Im Krieg stellt man viele Fragen. «Hast du getötet?» ist wohl die verstörendste unter allen. Sie dringt ins Innerste des Menschen. Dort, wo sich Gewissen, Ethik, Moral und Glaube streifen. Es ist eine Frage, die einen langen Weg geht, bevor sie ausgesprochen wird. Skrupel, Scheu, Respekt und Angst sind die Hürden, die sich ihr entgegenstellen. In einem langen und nachdenklichen Gespräch, in dem Vertrauen spürbar wird, kann es geschehen, ist es möglich, sie zu stellen. «Hast du getötet?» Mein Herz klopfte immer bis zum Hals, wenn diese drei Worte über meine Lippen kamen. Und während die Frage im Raum schwebte, nicht mehr zurückzuholen, schickte ich ihr die Hoffnung hinterher: «Bitte sag Nein!» Und hatte gleichzeitig das Gefühl, eine Grenze zu überschreiten. «Wer bin ich, dass …?»
Nie, nie sagte einer der Soldaten, der Milizionäre, der Kämpfer: «Ja.» Kein einziges Mal. Alle antworteten indirekt, mit Geschichten, über Umwege. Der israelische Filmemacher, der bei der Invasion in Beirut 1982 Kampfsoldat war, sagte: «Ich erinnere mich, wie ich in eine Wohnung gezielt habe. Ich glaube, es war die Küche. Da waren Gestalten. Ich weiss nicht, ob meine Kugel jemanden dort getroffen hat. Vielleicht, wahrscheinlich.» Es waren Jahrzehnte vergangen, und er erinnerte sich ganz präzis an die Szene, an den Moment.
Eine Reaktion wiederholte sich im Laufe der Jahre immer wieder, egal, in welcher Weltgegend die Interviews stattfanden: «Das erste Mal ist es unheimlich schwer. Darüber kann ich nicht reden. Aber danach – danach ist da keine Hemmung mehr. Dann ist es ganz einfach.» So sprach der Mund. Und in den Augen war staunend-leere Fassungslosigkeit.
Wenn ich diese Momente als «heilig» beschreiben möchte, tu ich das nicht leichtfertig. Ich habe sie so empfunden. Der Mensch mir gegenüber offenbarte sich in seiner existenziellen Blösse, in seiner tiefsten Verstörtheit, in seinem kalten Entsetzen über sich selbst, in seinem Geheimnis. Da war nichts mehr, was bedeckte, relativierte, erklärte, um Verständnis bat. Keine Dramatik, wenig Emotion. Die Worte hatten das Ungeheuerliche eingefangen. Danach blieb nur die Stille, in die sie sanken.
Und zwischen uns der Abgrund.
Auch in mir war Leere. Keine Gedanken, keine Gefühle. Nur der Blick in den Abgrund.
Es gibt keinen Trost. Es gibt keine Annäherung.
Du hast getötet. Es ist geschehen. Und du kannst es nicht mehr ungeschehen machen. Nicht wegdenken. Nicht wegvergessen. Es wird mit dir sein bis zum eigenen Tod. Das ganze restliche Leben. Wird es leichter, weil du deinem Regime geglaubt und gehorcht hast? Immer noch glaubst, immer noch gehorchst? Hilft es zu wissen, dass du dich, deine Familie, dein Land verteidigt hast? Entlastet die Tatsache, dass du viel zu jung warst für den Krieg?
Ich habe oft Soldaten und Milizionäre in der Gruppe erlebt. Auf dem gemeinsamen Feldzug. In einer Art Rausch. Sich gegenseitig anfeuernd. Hin und wieder war es offensichtlich, dass die Männer unter Drogen standen. Diese verschlucken Angst und Empathie. Moral und Gewissen. Da tötet es sich leichter. Und immer öfter. Da foltert es sich skrupelloser. Kollektiver Wahn.
Später dann verliert der Rausch seine Wirkung, eine kalte Nüchternheit zieht ein in Herz und Kopf. Und eine tiefe Einsamkeit. War das Verbrechen in der Truppe noch als Heldentat gefeiert worden, ist es jetzt, nach dem Krieg, ein Geheimnis. Oder bleibt für andere eine diffuse Ahnung, mit der sie nicht in Berührung kommen wollen. Wieder dieser Abgrund, der trennt. Allein mit den Erinnerungen, dem Grauen, dem Moment, der Tat – und den Getöteten. Einer wird krank an der Seele, ein anderer verleugnet, ein dritter rechtfertigt, der nächste bleibt in der Gewalt, der Aggression, der Verzweiflung. Jeder allein.
In Israel und Palästina gibt es die NGO «Combatants for peace». Dort haben sich unter anderen Menschen zusammengetan, die getötet haben. Ein israelischer Kampfpilot zum Beispiel, ein palästinensischer Militanter, der Anschläge verübt hat. Ich durfte einen Blick werfen auf den Prozess, den sie durchliefen, immer noch durchlaufen. Radikale Ehrlichkeit: «Ich habe getötet.» Tiefes Erkennen: «Der Feind ist mein Mitmensch.» Radikales Handeln: «Unsere individuellen Erfahrungen leiten uns auf einem gemeinsamen Weg zur Utopie. Zum Frieden.» Das ist kein Geschenk, das ist härteste Arbeit und grosser Schmerz. Und vielleicht so etwas wie Befreiung.
Ein paar Jahre nach dem Bosnienkrieg bin ich auf dem Markt in Belgrad einem alten Mann begegnet. Ein Grossvater, an der Hand sein Enkel. Es war ein Philosophieprofessor, der vor und während des Krieges im engsten Kreis des Kriegsverbrechers Radovan Karadžić in Pale wirkte. Ein Intellektueller, bekannt als Experte für Hegel. Er half mit, die serbische Vertreibungspolitik philosophisch zu begründen und zu legitimieren. Er nutzte seinen Verstand und seinen Geist für die Grundlage zum massenhaften Töten. Da stand er nun, kaufte Gemüse, Früchte, Fisch wie ein ganz normaler Grossvater. In aller Ruhe. Zurück im zivilisierten Leben – nie angeklagt, nie verurteilt.
Oder Biljana Plavšić. Auch sie eine Professorin, eine studierte Biologin. Auch sie im Umkreis von Karadžić, später seine Nachfolgerin als Präsidentin der Serbischen Republik in Bosnien. Unvergessen, wie sie uns erklärte, warum die muslimischen Mitbürger*innen es nicht wert seien, gleichberechtigt und frei im Land zu leben. Warum sie vertrieben und ausgerottet werden mussten. Eine Aussage, die ihr zugeschrieben wird: «Muslime sind ein genetischer Irrtum im serbischen Körper.» Reiner Rassismus. Und verkleideter Hass. Ich erinnere mich noch, wie kalt es war in ihrem Büro. Mitten im Sommer. – 2003 wurde Plavšić in Den Haag als Kriegsverbrecherin verurteilt.
Sie, die ganz oben, entwerfen den Pfad durchs Kriegsfeld. Detaillierte Planung. Und oft abgesegnet von Kirchenhierarchen. Sie nennen das Töten notwendig, richtig, überlebenswichtig. Sie erklären die «Anderen» zu Feinden, werten sie ab, nennen sie Tiere. Ratten, Hunde. Sie verzerren die Geschichte zu Hetze, Propaganda und Lügen. Träufeln das Gift in die Gesellschaft über Monate und Jahre. Sie tragen weisse Hemden und haben manikürte Finger. Kein Blut, kein Dreck. Und dann lassen sie die Soldaten marschieren, abgerichtete, entgeisterte Untertanen. Die Stiefel im Schlamm, die Hände an der Waffe, das Verbrechen vor sich.
Die, die es sehen, die, die sich weigern mitzujohlen, mitzustampfen, werden zu Ausgestossenen. Kaum ein europäisches Land hat damals den serbischen Deserteuren Schutz gegeben oder politisches Asyl. Ich habe einige von ihnen unter Brücken und in Wartesälen von verlassenen Bahnhöfen in Ungarn angetroffen. Ausgespien von der kriegslüsternen Heimat. Gestrandet im Nirgendwo.
In meiner Agenda kann ich nachschlagen: dreissig Jahre her. Dreissig Jahre?
*1955, lebt in Bern und berichtet hauptsächlich über die Türkei und den Iran. Seit 1981 arbeitete sie als Journalistin bei Radio SRF. 1992 bis 2001 war sie Korrespondentin für Osteuropa und den Balkan mit Sitz in Prag und Belgrad. 2004 bis 2012 arbeitete sie als Nahostkorrespondentin in Beirut.