Zwei Moses 
oder die Instrumen­talisierung 
der Religion

Amira Hass, 9. Oktober 2018
Neue Wege 10/2018

In der Situation von Besatzung wird Religion zum Instrument. Sie erfüllt eine Funktion für jene, 
die unter der Fremdherrschaft und Unterdrückung leiden. Und jene, die das Land kolonisieren, stützen sich umso mehr auf göttliche Ver­heissungen, je stärker sie das internationale Recht miss­achten. Beobachtungen einer Atheistin in der Westbank.

Moses, oder «der Prophet Mussa», Pharao und natürlich Allah verkürzten die Wartezeit bis zur Freilassung von fünf Männern des Beduinenstammes Dschahalin. Einer von denjenigen, die auf die Freilassung warteten – ein wenig jünger als vierzig Jahre alt, mit langem schwarzem Bart, in eine braune Robe gekleidet und mit genau und stilvoll aufgesetztem Kopftuch –, ist Hirte und, wenn es nötig ist, auch Prediger. Als ich spätabends an den Platz gelangte, wo sie alle warteten – im Schatten eines Militärturmes, mit Stacheldraht und abgeschlossenem Tor und ausgerüstet mit Scheinwerfern, im Abstand von einigen hundert Metern vom Gefängnis –, sassen er und andere Stammesmitglieder im Schneidersitz auf dem Asphalt im Kreis um eine Teekanne. Nach einigen Momenten der Verwirrung, des Erstaunens und der gegenseitigen Vorstellung, war es dieser Abu Kaiss, der Prediger, der die biblischen Figuren in unser Gespräch einbrachte, in der Koranversion.

Die fünf, auf deren Freilassung wir warteten, waren sechs Tage zuvor verhaftet worden, als sie gegen die vom israelischen Gericht genehmigte Zerstörung ihres Dorfes protestierten und gegen die Vertreibung aus dem unbebauten Bereich des grössten Abfallberges der Westbank. Der Staat Israel will seine Siedlungen östlich von Jerusalem erweitern, auf einem Gelände, von dem diese Gemeinschaft und zwanzig weitere beduinische Gemeinschaften vertrieben werden sollen. In den letzten dreissig Jahren versuchte der Staat, sie mit bürokratischen Mitteln zu vertreiben. Zum Beispiel durch Umzonungen in militärisches Gebiet oder in ein Naturschutzgebiet, um sie von Wasser und Weideland zu trennen, oder dadurch, dass man Bauverbote und Abrissbefehle deklarierte. In den letzten zehn Jahren spricht der Staat es unverblümt aus: Sie sollen verschwinden. Aber sie gehen nicht. Diese Beduinen wurden nach der Staatsgründung bereits aus dem Negev vertrieben.

Der Widerstand war still und gewaltlos, die Verhaftungen dagegen brutal und rabiat. Obschon ihr Verhör schnell zu Ende war, war der Richter mit der Bitte der Polizei einverstanden, sie nicht freizulassen, sondern während des Wochenendes im Gefängnis zu behalten und erst dann vor einen Richter führen zu lassen, der über die Bedingungen einer bedingten Freilassung mit teurer Kaution verhandeln würde. Die Verteidigung und die militärische Anklagevertretung einigten sich auf eine vergleichsweise niedrige Kaution von 1000 Schekel. Das weist darauf hin, dass die Verhaftung reine Schikane war. Und trotzdem entschied ein zweiter Militärrichter, dass die Kaution grausame 10 000 Schekel für jeden sein sollten. Abu Kaiss war im Gerichtssaal, als der Richter diese ungehörige Summe verkündete, und er war entsetzt. Die Verteidigung schaffte es zwar, diese Summe auf 2500 Schekel zu verringern, und die fünf waren schon auf dem Weg in die Freiheit. Aber in Abu Kaiss’ Stimme waren die Empörung und der Zorn noch zu hören: «Das soll ein Richter sein? Er sollte an Pharao denken. Er sollte sich erinnern, was mit Pharao geschah, als dieser die Kinder Israels demütigte», sagte er mir. «Die Bösen richtet Allah. Und wer, wenn nicht die Juden, sollte das wissen?»

Mussa und 
Mosche

Man kann nicht von Pharao sprechen, ohne etwas zu Moses, Mussa, zu erläutern. Während anderthalb Stunden erzählte Abu Kaiss mir die Geschichte von Moses, wie er sie aus dem Koran kennt. Er sprach arabisch und mischte dabei hebräisch hinein, mit israelischem Slang, den er gelernt hatte, als er in Israel gearbeitet hatte. Es war fast eine Standup-Comedy-­Show, die etwas über seine Eigenschaften als Prediger und seine Fähigkeiten, seine Gemeinde zu überzeugen, aussagten: «Mussa ist in die Wüste geflüchtet, und dort erschien ihm Allah und überzeugte ihn, sich nicht vor den ­Daujinim des Pharao zu fürchten. [Daujin ist ein israelischer Slangbegriff, der aus dem Arabischen stammt und etwas bedeutet wie: jemand der herumfuchtelt, aber nichts in der Hand hat; Anm. d. Red.] Er sagte ihm: Komm, wir nehmen ein Taxi und fahren zu Pharao, und du zeigst ihm, wer stärker ist.» So übersetzte Abu Kaiss die biblische/Koran-Geschichte in die heutige Zeit.

An einen Teil der Geschichte von Mussa, die er erzählte, konnte ich mich nicht erinnern, trotz Religionsstunden und jährlichem Lesen der Haggada am Sederabend des jüdischen Pessachfests. Als ich nach Hause kam, prüfte ich die einschlägigen Koranstellen und entdeckte, dass im Koran tatsächlich eine andere Version erzählt wird als in der Thora. Interessant war vor allem zu erkennen, dass Mussa – im Gegensatz zu Mosche – den Tod der ÄgypterInnen bereute. In Exodus 2, 11–12 steht, dass Mosche «zu seinen Brüdern hinausging und ihnen bei der Fronarbeit zuschaute. Da sah er, wie ein Ägypter einen Hebräer erschlug, einen seiner Stammesbrüder. Moses sah sich nach allen Seiten um, und als er sah, dass sonst niemand da war, erschlug er den Ägypter und verscharrte ihn im Sand». In der Koransure 26 kritisiert Pharao Mussa: «Haben wir dich nicht als kleines Kind unter uns aufgezogen, und hast du dich nicht viele Jahre deines Lebens unter uns aufgehalten? Und du hast deine Tat, die du damals getan hast, verübt und gehörst zu den Undankbaren.» (Verse 18–19) «Ich habe sie damals verübt, als ich noch zu den Irregehenden gehörte», antwortet Mussa. Und dann wieder in Sure 28, nachdem wir lesen, dass «ihn Mussa mit der Faust schlug und ihn so umbrachte», werden wir sofort über seine Reue informiert: «Das gehört zum Werk des Satans. Gewiss, er ist ein deutlicher Feind, der in die Irre führt.»

Für Abu Kaiss war Mussa wie der Nachbar oder der Grossvater, der vor zwei oder drei Jahren gestorben war: Er sprach über ihn mit Zuneigung, auf eine intime und familiäre Art, die mir nicht fremd ist. Ich lebe seit einem Vierteljahrhundert inmitten von PalästinenserInnen, und ich zähle die vielen Male nicht, in denen sie gerührt und überzeugt jene Koransuren auswendig vortragen, die von den Kindern Israels handeln, von der Bestrafung der Bösen, der SünderInnen, der Demütiger und vom Guten, mit dem Gott diejenigen überschütten wird, die ihm folgen und an ihn glauben.

Eine unsichtbare Glasscheibe trennt mich – die von Geburt Ungläubige – von ihrem Glauben an Gott, an seine Versprechungen, an den Satan, an die bösen Geister und an das Jenseits. Ich kann ihre Verzückung nicht nachempfinden, sie mir nicht einmal vorstellen, diese Verzückung, die sie erfasst, wenn sie den Koran vortragen und in der Moschee sind. Und ich verstehe nicht, wie sie glauben können, der Koran sei vom Himmel herabgekommen. Genauso wenig kann ich mir die Verzückung während eines christlichen Gebets oder angesichts von Jesus, dem Gekreuzigten, vorstellen, oder wie JüdInnen glauben können, dass Gott die Zehn Gebote Moses auf dem Berg Sinai übergab. Aber was ich sehr wohl verstehe und auch mitfühle, an jedem Tag, bei jeder Begegnung und Bekanntschaft, ist, wie der Glaube an Gott und an die Suren des Korans es vielen PalästinenserInnen ermöglicht, das unerträgliche Leid zu ertragen, das ihnen die israelische Fremdherrschaft zufügt.

Ein Buch mit 
sieben Siegeln

«Das Leben hier ist kurz, sechzig bis siebzig Jahre, das ist unwichtig», sagte mir Abu Kaiss in dieser Nacht. Nein, er sagte dies nicht, er predigte, wie wenn er freitags in der Moschee stünde, Hunderten von Gläubigen gegenüber. «Das Leben danach, the life after, das ist das Wichtige, das Ausschlaggebende.» Er meinte damit, dass derjenige, der in seinem kurzen Leben Schlechtes tut – wie der Militärrichter – im Jenseits bis in alle Ewigkeit leiden werde. Und dasselbe gilt für den gegenteiligen Fall: Wer Gutes tut, den erwartet ein Preis bis in alle Ewigkeit. Die Atheistin (mit marxistischer Schulung) in mir erkennt darin, mit einem gehörigen Mass von Wut, eine Anleitung zu einer passiven Unterwerfung im diesseitigen Leben. Die Journalistin andererseits weiss, dass das Dableiben und das Beibehalten von Lebensformen in einem kolonialistischen System – wie das israelische eines ist, rechtswidrig – Energie und Standhaftigkeit erfordern, die das Gegenteil von Passivität sind.

«Alles steht geschrieben», das Schicksal ist im Voraus bestimmt. Noch so ein Mantra, das ich immer wieder höre und das mich immer wieder erzürnt. Aber ich kann einer Mutter nichts entgegnen, die weiss, dass ihr von israelischen Soldaten erschossener Sohn jetzt im Paradies ist und es ihm dort gut geht. Während all dieser Jahre habe ich zu viele solcher Väter und Mütter getroffen, deren Glauben den schrecklichen Schmerz über den Verlust des Sohnes milderte und ihnen die Kraft gab weiterzumachen, als dass ich den Glauben belächeln könnte. Ich sass einmal mit zwei gläubigen Frauen zusammen, deren Verwandte schon viele Jahre im israelischen Gefängnis sassen. Einer von ihnen erkrankte an einem bösartigen Krebs, aber man liess ihn nicht im Kreise seiner Familie sterben. Sie rezitierten einen der vielen Sätze aus dem Koran, die von der Bestrafung der Bösen (in diesem Fall: der Juden und Jüdinnen) im Jenseits sprechen. Ich wagte zu fragen: «Und das zu wissen, das hilft euch?», und sie sagten: «Sehr.»

Das, was Menschen finden im Glauben an Gott, an seine Propheten, an sein heiliges Buch – es ist ein Buch mit sieben Siegeln für mich. «Heiligkeit» existiert in meinem Wortschatz nicht. Aber ich kann mich nicht vor der historischen, kulturellen und sozialen Bedeutung verschliessen, die die Instrumentalisierung des Glaubens hat, und dies im weiteren Kontext der Widerstandskraft gegen ein niederträchtiges Regime, das nur beabsichtigt, den PalästinenserInnen das Leben zu verbittern.

Aus demselben Grund verstehe ich auch die Notwendigkeit von Interpretationen, die sich in meinen Ohren bizarr anhören: zum Beispiel, dass ein bestimmter Vers im Koran schon die Zerstörung der Siedlungen im Gazastreifen im Jahr 2005 voraussah, und dass ein anderer Vers das Ende der israelischen Besatzung in den nächsten Monaten voraussieht. Oder Verse, die die JüdInnen als besonders grauenhafte Wesen beschreiben. Abgesehen davon, dass ich diese fantastischen Interpretationen verachte, da sie Einfalt, Unverständnis und Entfremdung von der Realität fördern, verstehe ich mittlerweile deren psychologische Funktion.

Wegen meiner linken Weltanschauung verachte ich die politische und militärische Instrumentalisierung des persönlichen Glaubens der Menschen von Seiten der Hamas und des Dschihad al-Islami. Aber dieselbe Weltanschauung ermöglicht mir, die Notwendigkeit zu verstehen, die vielen um einen gemeinsamen Nenner herum zu sammeln. Dies gilt vor allem in einer Zeit von Zersplitterung, Spaltung und Segmentierung – Strategien, die der Kolonialist virtuos beherrscht –, und in einer Zeit, die vom Scheitern der nationalen und der sozialistischen Vision geprägt ist. Und was sollte naheliegender sein als der religiöse Glauben und seine bequeme Herberge – die Moschee?

Ich kann nicht eindeutig feststellen, ob diese Instrumentalisierung der Grund für die Verbreitung und die Verstärkung des islamischen Glaubens unter den PalästinenserInnen ist – ich kenne solche, die AtheistInnen waren und jetzt in die Moschee gehen und sogar nach Mekka pilgerten –, oder ob umgekehrt die Instrumentalisierung ein Nebenprodukt dieser Verstärkung des Glaubens ist. Ich kann nur akzeptieren, dass der Glaube eine nützliche, das seelische Gleichgewicht schützende Praxis ist für das Volk – und für jede und jeden Einzelnen –, in einer Realität, in der man unter dem brutalen und immer stärker werdenden Zynismus der israelischen Unterdrückung zerbrechen kann.

Bibel als 
Besitzurkunde

Von Moses zu Moses: Moses ben Zion Moskowitz wohnt in einer städtischen Siedlung namens Schilo, die inmitten von Olivenhainen, Weideland und Getreidefeldern eines Dutzend palästinensischer Dörfer errichtet wurde, nordöstlich von Ramallah. Er hatte Lust, Bauer zu werden, auf einem ebenen Landstück neben der Strasse. Aber, oh weh, PalästinenserInnen aus dem Dorf Krayot «belästigten» ihn gemäss eigener Aussage und beschwerten sich bei der Polizei, dass er in ihr Land eingedrungen sei. Deshalb verklagte er die Gemeinde Krayot bei einem israelischen Gericht.

Vor Gericht wurde er gefragt, ob er der Besitzer des Landes gewesen sei, als er es zu bebauen begann. Und unser Moses deutete in den Himmel hinauf und sagte: «Auch heute, der Besitzer: oben.» Er wurde wieder gefragt, ob er der Besitzer sei, und er antwortete: «Für mich persönlich ist der Besitzer der heilige Gott.» Dann variierte er ein bisschen und sagte: «Ich bin nicht persönlich der Besitzer, aber das jüdische Volk schon … Das Land gehört dem Volk Israel.» Als er gefragt wurde, wo die Besitzurkunden seien, zeigte er die Bibel. Das israelische Gericht anerkannte den heiligen Gott nicht als Autorität in Besitzfragen. Die Richterin befahl ihm, das Land zu verlassen. Aber nach zwei Jahren ist Moskowitz immer noch da, bebaut das Land, und das Militär verweigert den PalästinenserInnen den Zutritt zu den restlichen Feldern – um «Reibungen» zu verhindern.

Moses Moskowitz ist nicht der erste, der mit der Bibel als Besitzurkunde herumfuchtelt. Die Mehrheit der GründerInnen des Zionismus distanzierten sich von der Religiosität ihrer Eltern und waren sogar AtheistInnen. Aber man sagt über sie – und insbesondere über David Ben Gurion, den ersten Ministerpräsidenten –, dass sie zwar nicht an Gott glaubten, aber daran, dass er den JüdInnen das Land Palästina versprochen hätte. Und trotzdem: Bis zum Aufstieg eines antisemitischen Regimes, dessen Ziel die Ausrottung der Juden und Jüdinnen war, und bis zu dessen unglaublichem Erfolg, wie sich 1945 herausstellte, wählten die meisten jüdischen Menschen nicht die zionistische Lösung für ihre Nöte. Das heisst, sie dachten nicht daran, nach Palästina/Eretz Israel auszuwandern. Sie wählten Lösungen, wie sie sich ein Volk, das an die Diaspora gewöhnt ist, wählt: Auswanderung, Assimilation, wirtschaftliche Anpassung, kulturelle Autonomie und Teilnahme an politischen Bewegungen für allgemeine soziale Veränderungen. Es ist nicht weiter erstaunlich, dass die Popularität des Zionismus nach Auschwitz unter den Jüdinnen und Juden stieg, auch unter denen, die in andere Länder ausgewandert waren.

Dieser historische Kontext, zusammen mit den kolonialistischen Attributen des Zionismus – der im kolonialistischen Europa, für das «nicht-weisse» Völker minderwertig waren, entstand –, erklärt den Erfolg des Zionismus und die Gründung eines jüdischen Staats, Hand in Hand mit der Enteignung und der Vertreibung des indigenen palästinensischen Volkes. Nicht der Glaube der Nicht-an-Gott-Glaubenden, dass er ihnen das Land versprochen hätte, ist der Grund für ihren Erfolg. Sondern die Vertreibung der Jüdinnen und Juden aus der Diaspora und die Aberkennung ihres Rechts auf Leben. Um einen Staat zu errichten, brauchte der Zionismus erstens eine höhere Zahl von EinwandererInnen, zweitens Geld und drittens internationale Unterstützung in einer Zeit, in der die alte kolonialistische Ordnung zusammenbrach und durch den Schirm der neuen imperialistischen Macht ersetzt wurde. Alle drei Elemente erhielt der Zionismus nach 1945.

Gab es jemals eine Chance, dass Israel in den anerkannten Grenzen des 4. Juni 1967 ein Staat aller seiner BürgerInnen würde – nicht nur der Jüdinnen und Juden? Und dass er aus der jüdischen Tradition eine Ausrichtung im Sinn des universalen Humanismus ableiten könnte, die in ihr auch vorhanden ist? In aller Kürze wollen wir es so sagen: Im Oslo-Abkommen von 1993 reichten die PalästinenserInnen den Israelis die Hand und waren für einen Kompromiss bereit, der für sie sehr schmerzhaft war, aber beiden Völkern eine Zukunft ohne Blutvergiessen geben sollte. Die PalästinenserInnen, die israelische StaatsbürgerInnen sind, unterstützten das Abkommen, ein grosser Teil der jüdischen säkularen Bevölkerung umarmte es. Die Welt atmete erleichtert auf. Aber unter dem Deckmantel dieses Abkommens tat und tut Israel alles, um die Errichtung eines palästinensischen Staates an der Seite des Staates Israel zu verhindern. Sie formt eine geopolitische Realität von überfüllten palästinensischen Bantustans, die jederzeit voneinander abgetrennt werden können, ohne Landreserven, ohne Bewegungsfreiheit und deshalb ohne politische und wirtschaftliche Freiheit. Und so insistiert Israel darauf, der Welt zu beweisen, dass es tatsächlich eine kolonialistische SiedlerInnengesellschaft ist.

Religiosität als Brandbeschleuniger

Je mehr Israel gegen das internationale Recht verstösst, desto mehr muss es die konsensuale Basis der Gründung dieses Staates verleugnen, der seine Legitimität und die Legitimität der Grenzen von vor 1967 von der Uno erhielt. Und so muss es sich immer mehr auf die göttliche Verheissung stützen. Dazu dienen die besonderen Botinnen und Boten dieses Gottes, sie sind immer zahlreicher und bewaffnet: die nationalreligiösen SiedlerInnen, die den Schabbat und die Gebote einhalten und jetzt auch zunehmend die Verwaltung, das Militär, den Geheimdienst und die Medien beherrschen. Immer weniger und schwächer werden die nicht-nationalistischen Religiösen, die es wagen, sich aus einer moralischen Haltung heraus öffentlich von den SiedlerInnen zu distanzieren.

Uri Ariel ist Landwirtschaftsminister. Im Januar 2018, als der Regen nicht kommen wollte, ging er zur Klagemauer, um für Regen zu beten. Als es nach ein paar Tagen zu regnen begann, behauptete er, dass dies das Resultat seines Gebets sei. Ein gläubiger Jude. Ein Siedler. Ariel ist auch einer der bekanntesten Menschen, die verlangen, dass Jüdinnen und Juden auf den Tempelberg pilgern können, wo sich heute der Felsendom befindet. Jüdisch-­religiöse Instanzen verbieten dies. «Wir beten um die Errichtung des Tempels», sagte Ariel im Juli 2018 in die Kameras, die ihn dabei filmten, wie er zusammen mit einer grossen Gruppe von Nationalreligiösen, begleitet von Soldaten, den Tempelberg betrat. Die Errichtung des Tempels würde die Zerstörung des Felsendoms bedeuten, der einer Milliarde MuslimInnen heilig ist.

Ariel hat bewiesen, dass er nicht nur träumt und betet, sondern auch auf lange Sicht plant. Ende der siebziger Jahre, als er einer der Führer der SiedlerInnenbewegung «Gusch Emunim» war, formulierte er einen dreiteiligen Plan, der sich auf Ostjerusalem konzentrierte, also auf das Herz der Westbank, das Herz des imaginären palästinensischen Staates: Vertreibung der BeduinInnen, eine Verbindung der jüdischen Siedlungen von der Mittelmeerküste bis ans Tote Meer und Einschränkung der palästinensischen Bebauung. Er reichte den Plan bei den zuständigen militärischen Gremien ein. Und die Verwirklichung dieses Planes wurde parallel zum Oslo-Abkommen beschleunigt, vor allem in den letzten zehn Jahren.

Die jüdische Religiosität in Israel heute ist etwas ganz Anderes als nur einfach der persönliche Glaube an Gott. Sie ist das Benzin, das nun schon seit Jahrzehnten die israelische Maschine des Raubes und der Vertreibung antreibt und die Gefahr eines interreligiösen Krieges nährt – mit einem Resultat an Zerstörung, das schwer auszudenken ist.

  1. Übersetzung des für die Neuen Wege verfassten Beitrages aus dem Hebräischen: Uri Shani

  • Amira Hass,

    *1956, ist in Jerusalem geboren, ihre ­Eltern waren Holocaust-Überlebende und Mitglieder der kommunistischen Partei. Sie studierte Geschichte. Seit 1989 ist sie Korrespondentin für die palästinensischen Gebiete der renommierten israelischen Tageszeitung Haaretz. Sie lebte mehrere Jahre in Gaza, ­heute in Ramallah. Für ihre journalistische Arbeit hat sie zahlreiche internationale Auszeichnungen erhalten.