Zerbrochen ganz

Iren Meier, 2. April 2019

Kintsugi. Wenn in Japan eine Keramikschale zerbricht, werden die Scherben nicht zusammengekehrt und in den Abfall geworfen. Nicht einfach: kaputt und weg. Nein, die einzelnen Teile werden sorgfältig zusammengefügt in einem mehrstufigen Verfahren. Dabei wird ein besonderer Kitt verwendet. In diesen wird feinstes Pulvergold eingestreut. Das reparierte Gefäss – die Schale, die Tasse, der Krug – erhält seine ursprüngliche Form wieder, wird wieder ganz, aber es sieht anders aus: Es ist nun durchzogen von goldenen Linien und Streifen. Ganz feine manchmal, oft aber auch breite, auffällige. Die Bruchlinien werden zu Gold. Und die Keramik wird Kunst. Der Makel Schönheit. Es entsteht eine richtige Landschaft auf dem Objekt, eine völlig neue Optik. Wer einmal eine solche Schale gesehen hat, ist fasziniert. Zerbrochene Vollkommenheit. Vergoldetes Leben. Seine Spuren und Risse werden betont und hervorge­hoben, nicht übertüncht. Man nennt diese Reparaturtechnik Kintsugi. Es heisst, sie gehe auf das 16. Jahr­hundert zurück und sei unter anderem vom Zen-Buddhismus beeinflusst worden, der sich damals in Japan stark verbreitete. Die Wertschätzung von Fehlerhaftem, die Einfachheit und die Ablehnung jeder Verschwendung steht mit im Zentrum der buddhistischen Anschauung. Und jedes so wiederhergestellte Gefäss ist Ausdruck dieser Haltung.

Ich schaue diese Objekte an und beginne zu träumen. Was, wenn die Keramik nur der Anfang wäre? Was, wenn sich Kintsugi in unserem ganzen Leben und auf unserem Planeten ausbreitete? Ich sehe Häuser vor mir, beschädigt und zerstört durch Kriege oder Naturkata­strophen. Und plötzlich erscheint ein goldenes Netzwerk auf diesen Ruinen. Mauerrisse, geborstene Fensterscheiben, Löcher von Granateinschlägen –goldumrandet. Wenn ich an Gaza denke, ein Trümmer­feld am Meer, sehe ich nun einen goldenen Küstenstreifen. Wenn ich an Syrien denke, leuchtet es in der Dunkelheit. Im Jemen, die Nacht wäre nicht mehr tiefschwarz. In lateinamerikanischen, in afrikanischen, in asiatischen Slums: Staub und Dreck, durchsetzt von Gold. Baracken in Flüchtlings­lagern, lecke Boote auf dem Mittelmeer. Und was, wenn wir Pflanzen, Bäume, Berge und Meere liebevoll mit goldenem Blick betrachten und behandeln würden? Ihre Wunden und ihre Verletzlichkeit. Von den Gletschern bis zum Regenwald. Uns nicht auf das unwiderruflich Verlorene konzentrierten, sondern auf das immer noch Mögliche, das die schmerzlichen Spuren der Ausbeutung durch uns Menschen offen trägt. Aber uns immer noch die Chance lässt, zu retten, zu reparieren, zu heilen – was möglich ist. Und es wirklich zu tun.

Und wir Menschen? Ich gehe manchmal durch die Strassen und sehe den einen oder die andere vor mir mit einer feinen goldenen Linie über der linken Seite. Dort wo das Herz ist. Ich begegne einem obdachlosen Menschen oder jemandem mit einem körperlichen Handicap, und ich denke an das feine Pulvergold. Allein der Gedanke verändert den Blick. Macht ihn sanfter, zärtlicher. Offenbart die Schönheit der Versehrten. Die Schönheit des Unvollkommenen. Jetzt fällt sie mir auf. Und auch, dass der Widerspruch nur einer ist, solange man ihn denkt, solange ich in meiner Vorstellung Grenzen ziehe. Und meine Haltung dies spiegelt. 

Bei Leonard Cohen heisst es: «There is a crack in everything. That’s how the light gets in.» Der Mystiker Rumi sprach Jahrhunderte früher nicht von einem «Riss» (crack) sondern von der «Wunde», als dem Ort, wo das Licht eintrete. 

Viele Menschen, denen ich in den letzten Jahren begegnet bin, trugen und tragen die Schönheit und das Licht der Versehrten. Besonders im Gedächtnis sind mir die kleinen Menschen geblieben, die Kinder. Zum Beispiel Zora. Ein Roma-Mädchen in einem Elendsviertel in Belgrad. Dort, inmitten von Schmutz und Well­blechhütten, gibt es einen Kinder­garten für die Roma-Kinder. Die Tür steht weit offen an jenem warmen Frühlingstag, die Kinder, vertieft in ihr Spiel, bemerken unser Eintreten gar nicht. An der Wand, neben vielen Zeichnungen, grossgeschrieben ein Text: «Jedes Kind auf der Welt hat das Recht zu lernen», heisst es da. «Kein Kind darf geschlagen werden.» «Jedes Kind soll geliebt werden.» 

Die Kindergärtnerin, selbst eine Roma, kommt auf uns zu und sagt: «Wir sprechen oder singen diesen Text jeden Tag. Und dann öffnen die Kinder ihre Herzen, erzählen, was ihnen geschieht.» Alle Kinder in diesem Hort kommen direkt von der Strasse. Zerlumpt, abgerichtet zum Betteln. Kinder, die täglich erleben, wie sie mit einer Handbewegung verscheucht werden wie lästige Fliegen. Keiner neigt sich ihnen zu, alle wehren sie ab. Sie erfahren Ausgrenzung und Rassismus. Diese Kinder nicht verloren zu geben, sondern ihnen einen würdigen Platz in der Gesellschaft zu erkämpfen, für ihr Recht auf Schule und Bildung einzustehen, dafür arbeiten die ErzieherInnen Tag für Tag. Sie bleiben dran, hartnäckig. Sisyphus ist ihnen vertraut. Aber sie widerlegen ihn immer wieder. Weil sie die Ungerechtigkeit nicht aushalten wollen. Jeden Tag waschen sich die Kinder im Hort und bekommen saubere, schöne Kleidung. Sie üben soziales Verhalten, lernen, miteinander umzugehen, ohne dass ein Überlebenskampf daraus wird. Dann gehen sie nach Hause und kommen am nächsten Tag genauso schmutzig wieder. Oder sie müssen zuhause geholt werden. 

Die erste Zeit sei oft zum Verzweifeln, sagen die Betreuer­Innen. Dann aber veränderten sich die Kinder. Auch zuhause. Was die Eltern verunsichere und aggressiv mache. Sie fürchteten, ihre Kinder würden ihnen überlegen sein und fremd werden und wollten sie, die Eltern, erziehen. Das einzige, was diese Eltern letztlich zugänglich mache, sei die Tatsache, dass die Erzieher­Innen selber Roma seien und ihre Arbeit Konsequenz ihrer eigenen schmerzlichen Kindheit und Erfahrung. 

Wenn sich die Eltern auf diesen schwierigen Prozess einlassen, sitzt am Ende ein Kind wie Zora im Hort. Ein Mädchen, das nicht mehr geschlagen wird und das nicht mehr auf der Strasse betteln muss. Ein kleiner Mensch, der langsam Vertrauen ins Leben und in sich selbst und seine eigene Stärke fasst. Ein Roma-Mädchen im Elendsviertel, das die städtische Schule in Belgrad besuchen kann. «Morgen ist ihr erster Schultag», sagt die Kindergärtnerin und winkt sie heran. Unter tiefschwarzem, glänzendem Haar ein scheuer Blick. «Was möchtest du lernen in der Schule, Zora?» Einen Moment lang ist es ganz still. Auffallend schmal ihre Gestalt, die Füsse berühren kaum den Boden, Kopf und Rücken richten sich auf. Dann nur ein Wort. Ganz leise, aber entschieden: «Sve!» «Alles!»

Ich seh sie vor mir, wie sie da sitzt. Gezeichnet. Versehrt. Und ich seh die feinen Linien aus Gold. Leuchtend. Wunderschön.●

  • Iren Meier,

    *1955, lebt in Bern und berichtet hauptsächlich über die Türkei und den Iran. Seit 1981 arbeitete sie als Journalistin bei Radio SRF. 1992 bis 2001 war sie Korrespondentin für Osteuropa und den Balkan mit Sitz in Prag und Belgrad. 2004 bis 2012 arbeitete sie als Nahostkorrespondentin in Beirut.