Wunderheilige und unscheinbare Volks­held*innen in Lateinamerika

Andreas Hugentobler, 23. Februar 2023
Neue Wege 3.2023

Heiligkeit hat mit Wundern und der beispielhaften Gestaltung eines individuellen Lebens zu tun. In Lateinamerika ist darüber hinaus ein Verständnis kollektiver, politischer Heiligkeit entstanden. Menschen bringen an gesellschaftlichen «Un-Orten» wider alle Todeslogik Leben hervor. Bischof Romero zählt zu ihnen, vor allem aber sind es Menschen an der Basis, die mit ihrer ­Glaubenspraxis für ein besseres Leben kämpfen.

Meine salvadorianischen Schwiegereltern erzählten mir bei Besuchen verschiedentlich diese Heiligengeschichten. Jedes Mal waren es mittelalterliche, tugendhafte, fromme Personen aus dem fernen Europa, deren Leben durch Entbehrung und Glauben an die übernatürliche Kraft Gottes geprägt war und die ­Wunder bewirkten. Jedes Mal fragte ich mich, was sie wohl derart an solch fremden Gestalten und exotischen Wundergeschichten faszinierte …

Einen anderen Zugang zu Heiligkeit verschaffte mir während meines Studiums der salvadorianische Befreiungstheologe Jon Sobrino. Er sprach von der «ursprünglichen Heiligkeit» der Opfer und Verarmten unserer Gesellschaft. Damit meinte er all jene, die an den «Un-­Orten» unserer Gesellschaft wider alle Todeslogik Leben hervorbrachten, Geschwisterlichkeit lebten und dadurch das wichtigste Wunder überhaupt bewirkten. An dieser Dimension, an einer Parteinahme für die Opfer und Marginalisierten unserer Gesellschaft, habe sich jede kirchenrechtliche Heiligsprechung zu messen.1 Natürlich hatte er dabei Bischof Romero in El Salvador und die vielen lateinamerikanischen Volksheiligen vor Augen.

Spannend wurde es, als Papst Franziskus zwischen 2015 und 2018 den 1980 am Altar ermordeten Bischof Oscar Romero erst selig- und später heiligsprach. Hier wurde der Widerspruch zwischen institutioneller Anerkennung und ursprünglicher Heiligkeit offensichtlich: Während Romero knapp eine Stunde nach seiner Ermordung von Obdachlosen San ­S­alvadors bereits als «ihr» Heiliger erkannt und angerufen wurde2 und seither unzähligen Menschen im Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden Mut und Hoffnung verleiht, brauchte es für die kirchenrechtliche Anerkennung erst ein anerkanntes Wunder als Erweis des übernatürlichen ­Handelns Gottes. Jener, der als «Stimme der Stimmlosen» sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte und vom Volk längst heiliggesprochen worden war, musste erst durch ein die Naturgesetze durchbrechendes Wunder als solcher bestätigt werden. Auf diese Weise anerkennt ihn die katholische Kirche als Fürsprecher, der sich bei Gott für die Gebetsanliegen der Gläubigen einsetzt. Stellt sich nur die Frage: Wozu braucht Gott, der Liebe ist, diese Fürsprache überhaupt?

Ein mittelalterliches, aus lateinamerikanischer Sicht koloniales Verständnis tugendhafter Heiligkeit steht dem Beispiel grossartiger Menschen aus verschiedenen Völkern und Kulturen gegenüber, die keiner Anbetung bedürfen und deren Wunder darin besteht, dass sie Würde und Hoffnung schenken und Nachfolge mit dem Kampf für ein besseres Leben und Veränderung der Strukturen verbinden. Sie bewegen nicht Gott, sondern Menschen und ihre Herzen und damit ein Stück Wirklichkeit.

Verändernde Praxis

Am Beispiel von Bischof Romero können diese beiden Zugänge gut veranschaulicht werden: Basiskirche, Menschenrechtsgruppen, soziale Bewegungen aus ganz Lateinamerika beziehen sich seit Jahrzehnten auf den Propheten Romero, die «Stimme der Gerechtigkeit». Sie malen sein Porträt auf Wände, zitieren seine Predigten, widmen ihm Songs und Gedichte, benennen Schulen und offizielle Gebäude nach ihm. Sie organisieren politische Treffen, bei denen seine Texte gelesen werden, und Geschichtsfestivals, wo mit seinem Namen zur Erinnerung an Widerstand und zum Gedenken an unzählige Opfer und Verschwundene eingeladen wird. Die katholische Kirche als Institution verbreitet seit der Heilig­sprechung ein eigenes, ikonisiertes Heiligenbild von Romero, formuliert ein Bittgebet, benennt Pfarreisäle und Kirchen nach seinem Namen und fördert auf ihre Weise die Verehrung des neuen Nationalheiligen. Nicht selten werden bei dieser Verbreitung des offiziellen Romero jedoch jene engagierten Stimmen und jene Praxis verschwiegen, die authentisch und lebensnah Zeugnis von Romeros Projekt einer Kirche der Armen geben. Übrig bleibt häufig ein «santo cualquier» – ein «x-beliebiger Heiliger», auf dessen Fürsprache Reich und Arm, Opfer und Täter, Grossgrundbesitzer und Landlose gleichsam hoffen dürfen, während sein prophetischer Einspruch als Ursache für sein Martyrium ausgeblendet wird.

Diese Gegenüberstellung von dogmatischer und praktisch-jesuanischer Heiligkeit hat mit dem Tod von Papst Benedikt jüngst eine aktualisierende Brisanz erfahren: Im Jahr 2006 verurteilte dieser im Eifer um die Reinheit des Glaubens die befreiungstheologische Christologie des Jesuiten Jon ­Sobrino, der Bischof Romero sehr nahestand. Die Begründung lag darin, dass diese ­Christologie zu sehr die menschlichen Züge Jesu betone und so «diverse falsche und gefährliche Ideen verbreitete, die dem Glauben Schaden zufügen können»3. Was Benedikt als schädlich für den Glauben bekämpfte, war und ist für viele Menschen Lateinamerikas jedoch Inbegriff christlicher Hoffnung: Glaube ist verändernde Praxis. Der Schrei Jesu am Kreuz ruft danach, die heute Gekreuzigten von ihren Kreuzen zu nehmen, und soll gerade nicht zu weltfremder oder individualistischer Kreuzesanbetung verleiten. Deshalb werden lateinamerikaweit bei jeder Demonstration, in jeder Basis­gemeinde und Kooperative Männer und Frauen angerufen, deren Leben anderen Hoffnung auf Veränderung schenkt und Engagement für Befreiung auslöst.

Politische Heiligkeit

Auf diese Weise durchbrechen Menschen den Bannkreis individueller Religiosität und aktualisieren den überlieferten Glaubensschatz in der konkreten Wirklichkeit. Diese kollektive und politische Dimension von Heiligkeit, wie sie in der Volkskirche Lateinamerikas lebt, ist der wohl entscheidende Grund, warum die Befreiungstheologie von den beiden Vorgänger­päpsten Benedikt XVI. und ­Johannes Paul II. derart bekämpft wurde. Solange Heiligkeit einzig eine persönliche Anstrengung zur Führung eines beispielhaften Lebens ist, dient sie als Bezugspunkt für einen individuellen Glauben, der weder aneckt noch politische Veränderung sucht. Hätte Jesus von Nazareth sich an dieser Maxime orientiert, wäre er wohl kaum von der römischen Besatzungsmacht ermordet worden. Und hätten sich seine ­Anhänger*innen in den ersten Jahrzehnten an individueller Tugendhaftigkeit orientiert, wäre die ganze Bewegung entweder binnen weniger Jahre erloschen, oder wir würden heute statt eines Neuen Testaments eine fromme Gebets- und Spruchsammlung vorfinden.

Doch gerade weil Jesus von Nazareth aus politischen Gründen ermordet wurde und weil seine Anhänger*innen an dieser gefährlichen Erinnerung und verändernden Praxis festhielten, sich damit auch unter Verfolgungsgefahr gegenseitig Mut zusprachen, gibt es auch heute Hoffnung, wo Menschen sich der Korruption, dem Kriegsgeschäft, der Gewalt und Zerstörung widersetzen, deren Ursachen anklagen und sich am Beispiel heiliger Frauen und Männer orientieren, welche diesen Glaubensschatz für ihre Zeit und ihren Kontext aktualisieren.

Aus diesem Grund kontert der spanische Theologe Juan José Tamayo den Vorwurf von Papst Benedikt, die Theologie Sobrinos sei eine Verweltlichung des Glaubens, mit dem Argument, es gehe im Christentum ganz zen­tral um solche «politische Heiligkeit», die aus Spiritualität plus Befreiungshandeln bestehe.4 Christliche Heiligkeit besteht in der Verbindung von Mystik mit Politik und ist Handeln in transzendenter Perspektive.

Bischof Romero sprach in diesem Zusammenhang sogar von einer Pflicht für politisches, transformatorisches Handeln. Er scheute sich nicht, die Teilnahme von Christ*innen in Befreiungsorganisationen im Kampf gegen die Militärdiktaturen öffentlich zu rechtfertigen: «Bereits in meinem dritten Hirtenbrief verteidigte ich auf Basis der kirchlichen Lehre das Recht auf [politische, A. H.] Organisation […]. Es handelt sich dabei nicht nur um ein Recht, sondern auch um eine Notwendigkeit und eine Pflicht, eine gerechtere Ordnung zu schaffen, welche die Volksmehrheiten auch tatsächlich berücksichtigt. Deshalb ist es für die ­Kirche keine illegale Tat, sondern im Gegenteil eine Pflicht, Christen mit den entsprechenden Fähigkeiten zur Teilnahme in den Volksorganisationen und für die Anliegen des einfachen Volkes zu ermutigen. Als Teil derselben Pflicht kritisiert sie aber auch das Vergehen von ­[politischen] Organisationen, sich auf eine ausschliesslich politische Dimension zu beschränken und so eine ganzheitliche Entwicklung der Person zu verhindern und den Respekt gegenüber christlichen Werten zu verlieren, welche die Inspirationsgrundlage für viele sogenannte ‹Organisierte› sind.» 5

Heilige und ihr Volk

Lateinamerikanische Heilige sind oft ­Figuren, die aus den Kämpfen ihres Volkes, oder von Gruppen des Volkes, hervorgehen und für diese und ihre Befreiungsbewegungen zu Hoffnungsträgern wurden. Ihre Essenz liegt in der Verbindung zu diesem Kollektiv. «Nunca se separen del pueblo» (Wendet euch nie vom Volk ab) war Leitmotiv von Bischof Romero.6 Wie an seinem Beispiel eindrücklich zu sehen ist, leben solche Personen eine grosse Nähe zum einfachen Volk, besonders zu den Opfern von Gewalt und Unterdrückung. Durch diese existenzielle Verbindung werden sie zu Resonanzkörpern ihrer Anliegen, lassen ihre Forderungen in öffentlichen Interventionen und Predigten zu Wort kommen und werden deshalb von politischen, militärischen und kirchlichen Machtkreisen boykottiert, ­verleumdet und viele sogar ermordet. Die Liste jener Frauen und Männer ist sehr lang, die wenigsten von ihnen dürften je von der Institution heilig­gesprochen werden.

«Den Propheten können sie töten, nicht aber seine Stimme der Gerechtigkeit»,7 lautet der Refrain eines historischen Romero-Songs. Das drückt aus, wie das Martyrium dieser ­Männer und Frauen dem gemeinsamen Projekt nicht Abbruch und Resignation vermittelt, sondern neue Kraft und Transzendenz verleiht. Das verweist auf die intrinsische Beziehung zwischen Person und Kollektiv. Das Kollektiv ist nicht nur Zeugin von Heiligkeit, sondern selbst Teil davon.

Der für mich eindrücklichste Erweis von Heiligkeit ist so das gestärkte Fortbestehen des konkreten Befreiungsprojekts, ausgedrückt in der Würde der Opfer, im kollektiven Einsatz für die gemeinsamen Anliegen und in der darin aufgehobenen Erinnerung an bekannte und unbekannte Männer und Frauen als «Gemeinschaft der Heiligen und Märtyrer», die dem Projekt «Reich Gottes» Sinn und Nahrung geben. Dass das Volk Romero «heilig gemacht» hat, wird beispielsweise im Song «Monseñor, tu pueblo te hizo santo»8 ausgedrückt, der von einfachen Campesinos und Campesinas geschrieben wurde.

Risse in die Todesmacht

Wie und wo zeigt sich kollektive, «ursprüngliche Heiligkeit» in Lateinamerika heute? Was bedeutet solche Heiligkeit angesichts der systemischen, strukturellen Todes­gewalt («necro­power») des organisierten Verbrechens, ­welches in seinem Kampf um territoriale Kontrolle die lokale Bevölkerung einem Dauerkrieg aussetzt und Nationalstaaten längst unter­laufen hat? Was angesichts des massiven Artensterbens, der ökologischen und klimatischen Katastrophe, in der wir längst stecken?

In dekolonialer Perspektive und biblisch gesehen in einem apokalyptischen Verständnis gibt es Heiligkeit überall dort, wo von innen und unten neue Formen von Leben in den Rissen aktueller Nekromacht entstehen. Ich möchte abschliessend ein konkretes Beispiel solch «ursprünglicher Heiligkeit» vorstellen.

Dank der Arbeit grossartiger feministischer Wissenschaftlerinnen9 ist mittlerweile bekannt, dass die vielen Feminizide in Mexiko – es werden mehr als zehn Frauen pro Tag ermordet – keine Sexualdelikte sind oder Ausdruck von individuellem Hass. Es handelt sich in der Logik der Nekromacht um eine Zurschaustellung der Grausamkeit organisierter Banden, in Kooperation mit lokalen Regierungen. Diese Logik der Nekromacht zu verstehen und sie von innen heraus zu verändern, ist das ­Anliegen der «Mütter von Verschwundenen».10

Der mexikanische Theologe Carlos Mendoza bezeichnet ihre Suche nach den unauffindbaren Söhnen und Töchtern als «messianischen Aufstand». Sie suchen in den Orten der Nekrowelt, in anonymen Gräbern, Bordellen und sogenannten «Menschenfarmen»11 nach möglichen Knochen und Kleidungsstücken von Verschwundenen. Ihre verzweifelte Suche wird zu einer Form neuen Lebens: Jeden Ort inmitten dieser Todeswelt, den sie sie betreten, verwandeln sie in einen Raum von ­Spiritualität, Liebe, Zärtlichkeit und Würde. «Das Erste, was sie beabsichtigen, ist, das zu vermenschlichen, was durch die Nekromacht entmenschlicht wurde. So wird ihre Empörung inmitten des Schmerzes zu einer Quelle von Würde, Gerechtigkeit und Hoffnung.»12

Diese Mütter der Verschwundenen sind wahrhaft Heilige, weil sie neues Leben an diesen Todesorten hervorbringen.13 Auf der Grundlage gemeinsamer Verwundbarkeit verweben sie Affekte, Fürsorge, neue Narrative und politische Praktiken zu einer eschatologischen Gemeinschaft. Sie schaffen in Zeiten der Nekromacht eine neue «Welt, in der viele Welten Platz haben»14 und lassen eine demobilisierende Kraft gegen die Gewaltherrschaft wachsen.●

  1. Vgl. Jon Sobrino: Die ursprüngliche Heiligkeit. In: Concilium. Internationale Zeitschrift für Theologie, 3/2013. 

  2. Als Romero kurz nach seiner Ermordung ins Gebäude der Gerichtsmedizin getragen wurde, rief ein älterer Mann: «Da kommt unser Heiliger!», vgl. María López Vigil: Monseñor Romero. Piezas para un retrato. San Salvador 1993.

  3. Kongregation für die Glaubenslehre: Notifikation zu den Werken von Pater Jon Sobrino. Rom 2006. vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/­documents/rc_con_cfaith_doc_20061126_notification-sobrino_ge.html.

  4. Juan José Tamayo Acosta, zitiert aus: amerindiaenlared.org/contenido/13691/jon-sobrino-el-­principiomisericordia-y-la-iglesia-de-los-pobres/.

  5. Mons. Óscar A. Romero: Misión de la Iglesia en medio del país. Cuarta carta pastoral. San Salvador 1979, S. 40 f. (Übersetzung: A. Hugentobler).

  6. Für den spanisch-salvadorianischen Befreiungspädagogen und Herausgeber der kommentierten Predigtsammlung von Bischof Romero, Miguel Cavada Diez, fasst dieser Satz die zentrale Botschaft Romeros zusammen.

  7. «Podrán matar al profeta, pero su voz de justicia no!», zu hören mit eindrücklichen Lebensbildern von Bischof Romero auf Youtube: youtube.com/watch?v=vF5RGhSjSvY.

  8. Grupo Voces Informales: Santo Compañero. San Salvador 2019. Zu hören auf Youtube: youtube/4YtkNkZUcsQ.

  9. Rita Laura Segato, Nancy Pinera Madrid, Sayak Valencia u. a.

  10. «Madres de desaparecidos». In Mexiko sind allein in den letzten drei Jahren über 31’000 Personen verschwunden.

  11. Auf Spanisch «granjas humanas» genannt.

  12. Carlos Mendoza: Volver a la raíz. Vortrag an der Zentralamerikanischen Universität UCA, zu hören auf: facebook.com/maestriauca.teologialatinoamericana/videos/461283909312473.

  13. Mendoza spricht in diesem Zusammenhang von Re-Existenz («re-existencia») als Form geschichtlicher Erlösung, in Überwindung und gleichzeitiger Inte­gration der Dimensionen von Resilienz («resiliencia») und Widerstand («resistencia»).

  14. Un mundo en el que quepan muchos mundos» ist ein zentrales Motto der zapatischen Bewegung in Mexiko.

  • Andreas Hugentobler,

    *1982, studierte Theologie in Fribourg und San Salvador, arbeitete als Jugendseelsorger und Pastoralassistent in Biel, bevor er von 2014 bis 2022 kirchliche Basisgemeinden in El Salvador begleitete. Aktuell ist er bei Fastenaktion (ehemals Fastenopfer) für Theologie und die Sensibilisierungsarbeit in der Schweiz zuständig.