Weiber­rat

Geneva Moser, 11. November 2022

Sagt Ihnen der Name Wiborada etwas? Eigentlich steht die frühmittelalterliche Heilige, die sich 916 als Inklusin am Ort der heutigen Kirche St. Mangen in St. Gallen einmauern liess und zehn Jahre später bei einem Ungarneinfall ermordet wurde, dem berühmten Bruder Klaus von Flüe in nichts nach. Ausser in der Bekanntheit.

Die Geschichte der Wiborada ist beides: einzigartige weibliche Spiritualitätsgeschichte und selbstverständliches Teilstück einer bis heute ungebrochenen Traditionslinie monastischer Lebensform.

Wiborada, deren Leben durch zwei Viten, durch lange liturgische Verehrung und durch Einträge in den Annalen des ­Klosters St. Gallen relativ gut belegt ist, weist viele Parallelen mit den Protagonist*innen des frühen Mönchtums der Antike auf: Da ist die vornehme Herkunft und die gute Erziehung. Dann ist da die starke Prägung durch Schicksalsschläge – in Wiboradas Fall der frühe Tod der Schwester, der Tod des Vaters und die Krankheit der Mutter. Dann ist da Wiboradas Bruder Hitto, der auf ihren Rat hin als Mönch und Priester selber einen geistlichen Weg einschlägt und sie in den Psalmen unterrichtet. Geschwister, die sich gegenseitig fördern und geistlich begleiten, sind ein bekanntes Phänomen des frühen Mönchtums: Basilius der Grosse, Gregor von ­Nyssa und Makrina die Jüngere sind ein prominentes Trio, bei dem ­Makrina den Brüdern ein Leben lang geistliche Ratgeberin und Lehrerin blieb. Auch von ­Pachomius, ­Augustinus und Ambrosius sind einflussreiche Schwestern überliefert – die im Gegensatz zu ihren Kirchenväter-Brüdern heute allerdings nicht als «Kirchenmütter» rezipiert werden … Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen ­Wiborada und anderen monastisch Lebenden ist ein plötzliches Bekehrungserlebnis. Wie ­Evagrius Ponticus, nach einer Predigt tief getroffen, hingeht und seinen ganzen Besitz verkauft und Mönch wird, so erfährt auch Wiborada auf dem Weg zum Sonntagsgottesdienst eine existenzielle Umkehr, weg von Pomp und Luxus, hin zur kompromisslosen Askese: Wenn das Irdische keinen Bestand hat, dann lieber auf andere Werte setzen! Was Wiborada nach diesem Damaskus-Erlebnis tat, ist ebenfalls «typisch»: Sie unternimmt eine Wallfahrt. Wiboradas antike Vorbilder unternahmen Wallfahrten nach Syrien, Jerusalem, ­Hippo ­Regius im heutigen Algerien und in die ägyptische Wüste, «studierten» monastische Lebens­formen, theologische Erkenntnisse und religiöse Praxen und trugen diese zurück in ihre Heimat­orte. Monastisches Leben fand so ­weite Verbreitung.

Bei Wiborada führte die Wallfahrt nach Rom zum Entschluss, als Einsiedlerin in einer geschlossenen Zelle leben zu wollen. Sich einmauern lassen? Das ist ganz schön verrückt. Etwa so verrückt wie die einsiedlerischen Anachoret*innen des 3. Jahrhunderts, die in die unwirtliche ägyptische Wüste zogen, um sich in der Einsamkeit für Gottes Kommen bereitzuhalten. Und so verrückt, wie die Koinobit*innen, die wenig später in Ägypten und Palästina klösterliches Gemeinschaftsleben – mit teilweise mehreren Tausend Mönchen und Nonnen! – entwickelten, um nach dem Vorbild der ersten christlichen Gemeinden «ein Herz und eine Seele» zu sein.

Bei Wiborada lässt sich in den Viten lesen, dass sie sich vier Jahre auf das Leben als Inklusin vorbereitete. Schon da war sie eine beliebte Ratgeberin und geistliche Mutter. An Pfingsten 916 beginnt Wiborada ihr Leben als Inklusin. Ihre Zelle, angebaut an die Kirche, mass etwa zwei mal fünf Meter und hatte zwei Fenster: ­eines mit Blick zur Kirche und eines mit Blick nach draussen. Das zweite Fenster diente nicht nur dazu, mit dem Nötigsten versorgt zu werden, sondern auch dem Kontakt mit der Aussenwelt: Wiborada wurde zur wichtigen Beraterin und Visionärin: Wiberat – die Frau, die Rat weiss. Bischöfe, Fürsten und Äbte suchten sie auf, wie auch Notleidende und Arme aus der Umgebung. Sie war Seelsorgerin, Politikerin und Sozialarbeiterin gleichermassen. Und sie ist auch eine frühe Zeugin weiblichen sakramentalen Handelns: Sie weihte Brot und gab dieses bei Beratungsgesprächen an die Ratsuchenden ab. Ihre Zelle war mit einem Altar ausgestattet, und in ihrer Vita ist ausdrücklich von der «Gewohnheit, das Opfer darzubringen» die Rede.

Ihren gewaltsamen Tod 926 durch den Einmarsch brandschatzender Ungarn sah sie im Traum voraus. So konnte sie die Stadt und das Kloster St. Gallen vor dem Einmarsch warnen: Die Mönche brachten nicht nur sich selbst, sondern auch wertvolle Handschriften ihrer Bibliothek in Sicherheit. Im Professbuch des Klosters St. Gallen taucht sie als einzige Frau auf: «Am ersten Mai wurde die Reklusin Wiberat von Menschen paganen Glaubens getötet.» Vielleicht gehört zu den geretteten Schriften des Klosters St. Gallen auch jenes 922 ge­schriebene berühmte Cantatorium, das bis heute eine der wesentlichen Grundlagen für den gregorianischen Gesang in Klöstern bildet? So oder so: Ver­rückten Visionär*innen wie ­Wiborada – ob monastisch lebend oder nicht – verdanken wir heute viel.●

Dass das Erbe von Wiborada heute aus der Vergessenheit geholt wird, ist nicht zuletzt einem Projekt der St. Galler Pastoralassistentin Hildegard Aepli zu verdanken: Am Ort, wo Wiborada eingemauert ­lebte, steht heute eine nachgebaute Zelle. Jeweils im Mai (2022 bis 2026) bewohnen «Inklus*innen auf Zeit» für je eine Woche die Zelle. Sie lassen sich auf das Experiment ein, in dieser besonderen Woche Gott zu suchen, und werden dabei begleitet.

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  • Geneva Moser,

    *1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.