegen, welchen Namen sie ihrem Kind geben: Sie ­würden gerne durch den Namen eine jüdische Identität weitergeben, aber trotzdem damit in der Mehrheits- oder Dominanzgesellschaft nicht zu stark auffallen, um das Kind nicht zu gefährden. Wenn solche Überlegungen gemacht werden, dann ist Antisemitismus nicht nichtexistent. Ein Punkt zu den Zahlen: Vorfälle, die nicht ­gemeldet werden, sind nicht nicht passiert.

Ich war 2017 in Paris, als die jüdische Französin Sarah Halimi aus dem Fenster gestossen und ermordet wurde und es weitere antisemitische Vorfälle gab. Damals war das Thema Antisemitismus in den französischen jüdischen Gemeinden sehr stark präsent: die Angst, auf der Strasse als Jüdinnen und Juden erkenntlich herumzugehen, die Befürchtung, dass die Medienberichterstattung über antisemitische Vorfälle aufgrund der Präsidentschaftswahlen kleingehalten werde. Ich erinnere mich auch an das Gefühl der Angst und Beklemmung, als ich 2019 in Bern in der Synagoge stand und vom Attentat auf die Synagoge in Halle vernahm, auch wenn so etwas zum Glück hier nie passiert ist.

SB Ich möchte richtigstellen: Ich habe von struktureller, staatlicher Diskriminierung gesprochen. Ich höre, dass es für junge Menschen heute anders ist als für uns damals in der Schule, dass heute Kinder und Jugendliche belästigt werden können. In den 1960er Jahren war ich die einzige Jüdin in der Schule. Jüdisch zu sein war damals interessant und positiv. Heute ist das nicht mehr so.

Heutzutage wird der Begriff Antisemitismus – gerade in Deutschland, so verständlich das angesichts der Geschichte sein mag – allerdings inflationär gebraucht. Hier sehe ich die allergrösste Gefahr für eine Bekämpfung des tatsächlichen Antisemitismus. Wenn Kritik am jüdischen Staat, der sich ja auch als jüdischer Staat versteht, mit Verdacht auf Anti­semitismus belegt wird, können wir nichts mehr unterscheiden und den tatsächlichen Antisemitismus nicht bekämpfen.

MB Ich möchte das Thema Israel noch einen Moment zurückbehalten. Was ihr angesprochen habt, hat mich auf meine eigenen Erfahrungen zurückgeworfen. Noch vor zehn ­Jahren war ich mit einer Kippa selbstverständlich in jeglichem Tram in Zürich unterwegs. Seit einigen Jahren traue ich mich nicht mehr auf gewisse Bus- und Tramlinien. ­Dahinter steht natürlich auch ein eigenes, dummes Vorurteil, auf welchen Linien, in welchen Vierteln der Antisemitismus eher mitfährt. Allerdings kenne ich das doch schon aus meiner früheren Biografie. Ich besuchte in den 1968er ­Jahren das Collège in Genf und schloss es 1971 ab. Ich war sehr zionistisch orientiert und erfuhr in der Schule von linken, propalästinensischen Kreisen Kritik, die ich insofern als antisemitisch erlebte, weil sie mich mit meiner Kippa karikierten. Die Kritik war an jüdische Symbole gekoppelt. Das war kurz nach dem Sechs­tagekrieg. Vieles an der Wahrnehmung der ­Linken, in welche Richtung die Entwicklung im Nahen Osten gehen würde, stimmte, muss ich im Nachhinein sagen. Und dennoch: Antisemitismus und Kritik an Israel war und ist sehr schwer voneinander zu trennen. Natürlich gebe ich dir, Shelley, recht: Nicht jede Israelkritik ist antisemitisch. Ich kritisiere diesen Staat auch. Aber manchmal habe ich das Gefühl: Egal, wo der Jude steht und was er tut, ob er quasi eher ein kapitalistischer Jude ist oder ein kommunistischer, ein linksorientierter Jude, oder ob er auf dem Standpunkt steht, die Juden sollten einen souveränen Staat haben – wenn ein Jude diese oder jene Haltung hat, ist immer etwas Schlechtes daran.

SB Wo sich deine mit meinen Erfahrungen decken: Ich werde schnell misstrauisch, ob eine Argumentation nicht in Richtung von Antisemitismus geht. Ich habe aber in einem längeren persönlichen Prozess eine ­Entwicklung gemacht, die mich immer fragen lässt: Wo sehe ich Geister, die gar nicht da sind? Wo vermute ich Antisemitismus und Judenfeindlichkeit, wo sie nicht existieren oder wo es darum ginge, herauszufinden, was hinter einer Äusserung steht? Dieses Misstrauen hat oft einen Grund, aber ich glaube, Juden und Jüdinnen müssten bereiter sein, zu reflektieren: Was ist meine Angst? Was ist mein Vorurteil? Und wann geht es um eine Äusserung, die wirklich zurückzuweisen ist?

NK Viele Jüdinnen und Juden sind mit der Verfolgungsgeschichte aufgewachsen. Mir sind auch Geschichten präsent, die meine Gross­eltern erzählt haben und die in der Familie weiter­tradiert werden. Neben dieser Betroffenen­perspektive steht das, was in den Schulen über Jüdinnen und Juden gelehrt wird; das ist vielfach der Zweite Weltkrieg, und dann Israel/Palästina und der Nahostkonflikt. Was fehlt: die Begegnung mit Jüdinnen und Juden als Mitmenschen in der Schweizer Gesellschaft …

SB … oder einfach als Menschen …

NK … genau, vielen Dank! Ich will ja uns nicht so benennen, wie dies der Duden vorgeschlagen hat. Weil die Rede von «Jüdinnen und Juden» als diskriminierend empfunden werden könnte, empfahl dieser, eher von «Menschen jüdischen Glaubens» oder eben «jüdischen Mitbürgern» zu sprechen … Ich will uns Jüdinnen und Juden beim Namen nennen. Zurück zu vorher: Die Vermischung von Antisemitismus und Israelkritik ist ein Problem. Es ist auch in meinen Augen legitim zu sagen, dass ich mit der Politik Israels nicht einverstanden bin und diese zu kritisieren. Es wird dort schwierig, wo Israel mit anderen Massstäben gemessen wird als andere Länder, und vor allem dort, wo antisemitische Verschwörungserzählungen und Stereotype in die Diskussion eingeführt werden.

Jetzt nehmen wir die Frage auf: Wie gehen Sie im Kontext von Antisemitismus mit der Kritik am Staat Israel um, Shelley Berlowitz?

SB Jegliche Kritik, die ich und meine Verbündeten in der politischen Arbeit bisher an der Politik Israels geäussert haben, wurde von einzelnen Kreisen als nicht legitim angesehen. Ich möchte ehrlich sein: Wenn wir in der Schweiz so behandelt würden wie Palästinenser*innen in Israel, geschweige denn in der Westbank und in Gaza, würden wir – berechtigterweise! – schreien und nicht aufhören zu schreien. Und würden Begriffe wie «Apartheid» gebrauchen.

Antisemitismus führte historisch zur Diskriminierung, Unterdrückung und Vernichtung von Jüdinnen und Juden, die sich nicht wehren konnten. Aus diesem Grund sagte die zionistische Bewegung: Wir wollen nicht mehr die Schwachen sein, die sich nicht wehren können, wir wollen einen starken Staat. Heute führt dieser starke Staat «Antisemitismus» ins Feld, wenn er kritisiert wird. Die Kritik an Besatzung, an Menschenrechtsverletzungen, an diskriminierenden Gesetzen und darin gründende Aufrufe zum Boykott werden als antisemitisch gebrandmarkt. Dies erschwert es uns, über wirklichen Antisemitismus zu sprechen, weil sich Ebenen vermischen. Deshalb sollten wir – um mit Ben Gurion zu sprechen – Israel kritisieren, wie wenn es keinen Antisemitismus gäbe, und den Antisemitismus bekämpfen, wie wenn es kein Israel gäbe. Dies tun jüdische Institutionen leider nicht.

MB Deine Haltung entspricht dem jüdischen Ethos der Gerechtigkeit. Es beruht auf der Bibel, auf den Propheten und auf der Tora. In Palästina gab es von Anfang an einen Gegensatz, heute ist er ganz deutlich: Die einen betonen im Jüdischen à tout prix die Souveränität. Die anderen wollen in ihrem Judentum demokratische Werte vertreten. Und eigentlich tragen alle Mischformen von jüdischen Identitäten in sich. Was ich betonen will: Israelkritik: ja, selbstverständlich, sie wird immer stärker, sie wird auch bei mir immer stärker. Und trotzdem verlässt mich das Gefühl nicht, um mit einem deutsch-jüdischen Komiker zu sprechen: Ich darf das, ich bin jüdisch. Das Misstrauen bleibt, dass im Zug von Israelkritik anderer der Staat Israel als eine Form jüdischer Existenz delegitimiert wird. Wenn das Existenzrecht Israels infrage gestellt wird, und das geschieht in seltenen Fällen, wird von Juden Kritik als antisemitisch wahrgenommen. Wenn so über Israel geurteilt wird, dürfte es auch kein China, kein Russland mehr geben; das Unrecht, das dort ausgeübt wird, ist dasselbe Unrecht, beziehungsweise aufgrund der Macht dieser Staaten ein noch grösseres.

Wir sind in unserem Gespräch sehr schnell in die Thematik rund um den Staat Israel hinein­gerutscht. Das hängt auch mit dem Zeitpunkt dieses Gesprächs zusammen. Ich habe Kinder in Israel, in den letzten Tagen und Wochen hänge ich an den israelischen Medien, die Situation bewegt mich enorm. In der aktuellen Debatte um die Justizreform geht es um die grundsätzliche Frage, welchen Charakter der Staat Israel haben soll: Wollen wir einen liberalen, demokratischen Rechtsstaat, dessen jüdischer Charakter in der Unabhängigkeitserklärung von 1948 auf den universalistischen Idealen der Bibel basiert? Oder wollen wir einen fundamentalistischen, ethnozentrischen Staat, der moderne, aufgeklärte Werte ablehnt? Diese Frage zerreisst die israelische Gesellschaft, aber sie spaltet auch die Jüdinnen und Juden in der Diaspora.

NK Du, Shelley, hast die spannende These formuliert, Antisemitismus solle bekämpft ­werden, wie wenn es keinen Nahostkonflikt gäbe. Wenn ich aber an unser Projekt ­«Respect – Muslim- und Judenfeindlichkeit gemeinsam überwinden» des National Coalition Building Institutes NCBI Schweiz denke oder an die Praxis im «Haus der Religionen – Dialog der Kulturen» in Bern, wo ich derzeit tätig bin, kann der Nahostkonflikt nicht ausgeblendet werden. Wir kommen nicht darum herum, ihn aufzunehmen. Im Gazakrieg im Sommer 2014 zeigte sich eben doch, wie unterschiedliche Meinungen und Perspektiven in jüdischen und muslimischen Communitys vorhanden waren. Damals war es sehr wichtig, die Konflikte aufzugreifen und zu lernen, einander besser zuzuhören und besser zu verstehen.

SB Selbstverständlich hast du recht: In der Bekämpfung von Antisemitismus kann man den Nahostkonflikt nicht ausblenden. Das Problem liegt darin, dass sich dieser Staat als Repräsentanz der Juden und Jüdinnen weltweit geriert und auch so wahrgenommen wird. Wir müssen immer wieder aufzeigen, dass Juden und Jüdinnen und der Staat Israel nicht eins sind. Auch ich bin massiv besorgt über die Entwicklung in Israel. Ich glaube nur nicht, dass sie mit der gegenwärtigen rechtsextremen Regierung angefangen hat. Sondern mit der Besetzung der Westbank und von Gaza 1967, eigentlich schon mit der Gründung des Staates. 1948 gab es noch historische Gründe dafür, auszublenden, dass dieser Staat seine Souveränität und seine Existenz auf Kosten anderer begründete. Zionismus vor 1948 war der Wunsch nach Souveränität: endlich sicher und nicht Spielball der Welt zu sein. Die Leute, die heute Zionismus im Munde führen, repräsentieren etwas völlig anderes: Sie stehen für eine Machtpolitik Israels gegenüber den Palästinenser*innen. Sie delegitimieren damit selber das Existenzrecht Israels. Für mich ist dieses Recht nicht hinterfragbar. Ein rassistischer Staat aber, der eine Bevölkerungsgruppe über eine andere stellt, ist weder legitim noch ein sicherer Hafen.

Als ich jung war, habe ich den David­stern mit Stolz getragen. Der Davidstern war ein Symbol für Unabhängigkeit und Selbst­bewusstsein. Heute ist der Davidstern für ­Millionen von Menschen, die darunter ­leiden, ein Zeichen für Unterdrückung. Das ist ein Problem, weil der Davidstern ja ein ­religiöses Symbol ist. Ich habe grosse Angst, dass sich das, weil man die Entwicklung in Israel und Antisemitismus schwer auseinanderhalten kann, gegen Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt richten wird.

Wenn die Situation in Israel mit der Frage von Antisemitismus so verzahnt ist, wie Sie das beschreiben: Ist es dann nicht umso wichtiger, dass nicht Jüdinnen und Juden dafür zuständig sind, den Antisemitismus hier in Europa zu bekämpfen? Geht es nicht darum, überall gemeinsam Diskriminierung und Unterdrückung zu bekämpfen? Auch bezüglich der israelischen Politik?

MB Für mich geht es um die Frage der jüdischen Identität überhaupt. Die Shoa sowie die Gründung und die Existenz des Staates Israel haben für zwei, drei Generationen jüdische Identität ausgemacht. Das alles konnte um ganz verschiedene Auffassungen von Judentum herum eine Klammer bilden. Die Ultraorthodoxen hat man belächelt, weil sie keinen Staat wollten. Sie haben aber eine ­Philosophie, die man studieren und besser verstehen sollte. Sie haben andere Antworten auf die Angst vor der Moderne und der Säkularisierung und auf die Frage, wer wir sind und wie wir als Judentum weiterbestehen können. Die Antwort der Mehrheit hat sich lange Zeit im Stolz auf den Staat manifestiert: Wir haben ein Land zum Blühen gebracht, wir sind eine Start-up-Nation und so weiter. Diese Haltung haben wir auch in der Diaspora in den Jugendbünden sehr stark vermittelt bekommen. Es wird heute immer schwieriger, der Jugend Judentum nahezubringen. Das Element Religion ist im Moment hier an einem kleinen Ort. Wir hatten und haben sehr stark ein ­Element «Nation», «Volk», sogar «Ethnie» – auch ein Bestandteil von Judentum. Wir haben auf dieses Partikularistische gepocht. Die universalistischen Ideale waren im Hintergrund. Junge Menschen, die hier säkular oder moderat religiös aufwachsen, möchten sich nicht mehr mit einer Entität identifizieren, die andere unterdrückt und demokratische Prinzipien nicht respektiert. Das verursacht eine grosse Krise. Von innen kommen enorme Herausforderungen auf uns zu. Wir müssen das Universalistische am Judentum wieder viel stärker in den Vordergrund stellen, es sind alle Menschen im Ebenbild Gottes erschaffen, Herr-liberg nomol!

Das Judentum ist immer das Andere, etwas Suchendes, Approximatives und keine in sich geschlossene Identität. Das Verletzliche und Brüchige wird auch im biblischen Mythos sichtbar. Der Stammvater der Juden hat eine gebrochene Hüfte, er geht hinkend, er kommt immer von anderswoher. Diese Ambivalenz überfordert uns selbst – und die Antisemiten erst recht. Uns überfordert der Sprung von der absoluten Machtlosigkeit hin zur Macht. Denn gleichzeitig haben wir immer noch die DNA von Verfolgten.

Was heisst das im Blick auf Kritik an der Politik Israels?

SB Es geht um Differenzierung. Was ist das für ein Staat? Wie ist er entstanden? Warum ist er entstanden? Welche Verbrechen hat er bereits bei seiner Entstehung begangen? Wie war die Reaktion darauf, welche Verbrechen wurden da begangen? Wir müssen das offen, ehrlich und differenziert anschauen. Die Tatsache, dass der Staat Israel den Antisemitismusvorwurf missbraucht, um gegen missliebige Feinde vorzugehen, verhindert, dass wir hier differenziert über Antisemitismus sprechen.

NK Max Czollek zeigt in seinem Buch Desintegriert euch!, wie Jüdinnen und Juden in Deutschland vielfach mit drei Begriffen assoziiert oder konfrontiert werden: mit Israel, mit der Shoa und mit Antisemitismus. Wie können wir ähnliche Wahrnehmungen auch hier in der Schweiz erweitern? Wie können wir unterschiedliche Perspektiven kennenlernen, Vorurteile und Missverständnisse abbauen? Für mich braucht es dafür den Austausch zwischen verschiedenen Personengruppen wie bei unserem Projekt «Respect» oder weiteren Initiativen der sogenannten postmigrantischen Schweiz. Verbündete und Allianzen sind wichtig, beispielsweise indem wir als muslimische und jüdische Minderheiten Erfahrungen austauschen. 2021 setzten wir uns gemeinsam gegen die «Burkainitiative» ein. Wir müssen über Vorurteile in beiden in sich selber sehr vielfältigen Gruppen sprechen können. Beim Abbau von Antisemitismus müssen auch Mehrfachdiskriminierungen, Intersektionalität, die Verwobenheit verschiedener Diskriminierungen, Thema sein. Ich wurde kürzlich gefragt, ob ich mich als PoC, als Person of Color, identifiziere. Ich fand die Frage spannend und begann mir zu überlegen, was unterschiedliche Definitionen von PoC sind. Wo und wie werde ich als «anders» gelesen? Wo werde ich als Teil der Schweizer Mehrheits- und Dominanzgesellschaft gelesen? Immer wieder werden Vorannahmen an mich herangetragen. Wer bin ich eigentlich genau?

Sind die Fragen, die sich Ihnen stellen, also letztlich universalistische Fragen? Wer bin ich? Mit welchen Menschen muss ich mich zusammentun, um eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen? Welche Strukturen sind übergreifend diskriminierend – die patri­archalen, die kolonialistischen Strukturen, die womöglich auch mit Israel zu tun haben?

SB Ich finde es wichtig, jüdische Geschichte und speziell die Geschichte der Shoa zusammen mit der Geschichte des Kolonialismus zu denken und zu erforschen. Das heisst nicht, dass man die Geschichten einander gleichstellt. Aber es heisst, differenziert zu fragen: Was ist im Kern der verschiedenen Unterdrückungsgeschichten das Gemeinsame, und was ist unterschiedlich? Der postkoloniale Historiker Achille Mbembe hat dies getan und erntete darauf den Vorwurf, antisemitisch zu sein und die Einzigartigkeit der Shoa infrage zu stellen. Aber es geht in dieser Frage nicht um Verharmlosung und Relativierung, sondern um Offenheit. Der Einzigartigkeitsstatus, welcher der Shoa und damit auch den Juden und Jüdinnen und der jüdischen Frage verliehen wird, ist nicht hilfreich. Wir sollten uns den gemeinsamen, universalen Fragen stellen – vor allem in der Erziehung. Dann können wir auch Antisemitismus klarer identifizieren.

NK Meine Frage ist: Was heisst «Nie wieder!»? Was gehört zu unserer Erinnerungskultur? Heisst «Nie wieder», es soll nie wieder zu so extremen Formen von Antisemitismus und Verfolgungsgeschichte gegenüber Jüdinnen und Juden kommen? Das «Nie wieder!» verstehe ich als Appell zum gemeinsamen Einsatz für ein besseres Miteinander und Füreinander, gegen Rassismus, gegen Diskriminierung und für mehr Chancengleichheit und Chancen­gerechtigkeit in unserer Gesellschaft.●

Noëmi Knoch, *1994, ist Programmleiterin ad interim im «Haus der Religionen – Dialog der Kulturen» in Bern, MA-Studentin und Projektmitarbeiterin bei NCBI Schweiz.

Shelley Berlowitz, *1956, lebt in Zürich, ist Autorin von Die Erfahrung der Anderen. Konfliktstoff im ­palästinensisch-israelischen Dialog (Konstanz 2012) und Mitglied der Jüdischen Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina.

Michel Bollag, *1952, studierte an einer Talmudschule in Jerusalem sowie Pädagogik, Psychologie und ­Philosophie in Zürich. Er war Leiter des Religionsunterrichts an der Israelitischen Cultusgemeinde ­Zürich sowie Mitbegründer und bis 2017 Fachreferent für das Judentum des Zürcher Lehrhauses (heute ZIID).

  • Matthias Hui,

    *1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation humanrights.ch.