Kürzlich lud ich eine Kollegin, die ich seit längerem nicht mehr gesehen hatte, zu mir ein. Als sie die Jacke auszog, blickte mir von ihrem T-Shirt Maria entgegen. Ich war einen Moment lang sprachlos. Ein solches Kleidungsstück hatte ich an meiner Freundin, die ich als atheistisch bezeichnen würde, nicht erwartet. Ich konnte es nicht lassen, sie auf das T-Shirt anzusprechen. Sie lächelte und erklärte mir, sie sei zwar römisch-katholisch aufgewachsen, aber mit Kirche habe das Shirt dennoch nichts zu tun. Maria sei für sie ein Symbol für weibliche Stärke. Bald steckten wir mitten in einem Gespräch über Geschlecht und Religion – ein Thema, das ich ohne dieses Kleidungsstück mit meiner Kollegin nie angestossen hätte.
Diese kurze Anekdote zeigt: Kleidung wirkt unmittelbar und stellt ein starkes Kommunikationsmedium dar. Kleidung als Kommunikation ist ein viel besprochenes Thema,1 das spätestens seit Gottfried Kellers Novelle sprichwörtlich geworden ist: «Kleider machen Leute». Die Geschichte zeigt auch einen zweiten Aspekt von Kleidung als Kommunikation deutlich auf: Kleidungsstücke sind vieldeutig und müssen interpretiert werden. Ich las das T-Shirt meiner Freundin als religiöses Statement; sie verstand es als Zeichen für weibliches Empowerment. Als Träger*in kann man mit diesen verschiedenen Interpretationen, mit Enthüllendem und Verhüllendem und den Erwartungen an bestimmte Kleider spielen. So sprechen wir etwa von Verkleidungen, wenn wir ein Spiel mit verschiedenen Identitäten anstossen wollen. Mit Kleidungsstücken lässt sich provozieren: Gängige Vorstellungen, wie man auszusehen hat, können dabei infrage gestellt werden. Kleider können aber auch gesellschaftlichen Normen folgen, beispielsweise wird man bei einem Vorstellungsgespräch für einen Job in einer Bank nicht in der zerrissenen Lederjacke auftauchen, zumindest nicht, wenn man die Arbeitsstelle will.
Kleidung ist also ein Kommunikationsmittel mit einer unmittelbaren Wirkung. Aber sie kommuniziert nicht gradlinig, sondern unterliegt Interpretationen. Wie wir Kleidungsstücke deuten, hängt von unseren jeweiligen kulturellen und subkulturellen Kontexten sowie unseren persönlichen Erfahrungen und Interessen ab.
Kleidung als Kommunikationsmittel spielt in vielen Religionen eine wichtige Rolle. Sie kann eine religiöse Zugehörigkeit anzeigen, religiöse Spezialist*innen erkenntlich machen oder, wie ein Hochzeitskleid, auf eine spezielle Rolle in einem Ritual hinweisen. Diese Zentralität in zahlreichen Religionen hängt mit der genannten unmittelbaren Wirkung von Kleidungsstücken zusammen: Eine Braut sticht beispielsweise durch ihre spezielle Aufmachung aus den Hochzeitsgästen heraus. Sie und ihr Status werden sofort sichtbar. Allerdings braucht es dazu eine Kenntnis der entsprechenden (religiösen) Kleidungssprache. Ein Kind, das ich vor einigen Jahren am Bahnsteig beobachten konnte, war in dieser Hinsicht von aktuellen Debatten geprägt: Es deutete eine römisch-katholische Ordensfrau als muslimisch.
Wissen um das Aussehen religiöser Kleidung wird nicht nur in religiöser Sozialisation erlernt, sondern auch über mediale Vermittlungen angeeignet: Bilder, Filme, Serien, TV-Programme, soziale Medien, Zeitungen oder Zeitschriften zeigen uns, wie religiöse Kleidung aussieht.2 In dieser medialen Vermittlung findet aber manchmal – damit die Figuren und Narrationen erkennbar bleiben – eine Reduktion der Vielfältigkeit religiöser Kleidung statt. Stereotype Darstellungen von Menschen in religiöser Kleidung können entstehen. Diese Stereotype sind umso wirkmächtiger, je häufiger und stärker sie medial verbreitet werden.
Damit bildet sich ein Kreislauf, in dem sich Idealvorstellungen ausformen: Es wird nicht reflektiert, wie eine Muslimin oder ein buddhistischer Mönch in ihrer zu beobachtenden Vielfalt aussehen, sondern es werden Vorstellungen ausgebildet, wie eine «richtige» Muslimin oder ein «richtiger» buddhistischer Mönch auszusehen hätten. Solche Prozesse prägen öffentliche Debatten und engen den Blick auf den Facettenreichtum von Religion und Kleidung ein. Denn weder Religionen noch ihre Kleidungspraktiken sind einheitlich. Sie sind zeitlich und kulturell geprägt, hängen von politischen Strukturen und wirtschaftlichen Möglichkeiten, aber auch von individuellen Bedürfnissen und Vorstellungen und von pragmatischen Überlegungen ab. Kleidungspraktiken in Religionen sind also komplexen Aushandlungsprozessen unterworfen.
Während Kleidungspraktiken in Religionen vielschichtig sind, sind öffentliche Debatten rund um religiöse Kleidung bisweilen mit sogenannten Otheringprozessen verbunden: Menschen werden über ihre Kleidung als «anders» konstruiert. Das «Eigene» wird beispielsweise als aufgeklärt, das «Andere» als rückständig geformt. In diesen binären und diffamierenden Differenzprozessen lassen sich mehrere blinde Flecken finden. Einer ist der, dass viel mehr über religiöse Kleidungsträger*innen als mit religiösen Kleidungsträger*innen gesprochen wird. Die Menschen, die religiöse Kleidung tragen, kommen oft zu wenig zur Sprache. Ein zweiter, dass die Vielschichtigkeit von Kleidung nur beim «Eigenen» betont wird, während die Kleidungspraktiken des vermeintlich «Anderen» als einheitlich abgestempelt werden. Drittens wird gerne vergessen, dass man auch im «säkularen» Raum der Schweiz nicht alles an- oder ausziehen kann, was man will. In welchen öffentlichen Räumen ist beispielsweise Nacktheit möglich? Oder wo kann ein Mann knallroten Nagellack oder einen Jupe problemlos tragen (ohne dafür verspottet zu werden)?
Kleidung hat eine performative Kraft: Sie kann Türen zu hierarchischen Positionen öffnen oder schliessen; sie kann Macht ausdrücken oder Egalität inszenieren. Sie kann Menschen uniformieren und somit ein Gemeinschaftsgefühl stärken oder Individualität und Einzigartigkeit betonen. Gewänder können Reichtum und soziales Prestige vermitteln oder Bescheidenheit und Armut inszenieren. All dies kann auch religiöse Kleidung. Innerhalb einer bestimmten religiösen Tradition findet sich die ganze Bandbreite dieser Funktionen von Kleidung. Religiöse Kleidung erfüllt vielfältige Zwecke und hat deshalb nie nur eine Bedeutung.
Hinzu kommt, dass die Beweggründe von Menschen, religiöse Kleidung zu tragen, gerade in der Schweiz individuell sind. Die Religionswissenschaftlerin Jacqueline Grigo hat dazu eine aufschlussreiche Studie veröffentlicht:3 Sie hat eine Muslimin, eine römisch-katholische Ordensfrau, einen Sikh, einen buddhistischen Mönch, einen orthodoxen jüdischen Mann und einen christlichen Gothic-Szenegänger, die alle in der Schweiz leben, zu ihrer jeweiligen Kleidungspraxis befragt. Die Studie zeigt, wie stark religiöse Kleidung individueller Aushandlung unterworfen ist. Sie macht auch deutlich, dass alle Befragten Diffamierungen erleben und Strategien entwickeln, um damit umzugehen.
Durch religiöse Kleidung werden Vorstellungen einer religiösen Gemeinschaft mit persönlichen Vorlieben und Ideen der Träger*innen verbunden. Träger*innen können religiöse Kleidung persönlich deuten und ihrer momentanen Lebenssituation anpassen. Kleidungsidentität ist also nie etwas Statisches, sondern immer in Bewegung.
Kleidung spielt in verschiedenen Religionen eine wichtige und vielschichtige Rolle. Das Eingangsbeispiel zeigt aber, dass die Verbindung zwischen Religion und Kleidung noch facettenreicher ist, als eine Eingrenzung auf Kleidung in religiösen Traditionen suggeriert. In einer mitteleuropäischen Stadt sieht man nämlich religiöse Symbole vielfach im Kontext von modischen Accessoires: Buddha-Figuren auf Taschen, Jacken oder T-Shirts und Kreuzanhänger an Ketten oder als Ohrringe sind Beispiele dafür. Neben die religiöse Kleidung im engeren Sinn tritt die Verwendung von religiösen Symbolen in der Modewelt. Der Umgang mit solchen religiösen Symbolen in der Mode kann spielerisch sein, aber die Symbole werden dadurch nicht bedeutungslos. Spezifische Zeichen können mit bestimmten Weltbildern verbunden werden: Wir lesen Buddhas auf T-Shirts als Teil eines Lebensstils, der mit Achtsamkeit konnotiert wird. Wie oben gesehen, lassen sich ähnliche Prozesse auch in der Aneignung christlicher Symbole finden. Maria kann zu einem feministischen Code werden, Jesus zu einem Zeichen für eine subversive Männlichkeit. Religiöse Symbole in der Mode können damit eine Identitätsfunktion übernehmen: Die Tragenden identifizieren sich mit einer Denkrichtung, einer Marke, einer Modeströmung, einer bestimmten Subkultur, und zwar bisweilen so stark, dass diese Identifikation den Alltag der Betreffenden prägt und ihnen im Leben Orientierung gibt. Damit rückt die Bedeutung dieser Kleidungsstücke, beziehungsweise das, womit diese assoziiert werden, in die Nähe eines religiösen Gehalts. Mode kann, auch ohne den Verweis auf religiöse Symbole, im Leben einer bestimmten Person so wichtig werden, dass sie zu einem «Kult» oder einer «Berufung» wird, also eine lebensstrukturierende und alltagsformende Funktion einnimmt. Prägnant drückt das die Performerin Ania J in einem Song für Fashion TV aus: «Fashion is my religion».4
Die Beziehung zwischen Religion und Kleidung ist also komplex. Die Beweggründe, religiöse Kleidung oder religiöse Symbole zu tragen, sind vielfältig. Wieso gehen wir fast automatisch davon aus, dass ein bestimmtes Kleidungsstück, sei es ein Hijab oder ein Kreuz um den Hals, auf eine religiöse Weltsicht verweist? Wieso überrascht es uns, wenn die individuellen Deutungen doch um einiges vielfältiger sind? Und was könnten wir alles in religiöser Kleidung sehen, wenn wir den persönlichen Interpretationen ihrer Träger*innen Raum geben würden, anstatt nur von aussen zu mutmassen? Vermutlich würde sich dann ein Kaleidoskop aus unterschiedlichsten Motivationen, Vorstellungen und Praktiken öffnen. Aber zumindest würden sich aufschlussreiche und vielleicht unerwartete Gespräche ergeben – wie bei meiner Freundin mit Maria auf dem Shirt.
Zum Beispiel: Malcolm Barnard: Fashion as Communication. London / New York 2008.
Zur Bedeutung der Medien für die sichtbare Seite von Religion siehe: Natalie Fritz et al.: Sichtbare Religion. Eine Einführung in die Religionswissenschaft. Berlin 2018.
Jacqueline Grigo: Religiöse Kleidung. Religiöse Praxis zwischen Identität und Differenz. Bielefeld 2015.
Siehe: youtube.com > Fashion Is My Religion.
*1976, lehrt und forscht in Religionswissenschaft an der LMU München. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Medien und Religion, Gender, Körper und Religion sowie Bestattungspraktiken.