Das grosse hölzerne Portal mit den fünf Glocken. Busparkplätze. Grosse Zelte. Und Scharen von Menschen, Jugendlichen, die auf einen unscheinbaren Flachbau zuströmen, unter lautem Glockengeläut, und sich drinnen auf Holzbänkchen auf den beigebraunen Filzboden setzen. Mittagsgebet in Taizé.
Die ökumenische Ordensgemeinschaft, gegründet während des Zweiten Weltkrieges, auf einem unscheinbaren Hügel im französischen Burgund – schon in den 1970er Jahren war dieser Ort ein Phänomen: Tausende Jugendliche kamen und kommen bis heute hierher zu Jugendtreffen, um einzustimmen in die Wiederholungen der einfachen Gebetsgesänge in der Versöhnungskirche, um die etwa zehn Minuten Stille während jeder Gebetszeit zu erfahren oder auch auszuhalten, sie stehen Schlange, um sich die sprichwörtlich gewordenen einfachen Mahlzeiten in Plastikgeschirr abzuholen und um in Workshops und Austauschrunden ihre Sinn- und Wahrheitsfragen im Licht christlicher Überlieferung zu betrachten. Und sicherlich auch, um ein Gruppengefühl zu erleben, zu reisen ohne die Eltern, unter sich zu sein. Was die Strahlkraft dieses Ortes genau ausmacht, bleibt ein Stück weit ein Rätsel. Aber kaum ein Ort ist auch ausserhalb christlicher Kontexte als prägendes spirituelles Zentrum so bekannt wie Taizé. In so vielen Biografien spielt dieser Ort, diese Gemeinschaft eine wesentliche Rolle.
Auch in meiner. Und nun bin ich nach fast zwanzig Jahren wieder hier. Ein bisschen ist es, als wäre hier die Zeit stehen geblieben. Wenig hat sich verändert: Die Zelte sind stattlicher und wetterfester geworden, die Beschilderung professioneller, die Parkplätze mehr, das Gelände noch grösser. Aber doch, natürlich, eine Veränderung ist markant: Frère Roger, der Gründer der Brüdergemeinschaft, die den Ort trägt und prägt, hat im Jahr 2005 während eines Abendgebets einen gewaltsamen Tod erlitten. Eine geistig verwirrte Frau, so heisst es in der Presse, habe ihn mit einem Messer erstochen. Ein Schrei sei durch die Kirche gehallt, und die Brüdergemeinschaft habe, um Panik zu verhindern, das Abendgebet fortgesetzt. Die Zeit titelte: «Mord, dann Lied 23». Lied 23 – das berühmte Laudate omnes gentes, laudate dominum: «Lobt, alle Völker, lobt den Herrn.» Oft habe ich dieses Lied gesungen und an Frère Roger gedacht, den ich als Jugendliche in den Gebetszeiten und Gesprächsrunden als wachen, gütigen und einfachen, durchaus auch charismatischen Mann erlebt habe. Ein Friedensstifter. Ein Versöhner. In seinem Leben findet sich auch jene Spur, die mich seit jeher fasziniert: Mystik und Widerstand als Einheit gelebt. Wie seine Gemeinschaft mit seinem Tod umging, beeindruckt mich ebenfalls: ruhig, bescheiden und voller Versöhnung.
Doch noch etwas ist anders als damals, seit meinen letzten Besuchen in Taizé. 2019 trat der Prior der Brüdergemeinschaft an die Öffentlichkeit mit einem offenen Brief: Auch in Taizé haben sich Brüder sexuell und spirituell übergriffig und missbräuchlich verhalten. Zunächst wurden Fälle öffentlich, die in den 1950er bis 1980er Jahren geschahen, die Täter sind inzwischen verstorben, haben die Gemeinschaft verlassen oder leben ausserhalb. Daraufhin meldeten sich weitere Betroffene, Überlebende. Im Oktober 2019 wandte sich schliesslich eine Frau an den Prior und vertraute ihm an, dass ein Bruder sie vor Jahren in ein Abhängigkeitsverhältnis gebracht und bis Mitte 2019 spirituell, psychologisch und sexuell missbraucht habe. Der mutmassliche Täter wurde kurz darauf in Untersuchungshaft genommen und einige Monate später unter Auflagen wieder entlassen – der Prozess steht noch aus.
Ich hatte, bevor ich nun wieder nach Taizé kam, am Rande von den Missbrauchsfällen gehört, mich aber nicht näher damit befasst. Nun, wieder hier, beschäftigen sie mich sehr. Mein Vertrauen in diesen so besonderen Ort hat Risse bekommen: Wie konnte an diesem spirituell «reichen» Ort so etwas unbemerkt getan werden? Wie kann ich diesen Ort noch aufsuchen, seine geistlichen und ethischen Werte ernst nehmen und mich hier nähren lassen? Die Freude und Leichtigkeit in den Liedern, die Gegenwart von Kindern im Altarraum, die Anekdoten des Priors in einer Gesprächsrunde – sie sind kontaminiert, sind mir bitter geworden. Ich traue ihnen nicht mehr. Während einer der Gebetszeiten überkommt mich eine tiefe Trauer, das Gefühl, eine geistliche Heimat verloren zu haben.
Auf der Homepage von Taizé finde ich immerhin klare und offene Worte zu den Taten und dem Umgang der Gemeinschaft damit. Mit ihrer kritischen Selbstreflexion und ihrer Parteilichkeit für Überlebende sind sie dem Gros kirchlichen Umgangs mit dem Thema weit voraus. Und ich bin froh, an einem Workshop teilnehmen zu können, in dem ein Bruder der Gemeinschaft über das Thema informiert und auf Fragen der Anwesenden Antworten gibt. Es sind Antworten, aus denen eine grosse Betroffenheit spricht, eine Empathie mit all jenen Menschen, die im Kontext der Kirchen Machtmissbrauch erlebt haben. Und es sind Antworten, die dem entsprechen, was die Brüder nun versuchen: ein Bemühen um Wahrhaftigkeit. Mit Bildungs- und Sensibilisierungsarbeit durch externe Expert*innen, mit einem Schutzkonzept, mit transparenter Kommunikation und insbesondere einer Enttabuisierung des Themas. Und mit der Suche nach einer traumasensibleren theologischen Sprache, die zurückschreckt vor allzu leichten Zugriffen auf Vokabeln wie «Vergebung» und «Trost».
Natürlich, meine Fragen bleiben: Warum ging die Gemeinschaft verhältnismässig spät an die Öffentlichkeit? Haben die Brüder nichts gemerkt von den Grenzüberschreitungen ihrer Mitbrüder? Warum hat niemand eingegriffen, Verdachtsmomente ernst genommen, missbrauchsbegünstigende Strukturen hinterfragt?
Ich reise mit zwiespältigen Gefühlen ab. Ja, ich werde wiederkommen und in den Gebetsrhythmus der Gemeinschaft einstimmen und staunen über die unzähligen Jugendlichen, die sich hier begeistern lassen. Aber ich bleibe auch vorsichtig, fragend. Und denke weiter darüber nach, wie eine postpatriarchale Theologie und Glaubenspraxis aussehen müsste, eine Theologie «nach dem Missbrauchsskandal». Eine, die zur spirituellen und auch sexuellen Autonomie ermutigt und befähigt. Denn: Auch diesmal zu Lied 23 überzugehen, ist keine Option.●
*1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.