Zwischen-Schrittchen EU-Beitritt

Matthias Hui, 18. April 2021
Neue Wege 4.21

Der Countdown läuft. Für und gegen das Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU werden derzeit reihenweise Leitartikel verfasst (zum Beispiel in der NZZ vom 6.3.21: Ein Übungsabbruch ist überfällig) und Koalitionen geschmiedet («progresuisse», «autonomiesuisse» oder «Kompass/Europa»). Die jahre­lange, emotionale Debatte ist ausgefranst. Kaum jemand weiss, was überhaupt noch zur Diskussion steht. Der Bundesrat regiert nicht, sondern reicht die heisse Kartoffel immer gleich weiter.

Die Linke ist gespalten. Die Gewerkschaften pochen zu Recht auf Lohnschutz, andere wollen, mehr als zu Recht, endlich die Insel-Schweiz und ewige Krisengewinnlerin hinter sich lassen. Die Mitte und die Wirtschaft sind gespalten; alle stellen wie wild Kosten-/Nutzen-Rechnungen an, aber diese widersprechen sich. Nur die SVP setzt auf ihr unveränderliches Nein. Allerdings würde ihr ein Sieg an der Urne nicht allzu viel bringen, ein Projekt hat die Rechte heute nicht.

Die Schweiz ist vom EU-Rahmen umgeben, geografisch, ökonomisch, kulturell. Sie profitiert von der Union, die ihrer Exportwirtschaft die zentralen Märkte öffnet, ihre Universitäten mit den europäischen vernetzt, ihr Arbeitskräfte liefert und Geflüchtete fernhält. Unser Land ist in die EU integriert. Alles andere ist Mythos.

Dass die Debatte um das Rahmenabkommen im Sand zu verlaufen droht, hat damit zu tun, dass die eigentliche Frage gar nicht gestellt wird: Nach welchen Kriterien gestaltet das Land sein Verhältnis zur EU? Die Durchsetzung nationaler Interessen (sprich: égoïsme sacré und Switzerland first) sind aus einer kritischen Perspektive kein Massstab. Erstens kommt der Profit einer solchen Milchbüchleinrechnung keineswegs allen Menschen und Interessen im Land zugute. Und zweitens leben wir im Jahr 2021.

Globale Coronapandemie. Globale Klimakatastrophe. Globale Migrationskrise. Allerspätestens heute können wir auch dieses Land nur noch global denken. Die Schweiz ist längst das Paradebeispiel für Globalisierung. (Sie war es auch im Kolonialismus, in den Weltkriegen, im Kalten Krieg oder mit dem Gastarbeiterregime viel stärker, als es je ihre Selbstbeschreibung war. Aber das ist eine andere Geschichte.) Menschen kommen und gehen, reisen, verlieben sich, flüchten, geschäften. Kaum eine Volkswirtschaft ist global so verstrickt wie der hiesige Finanz-, Rohstoff- oder Pharmakapitalismus.

Wie trägt die Schweiz ihren Teil zu einer gerechteren, überlebensfähigen Welt bei? Hier liegt für mich das entscheidende Kriterium zur Beantwortung – auch – der Europafrage. Die EU steht «zwischen Reform und Zerfall» (Denknetz-Jahrbuch). Und wir wollen da wirklich nur zuschauen? «Die EU ist gerade eine ziemlich interessante Baustelle», sagt Kaspar Surber in der WOZ. Ich schlage vor, dass wir das Übergwändli anziehen und aufs Gerüst steigen.

Wir müssten dabei sein, wenn es darum geht, ob die EU weiter auf Marktradikalismus mit gemeinsamer Währung ohne gemeinsame Sozialpolitik setzt. Oder ob sie – wie jetzt mit dem riesigen Corona-Wiederaufbau­fonds – zaghafte Schritte in Richtung klimagerechter Umbau der Wirtschaft und gemeinsame Finanz­politik macht. Wir müssten von innen Widerstand leisten gegen die Festung Europa, die mit ihrer Agentur Frontex Menschen ins Meer zurückstösst und in den Lagern an ihren Aussengrenzen Geflüchtete zur Abschreckung jahrelang hinhält. Und wir müssten mithelfen, die Personenfreizügigkeit als fundamentale Errungenschaft zu retten und global zu erweitern. Wir müssten dazu beitragen, die Menschenrechte in der EU zu stärken, in Polen oder in Ungarn, für den neuen Magnitsky Act, ein menschenrechtliches Sanktionenregime, oder für ein Lieferkettengesetz, das unsere Konzernverantwortungsinitiative überholt. Wir sollten uns gleichzeitig gegen Kampfflugzeuge in der Schweiz und gegen die Militarisierung der EU starkmachen – statt die eine Aufrüstung gegen die andere ausspielen zu lassen. Selbstverständlich alles im Verbund mit sozialen Bewegungen, Parteien, Menschenrechtsorganisationen, Kirchen, die allerdings ihre europäische Vernetzung auch dringend verstärken müssen. Wir sollten – durchaus mit unseren einschlägigen Erfahrungen – für eine regionale, föderale, demokratische, solidarische, sich erweiternde EU einstehen. Zusammen mit Schott*innen und Katalan*innen, mit Kosovar*innen oder Serb*innen.

Die Schweiz und vor allem die Welt können nur gewinnen, wenn wir den helvetischen Überlegenheitsdünkel fahren lassen. Ich sehe weltverträgliche Politik jenseits von Nationalegoismus in der Schweiz nur mit einem EU-Beitritt. Ob nun vor diesem dringenden Zwischenschrittchen noch das Rahmenabkommen unterzeichnet wird oder nicht.

  • Matthias Hui,

    *1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation humanrights.ch.