Zeit, so könnte man meinen, haben wir alle. Gleich viel. Exakt 24 Stunden am Tag. Und wie lange wir leben, das wissen wir nicht. Trotzdem scheint die Zeit ungerecht verteilt zu sein. Schon in Michael Endes unendlicher Geschichte wurde thematisiert, wie die Reichen und Mächtigen anderen ihre Zeit stehlen. Als Jugendliche habe ich mich immer gefragt, wohin diese gestohlene Zeit eigentlich verschwindet. Wie können die grauen Männer die Zeit der anderen rauben, wenn doch jeder Tag mit 24 Stunden von Neuem beginnt?
Die Antwort fand ich viel später in Simone de Beauvoirs posthum veröffentlichtem Roman Die Unzertrennlichen. Dessen Protagonistin, ein Alter Ego von Beauvoirs jung verstorbener Jugendfreundin Zaza, wird von ihrer streng katholischen Mutter permanent beschäftigt gehalten, sodass ihr kaum eine freie Minute bleibt für das, was sie selbst interessiert. Es ist die Geschichte einer klugen und originellen jungen Frau, der es verwehrt wird, eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln, und die daran zugrunde geht.
Alle Menschen haben 24 Stunden am Tag Zeit. Aber für viele ist diese Zeit nicht ihre eigene. Sie ist angefüllt mit Aufgaben und Erwartungen, die sie nicht zurückweisen können. Vor allem Frauen geht es so.
Die Publizistin Teresa Bücker hat mit ihrem Buch Alle_Zeit eine Debatte angestossen, indem sie die Verteilung zeitlicher Ressourcen als eine der grossen Ungerechtigkeitsachsen von heute identifiziert. Natürlich verlaufen diese Achsen nicht nur zwischen Frauen und Männern, sondern auch entlang anderer Unterschiede. Aber an der Geschlechterdifferenz lässt sich besonders gut sehen, wie die Dynamik funktioniert.
Männer haben trotz der relativ vielen Lohnarbeit, die sie ausüben, mehr Freizeit als Frauen, schreibt Bücker, denn: «Grob gesagt haben Mädchen und Frauen stärker verinnerlicht, dass ihre Zeit gar nicht ihre eigene ist. Deswegen gibt es auch diesen fürchterlichen Begriff ‹Me-Time›, der suggeriert: Ich darf mir eine Stunde pro Tag reservieren, um etwas für mich zu tun, aber die restlichen dreiundzwanzig Stunden gehören anderen Menschen. Wer männlich sozialisiert wird, lernt eher: Meine Zeit gehört mir, und vielleicht gebe ich mal was ab.»
Natürlich kann niemand vollständig über die eigenen 24 Stunden am Tag verfügen. Menschen müssen schlafen, ihren Lebensunterhalt sichern, ihre Umgebung wohnlich herrichten, sich um körperliche und seelische Bedürfnisse kümmern. Doch das heisst nicht, dass es nicht mehr die eigene Zeit ist, die mit solchen Dingen verbracht wird. Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen den Notwendigkeiten, die daraus resultieren, dass wir körperliche Wesen mit Bedürfnissen sind, und der Unterwerfung unter andere, die uns vorschreiben können, was wir zu tun haben. Der Kapitalismus mag nicht perfekt sein, aber er ist nicht dasselbe wie Sklaverei.
Patriarchat und Sklaverei entstanden etwa zur selben Zeit. Und beide hatten ein ähnliches Ziel, nämlich die Arbeitskraft anderer Menschen zu nutzen, sich deren Lebenszeit anzueignen. Die englische Journalistin Angela Saini gibt in ihrem Buch Die Patriarchen den Stand der Forschung dazu wieder, wie sich diese Ungleichheitsstrukturen in der Epoche zwischen 10 000 und 3000 vor Christus herausbildeten. Sklav*innen wurde ihre Zeit sehr direkt geraubt – ihnen wurde rundheraus vorgeschrieben, was sie zu tun und zu lassen haben. Der Zeitraub von Menschen mit Uterus vollzog sich indirekt über die symbolische Ordnung: Sie wurden in eine eigene Kategorie namens «Frauen» gesteckt und dazu genötigt, in immer schnelleren Frequenzen Kinder zu gebären, die sie dann versorgen mussten.
Sklaverei, also die direkte Verfügung mächtiger Menschen über die Zeit anderer, ist bis heute nicht von diesem Planeten verschwunden, sondern ein bleibender Aspekt ungerechter Herrschaftsverhältnisse weltweit. Doch immerhin sind Sklaverei und Zwangsarbeit als Unrecht erkannt, auch wenn daraus oft keine konsequente Bekämpfung folgt. Die Verfügung über die Zeit von Frauen geschieht hingegen subtiler. Ihr liegt ein jahrtausendelanger Prozess der Ideologisierung und Naturalisierung zugrunde.
Die den Frauen zugeschriebenen Care-Verantwortlichkeiten haben sich im Lauf der Zeit erheblich ausgeweitet, sowohl was die Tätigkeiten betrifft als auch in Hinblick auf die Kategorie «Frau», die sich als soziales Geschlecht von der tatsächlichen Gebärfähigkeit gelöst hat. «Frauisierte» Menschen sind nicht nur für die Versorgung eigener Kinder zuständig, sondern auch für die von alten und kranken Menschen, für die Sauberkeit von Gebäuden und Wäsche, die Zubereitung von Mahlzeiten und den Zusammenhalt der Gemeinschaft. Die Sozialphilosophin Kate Manne hat in ihrem Buch Down Girl. Die Logik der Misogynie gezeigt, wie tief verwurzelt bis heute die Vorstellung ist, dass Frauen der Gesellschaft etwas schulden. Sie müssen ständig Erwartungen erfüllen, sonst werden sie – mal offen, mal subtil – bestraft.
Zum Glück ist es Frauen seit der Emanzipation bis zu einem gewissen Grad möglich, diesen Zuschreibungen individuell zu entkommen beziehungsweise sich zu verweigern. Es erfordert allerdings ein dickes Fell, Kritik und vorwurfsvolle Blicke an sich abprallen zu lassen. Das viel grössere Problem ist aber, dass nun unklar ist, wer die anfallende Arbeit erledigt. Vor allem in Krisenzeiten verlassen sich auch die emanzipiertesten und gleichstellungspolitisch fortschrittlichsten Gesellschaften darauf, dass die Frauen sich schon kümmern werden, was zuletzt während der Coronapandemie frappierend sichtbar geworden ist. Aber auch im normalen Alltag bleiben unverhältnismässig viele Notwendigkeiten immer wieder an Frauen hängen, weil es schlichtweg keine Alternative gibt: Wenn ich mich nicht um meine pflegebedürftige Tante im Heim kümmere, tut es eben auch niemand sonst. Die Schweizer Autorin Annette Hug hat das sehr treffend als Ökonomie der Erpressung bezeichnet.
Aber trifft dieses Dilemma nicht auch Männer? Sind nicht auch sie damit konfrontiert, dass notwendige Arbeiten unerledigt bleiben und sie aus Verantwortungsgefühl dann einspringen müssen, auch wenn sie eigentlich gar keine Zeit haben oder ihre Zeit lieber mit etwas anderem verbringen würden? Ja, das kommt vor. Strukturell – und damit auch statistisch – ist es aber anders. In einem Internetforum spottete einmal ein Blogger namens «Franklin» über den Unmut von Feministinnen über das geschlechtsspezifische Ungleichgewicht bei der unbezahlten Fürsorgearbeit, indem er schrieb: «Frauen müssen sich also um Kinder, Alte und Haushalt kümmern (die Haustiere haben sie dabei noch vergessen). Wer sagt eigentlich, dass sie müssen? Wer zwingt sie dazu? Das Patriarchat, verkörpert durch den Herrn und Gebieter daheim?»
Ganz offensichtlich versteht Franklin das Müssen in erster Linie als äusseren Zwang und erkennt diesbezüglich eine geschlechtsspezifische Differenz: Viele Frauen empfinden Notwendigkeiten, die ihnen Pflichten auferlegen, auch wenn kein äusserer Zwang existiert. Eine Mutter «muss» sich nicht deshalb um ihr Kind kümmern, weil irgendein Dritter sie dazu zwingt, sondern weil die innere Logik der Situation dies erforderlich macht. Jungen und Männer hingegen lernen von klein auf, dass sie bestimmte Dinge nicht tun müssen, weil jemand anderes dafür verantwortlich ist. Mit der Folge, dass sie gewisse Notwendigkeiten nicht «sehen». Wegsehen muss genauso erlernt werden wie Hinsehen.
Aber woher kommt diese Differenz und warum ist sie nach fünfzig Jahren Emanzipation und Gleichstellung zwar verwischt, aber noch lange nicht verschwunden? Ein Aspekt könnte der Bedeutungsverlust der christlichen Traditionen sein. Franklins Vorstellung, dass der einzelne (männliche) Mensch frei über seine eigene Zeit verfügen kann, ist relativ neu, eine der Aufklärung und dem Zeitalter der bürgerlichen Revolutionen geschuldete Idee. Die 1904 formulierte These des Soziologen Max Weber, dass insbesondere die protestantische Arbeitsmoral für die Entstehung des Kapitalismus massgeblich gewesen sei, ist zwar so pauschal nicht haltbar, richtig ist aber, dass lange Zeit auch das Leben von Männern nicht einfach deren individueller Gestaltung überlassen war.
Ein guter Christ, schrieb etwa August Hermann Francke, der theologische Gründungsvater des Pietismus, möge «sein ganzes Leben Gott zu Ehren und seinem Nächsten zum Dienst und Nutzen führen». Die 1698 in Halle gegründeten und heute noch existierenden Franckeschen Stiftungen bildeten als gemeinwohlorientierte kulturelle, wissenschaftliche und pädagogische Institution einen klaren Gegenpol zu individuellem Wohlstandsstreben. Vor der Aufklärung gehörte auch die Zeit der Männer nicht unbedingt ihnen selbst. Nutzloses Nichtstun und Zeitverschwendung beider Geschlechter galten als schädlich für die Gemeinschaft und als Sünde: Faule Menschen «stehlen dem lieben Gott die Zeit».
Dieser christliche Imperativ des «Tätig-sein-Müssens für das Allgemeinwohl» ist heute weitgehend einer neoliberalen Maxime gewichen: «Ich mache nur, was sich für mich rechnet.» Trotzdem prägt die Idee, dass «fromme» Menschen ihre Zeit dem Nutzen der Welt zur Verfügung stellen müssen, europäische Gesellschaften nach wie vor. Die Philosophin Dorothee Markert hat in ihrem Buch Lebenslänglich besser eine direkte Linie von pietistischen Traditionen zum moralisch durchtränkten politischen Aktivismus späterer Zeiten gezogen. Ihr ist aufgefallen, dass es grosse Parallelen zwischen pietistischen Traditionen und sozialistischen Bewegungen gibt. Beide ordnen das persönliche Vergnügen dem Gemeinwohl unter, rufen zu Verzicht und Einsatz für andere auf.
Dieser Umweg über den Sozialismus habe es möglich gemacht, dass sich tiefe Überzeugungen, die ihre Wurzeln im Pietismus haben, heute vor allem in linken und aktivistischen Milieus erhalten haben, schreibt Markert – schliesslich geht es auch ihnen darum, die Welt immer besser zu machen und dabei selbst mit gutem Beispiel voranzugehen. Nicht die berufliche Anstrengung fürs eigene Fortkommen, sondern das Engagement für eine bessere Welt steht für sie unter einem hohen moralischen Imperativ. Die Dringlichkeit der aktuellen politischen Probleme, vor allem der kurze Zeithorizont, der bei der Bekämpfung des Klimanotstands bleibt, befördert das alles noch: Ist es denn nicht objektiv verwerflich, faul auf dem Sofa zu liegen, während ringsherum die Welt brennt?
Vielleicht ja nicht. Denn Faulheit und Weltretten vertragen sich heute besser als früher. Aktivitäten jeder Art verbrauchen schliesslich CO2, wie eine Grafik der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung zeigt: Egal ob Reisen, Konsumieren oder Arbeiten – nichts ist so umweltfreundlich wie einfach auf dem Sofa zu bleiben. Statt schneller müssten wir eigentlich mit allem langsamer machen: weniger herstellen, weniger konsumieren, weniger reisen. Die Nachhaltigkeitsforscherin Maja Hoffmann von der Wirtschaftsuniversität Wien hat berechnet, dass wir, um innerhalb des verbleibenden CO2-Budgets zu bleiben, maximal sechs Stunden arbeiten dürfen – pro Woche.
Die jüngere Generation verhält sich bereits entsprechend. In China macht der Begriff Tang Ping («sich hinlegende Verweigerung») die Runde. Er wurde zum Motto der Generation der zwischen 1995 und 2010 Geborenen, von denen immer mehr versuchen, durch Konsumverzicht aus der harten Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt auszusteigen – wer wenig braucht, muss auch wenig arbeiten. In Europa und den USA sind ähnliche Tendenzen zu beobachten. Ökonomen haben das Phänomen als «The Big Quit» bezeichnet: Junge Arbeitskräfte kündigen Jobs in Berufen, die anstrengend sind und wenig einbringen, sei es in Restaurants, als Flugpersonal oder in der Krankenpflege.
Der Rückzug der jungen Generation aus dem Hamsterrad der Betriebsamkeit ist auch eine Reaktion darauf, dass der traditionelle Kapitalismus seine Versprechen immer weniger einhält. Weder bietet er den Leistungsbereiten faire Aufstiegschancen, noch versorgt er die Menschen verlässlich mit dem, was sie brauchen. Notwendige Dienstleistungen wie Krankenpflege, Instandhaltung öffentlicher Flächen und eine gute Schulbildung für alle Kinder werden nicht ausreichend erbracht. Wenn es sich betriebswirtschaftlich «nicht mehr rechnet», wird auch an der Substanz gespart. Der Markt regelt vieles eben nur schlecht.
Auf der anderen Seite bietet die Karriereleiter selbst denen, die sie erfolgreich erklimmen, nicht unbedingt Sinnerfüllung. Dafür gibt es viel zu viele «Bullshit-Jobs», wie es der Anthropologe David Graeber genannt hat: bürokratische oder statusbezogene Arbeitsplätze, die nicht dazu beitragen, der Welt etwas Gutes zu tun. Auch Bullshit-Jobs stehlen Menschen die Zeit, auch wenn sie mit Geld und Ansehen belohnt werden. Trotzdem kann sich letzten Endes nur eine Minderheit dem Imperativ zum Fleiss entziehen, und viele arbeiten nicht langsamer und weniger, sondern immer schneller und mehr. Einer aktuellen Studie des deutschen Bundesinstituts für Berufsbildung zufolge ist in Deutschland ein Zehntel aller Beschäftigten «arbeitssüchtig», was sich in exzessiv langen Arbeitszeiten und übergrossem Arbeitspensum äussert. Das Phänomen hat inzwischen sogar einen Namen: Von «Burn-on» spricht man in den Fällen, wo beruflicher Stress nicht – wie beim «Burn-out» – in einen Zusammenbruch führt, sondern über lange Strecken aufrechterhalten werden kann.
Vielleicht betrachten wir all dies auch grundlegend falsch. Die Philosophin Eva von Redecker schlägt in ihrem Buch Bleibefreiheit vor, Freiheit nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich zu verstehen. Also nicht nur die Möglichkeit des Weggehens und Veränderns als Freiheit zu verstehen, sondern auch die Möglichkeit des Bleibens und Erhaltens. Freiheit, so könnte man ihre These anschaulich machen, besteht nicht darin, Raumschiffe zu bauen, um im Fall der Erdüberhitzung zu anderen Planeten aufbrechen zu können, sondern darin, auch in dreissig, hundert oder dreihundert Jahren noch auf der Erde leben zu können. Freiheit zeigt sich nicht darin, dass ich jederzeit spontan wählen kann, ob ich in New York, Hongkong oder Kuala Lumpur leben möchte, sondern dass ich in meiner vertrauten Wohnung im Frankfurter Ostend bleiben kann, so lange es mir gefällt, ohne Angst vor steigenden Mietpreisen oder profitorientierten Immobilienhaien haben zu müssen.
Freiheit heisst vor allem auch, genug Zeit zu haben. Auf dem Sofa liegen zu bleiben, bis man wirklich ausgeruht ist und bereit für neue Abenteuer. Freiheit heisst auch: sich nicht mehr Arbeit zu machen als nötig. Anstelle des Begriffs der Reproduktion bringt von Redecker den Begriff «Regeneration» ins Spiel. Denn, so ihr Hinweis: Ein Grossteil der Arbeit, die wir tun müssen, resultiert daraus, dass wir die natürlichen Ressourcen der Erde schneller verbraucht haben, als sie sich regenerieren können. Würden wir die menschliche Existenz in die Zyklen der Natur einpassen, gäbe es viel weniger zu tun. Wir könnten abwarten, bis Früchte reif sind und Wunden heilen. Unsere Arbeit würde darin bestehen, diese Zyklen zu erleichtern, zu unterstützen, gegen Unwägbarkeiten abzusichern – und nicht darin, sie auszutricksen oder dagegenzuarbeiten.
Regeneration ist in der Tat ein sehr passender Begriff, vor allem für Care-Tätigkeiten, wenn wir darunter nicht nur bestimmte Branchen verstehen – Erziehung, Pflege, Reinigung –, sondern eine Haltung, mit der wir die Zeit, die wir auf dieser Erde haben, verbringen. Care-Verantwortlichkeiten wahrzunehmen bedeutet gerade nicht, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit zu schaffen, sondern Zeit zu haben, oder besser: anderen Menschen Zeit zu schenken. Nur nicht so, wie die Protagonistin aus Simone de Beauvoirs Roman, unter Zwang und bei Aufgabe der eigenen Persönlichkeit, sondern in voller Freiheit und in dem Mass, wie man es möchte und erübrigen kann.
Zeit ist das vielleicht entscheidende Kriterium für gutes Leben, wenn wir von gelingenden Beziehungen her denken. Care heisst dabei sein, zuschauen, begleiten. Dabei sein, wenn ein Kind Hausaufgaben macht, um im Bedarfsfall helfen zu können. Am Herd zu stehen und zuzuschauen, wie die Zwiebeln ganz langsam vor sich hin schmurgeln, ohne zu verbrennen, mindestens zwanzig Minuten, besser dreissig, denn nur so werden sie schmackhaft. Care heisst, mit einem gehbehinderten Menschen oder einem kleinen Kind für zweihundert Meter eine halbe Stunde zu brauchen. Sicher, wir müssen auch einkaufen, Toiletten säubern, die Wohnung fegen. Aber die Perspektive wendet sich: Es geht nicht darum, eine Arbeit zu erledigen und nebenbei noch Zeit für ein kurzes Gespräch und ein bisschen Händchenhalten zu erübrigen. Sondern das Zentrale ist, für eine andere Person Zeit zu haben. Gerne auch so viel Zeit, dass sich dabei noch das eine oder andere erledigen lässt.
Von Regeneration statt von Reproduktion auszugehen bedeutet, die eigene Rolle darin zu sehen, den Lauf der Zeit unterstützend zu begleiten. Doch für ein zyklisches Verständnis von Regeneration hat die gradlinige Fortschrittsphilosophie, von der die abendländische Kultur geprägt ist, kein Sensorium. Wir haben die Kohle, die über Millionen von Jahren entstanden ist, innerhalb von hundert Jahren verpulvert und dabei die Erdatmosphäre nachhaltig geschädigt. Wir waren zu schnell, zu ungeduldig. Und nun bezahlen wir den Preis: Je mehr sich die Erdtemperatur erhöht, desto mehr Mühe und Arbeit wird es machen, die Bedingungen für menschliches Überleben aufrechtzuerhalten.
Wir alle haben dieselbe Zeit, 24 Stunden am Tag. Was wir damit machen und wer darüber verfügen darf, das ist eine der wichtigsten politischen Fragen von heute. ◷
Literatur
Teresa Bücker: Alle_Zeit. Berlin 2022.
Dorothee Markert: Lebenslänglich besser. Norderstedt 2010.
Eva von Redecker: Bleibefreiheit. Frankfurt am Main 2023.
Angela Saini: Die Patriarchen. München 2023.
*1964, ist promovierte Politikwissenschafterin, Theologin und Journalistin.